Bruno Manser: Chief Seattle, 21. Jahrhundert

Nr. 19 –

Tausend Fotografien aus dem Nachlass des verschollenen Umweltaktivisten sind neu übers Internet erschlossen. Gedanken beim Betrachten einer Aufnahme von Penan-Häuptling Along Sega.

Der Häuptling Seattle der Suquamish-Indianer hat 1855 einen Vertrag mit dem amerikanischen Gouverneur Stevens unterzeichnet, laut dem die Indianer den US-Amerikanern das ganze Gebiet des heutigen Staates Washington überlassen und sich auf die Insel Bainbridge zurückziehen. Seattle, nach dem später die Hauptstadt des Bundesstaates Washington benannt wurde, war 25 Jahre zuvor zum Katholizismus übergetreten, und dem Vertrag muss er aus Einsicht in die Notwendigkeit zugestimmt haben, sich mit den überlegenen weissen Eindringlingen irgendwie zu arrangieren. Wahrscheinlich erhoffte er sich nicht zuletzt auch Schutz durch die Bundesarmee gegen feindliche Stämme.

Während der vorangehenden Verhandlungen soll Chief Seattle dem «grossen Häuptling der Weissen» eine Rede gehalten haben, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem Titel «Wir sind ein Teil der Erde» weltbekannt wurde und in welcher er darüber sprach, dass man die Erde nicht besitzen könne. Er drückte in einer poetischen, archaischen Sprache die Unvereinbarkeit der Gefühle eines Naturvolks mit den Lebensmustern der modernen westlichen Welt aus, mit Sätzen wie: «Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen - wie könnt Ihr sie von uns kaufen?» Oder: «Wären alle Tiere fort, stürbe der Mensch an grosser Einsamkeit des Geistes.» Oder: «Ihr müsst Eure Kinder lehren, dass der Boden unter ihren Füssen die Asche unserer Grossväter ist. Damit sie das Land achten, erzählt ihnen, dass die Erde erfüllt ist von den Seelen unserer Vorfahren.»

Solche Sätze, aus denen der Geist der Natur und dessen, der mit ihr verbunden ist, sprach, haben wir alle, die wir auf der Seite der Natur standen und immer noch stehen, gerne gelesen.

Sie haben bloss einen Schönheitsfehler. Sie sind nicht von Chief Seattle. Von ihm sind nur zwei ganz kurze Protokollnotizen der Verhandlungen von 1855 festgehalten, die nichts mit seiner Rede zu tun haben. Die Rede hat der amerikanische Dokumentarfilmer Ted Perry für einen Film über Umweltverschmutzung geschrieben, den er unter dem Titel «Home» 1970 für die Southern Baptist Convention drehte.

Eine ärgerliche Geschichte, erst recht wenn man bedenkt, dass die deutsche Fassung weit über eine halbe Million Mal verkauft wurde.

Als ich 1996 das Grab von Chief Seattle auf Bainbridge Island besuchte, wurde seine Rede dort als «Chief Seattle's Speech» verkauft und mit Bezug auf eine Quelle vom Oktober 1887 als authentisch ausgegeben, und so steht sie noch heute auf der Website des Suquamish-Museums.

Nicht nur wir NaturromantikerInnen der industrialisierten Welt sind auf die Rede des Häuptlings reingefallen, sondern auch den Nachkommen seines Indianerstammes war diese so willkommen, dass sie sich nicht die Mühe genommen haben, nach ihrem Ursprung zu forschen.

Warum?

Die Antwort ist einfach.

Die Rede ist zwar gefälscht, aber sie ist wahr.

Was sie sagt, geschah nicht nur im 19. Jahrhundert, es geschah auch im 20. Jahrhundert, und es geschieht im 21. Jahrhundert.

Sie kam mir wieder in den Sinn, als ich dieses Bild aus dem Bruno-Manser-Archiv sah.

Wer uns hier anschaut, ist der Penan-Häuptling Along Sega, der von 1986 bis 1990 Gastgeber von Bruno Manser war. Seine Nomadengruppe lebt am Limbang-Fluss im Norden von Sarawak und hat vor kurzem beschlossen, sesshaft zu werden, nicht weil das ihr Wunsch und Wille war, sondern weil es der einzige Weg für das Überleben war. Grund ist die immer schlimmere Zerstörung ihres Waldes durch die verschiedenen Holzfirmen, allen voran der Firma Samling. Damit ist insbesondere die Versorgung der Gruppe mit Sago, ihrer wichtigsten Nahrung, infrage gestellt. Vor zwei Jahren errichtete die Gruppe von Along Sega letztmals eine Blockade auf der Samling-Strasse, die nach drei Tagen bereits wieder aufgelöst wurde. Auf dem Bild hält Along Sega ein Satellitenbild seines Landes in den Händen, und die Adern, welche das Bild gut sichtbar durchziehen, sind die verschiedenen Holzfällerstrassen.

Er spricht nicht, er schaut uns nur an, aber sein Blick enthält eine Aufforderung: Schaut euch das an! Was sagt ihr dazu?

Was sollen wir sagen?

Zuallererst würden wir gerne sagen: Lieber Along Sega, wir sägen eure Bäume bestimmt nicht um! Keine dieser Holzfällerstrassen führt in die Schweiz!

Leider stimmt dies nicht ganz. Die Holzfällerfirma Samling, die den grössten Anteil an der Zerstörung des Sarawak-Urwaldes hat, ging 2007 in Hongkong an die Börse, und wer hat ihr den Platz an der Börse verschafft, sprich verkauft? Mit einem Gewinn von zehn Millionen Dollar? Die Credit Suisse.

Aber die hat im Moment wohl andere Sorgen und muss die vier Milliarden, die sie auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt verspielt hat, wieder irgendwo hereinholen. Gelingt ihr das nicht, geht sie uns als Steuerzahlerin verloren, zusammen mit der UBS, und wir können uns unsere Schulhäuser, Autobahnen, Kanalisationen und den Unterhalt unserer Armee und unserer Wälder nicht mehr leisten.

Along Sega schaut uns an, als ob er die Zusammenhänge ahnte, und er schaut uns nicht alleine an, sondern hinter ihm steht Chief Seattle, und hinter Chief Seattle steht Chief Bruno, und hinter ihnen stehen alle Häuptlinge aller Stämme, die sich je als Kinder der Mutter Erde betrachtet haben und nicht verstehen konnten, was man ihrer Mutter antun wollte.


Vom Schweizer Schriftsteller und Kabarettisten Franz Hohler ist im Luchterhand Literaturverlag zuletzt der Roman «Es klopft» erschienen.

BRUNO MANSER

Mit einer Gruppe von Penan lebte Bruno Manser (1954 - 2000?) von 1984 bis 1990 in Borneo und berichtete darüber in seinen «Tagebüchern aus dem Regenwald». Von seiner letzten Reise nach Sarawak kehrte Manser nicht mehr zurück und wurde 2005 offiziell für verschollen erklärt. Der Bruno-Manser-Fonds hat während der letzten drei Jahre 10 000 Fotografien aus dem Nachlass konserviert und digitalisiert. 1000 davon sind über die Website des Fonds öffentlich zugänglich: www.bmf.ch.