«Handwerk»: Konkretes macht glücklich

Nr. 20 –

Nur Arbeit mit Hand und Kopf ist wirklich gute Arbeit, ist der Soziologe Richard Sennett überzeugt. Sein neues Buch ist ein faszinierendes Plädoyer für die Praxis.

Städte, in denen Kinder keinen Platz haben, sind auch für alle anderen StadtbewohnerInnen nicht geeignet. Das war die Überzeugung des holländischen Architekten Aldo van Eyck. Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als der schlimmste Hunger vorbei war und an allen Ecken viel organisiert, gebaut und geregelt wurde, begann der junge Mann, in Amsterdam Spielplätze zu planen.

Die Umsetzung seiner Überzeugung war ungewöhnlich: Auf einem der Spielplätze stand ein Klettergerüst direkt neben einer verkehrsreichen Strasse. Ein Sturz konnte fatale Folgen haben. Einen anderen Park plante van Eyck bewusst für verschiedene Menschengruppen, die sich in die Quere kommen würden: Kinder, die spielen wollten, Erwerbstätige, die Ruhe suchten, Jugendliche, die auf Trubel hofften, und mittendrin PassantInnen.

Das tönt heute ziemlich verrückt. Niemand würde es noch wagen, ein solches Klettergerüst zu bauen: die Eltern, die Haftung, die Sicherheit! Und in einem Park, in dem so verschiedene Menschen aufeinanderprallen, käme bald einmal die Polizei, um die Lärmigsten wegzuweisen.

Aldo van Eycks Spielplätze sollen Kinder nicht «isolieren und mit einem Kokon umgeben», sondern sie anregen, mit Gefahren leben zu lernen. Sie sind ein Beispiel von vielen aus «Handwerk», dem neuen Buch des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett. Das Beispiel sagt viel aus über den Autor: Er glaubt an das Offene, Mehrdeutige, das den Menschen Raum lässt. Und er glaubt, dass Menschen lernen können. «Die Menschen können besser werden und werden besser»: Dieser Satz bezieht sich zwar vorerst auf handwerkliches Können. Doch er geht weit darüber hinaus, wie Sennett zeigt.

Ziegel und gefülltes Poulet

Der Autor fasst den Begriff des Handwerks weit: Handwerkliches Denken und Können stehe «ganz allgemein für den Wunsch, etwas ganz Konkretes um seiner selbst willen gut zu machen». Damit gehören auch Cellospieler, Laborantinnen oder Linux-Programmierer zu den HandwerkerInnen. Die Fragen, die Sennett am Beispiel handwerklicher Tätigkeiten stellt, sind Grundfragen der Arbeit überhaupt: Was ist wichtiger, Erfahrungswissen oder objektive Standards? Wo sind die Hürden beim Weitergeben von Wissen und Erfahrung? Was bringt Menschen dazu, gute Arbeit zu leisten - und was nicht? Wo und wie sollen Maschinen eingesetzt werden? Wie mit zu hohen Ansprüchen und Erfahrungen des Scheiterns umgehen?

All diese Fragen behandelt Sennett nicht abstrakt, sondern er zeigt sie von innen. Er schreibt von frustrierten Krankenschwestern, genialen Geigenbauern, Glasbläserinnen und Tunnelbauern. Es geht um Fernrohre und Skalpelle, Hackmesser und Baupläne, die mittelalterlichen Goldschmiedezünfte, das Brennen von Ziegeln und das Zubereiten von gefülltem Poulet.

Gefangen im Büro

Der britische Schriftsteller John Berger hat im Nachwort zu seinem Bergbauernroman «SauErde» beschrieben, warum BäuerInnen und Arbeiterbewegung sich so schwer verstehen: Für die FabrikarbeiterInnen, die Arbeit nur als entfremdeten Zwang kennen, ist das Paradies ein Ort des Müssiggangs. Die BäuerInnen dagegen träumen von der gerechten Verteilung der Arbeit und ihrer Erzeugnisse, niemals von ihrer Abschaffung. Arbeit kann sowohl Horror als auch sinngebende Tätigkeit sein, und dieser Gegensatz bestimmt bis heute unausgesprochen die Diskussionen über Arbeit, gerade in der Linken. Was gute Arbeit sein könnte - davon handelt «Handwerk». Sennett ist überzeugt, dass zur guten Arbeit der Körper gehört: «Wenn Hand und Kopf voneinander getrennt werden, leidet der Kopf», ist eine der zentralen Thesen des Buches.

Der Autor zeigt das am Beispiel der CAD-Software (computer-assisted design) für ArchitektInnen: Sie simuliert dreidimensionale Modelle zukünftiger Bauten am Bildschirm. Mit CAD ist es möglich, ganze Gebäudekomplexe zu planen, ohne das Büro zu verlassen. Der Lernprozess, der im Wechsel von Zeichnen, Begehen des Baugeländes und Überarbeiten der Zeichnung stattfindet, geht dabei verloren. Das Resultat sind Anlagen wie das Peachtree Center in Georgia, ein Komplex aus Bürotürmen, Geschäften und Hotels. Zur Belebung des Geländes waren Strassencafés vorgesehen. «Doch der Plan liess die grosse Hitze unberücksichtigt, die in Georgia meist herrscht. Die Architekten hätten besser daran getan, sich um die Mittagszeit eine Stunde lang ungeschützt in die Sonne Georgias zu setzen, bevor sie sich an die Arbeit machten.» Simulation ist kein Ersatz für sinnliche Wahrnehmung.

Sennett zeigt: Die Arbeit mit Kopf und Händen hat Qualitäten, die sich nicht ersetzen lassen. Sie fördert die Konzentration sowie die Fähigkeit, Probleme zu lösen und zu improvisieren, fantasievoll mit Werkzeugen und Material umzugehen. Und sie ist befriedigend: «Handwerkliches Können hält zwei emotionale Belohnungen für den Erwerb von Fähigkeiten bereit: eine Verankerung in der greifbaren Realität und Stolz auf die eigene Arbeit.»

Handwerk ist lernbar

Gerade was die Verankerung in der greifbaren Realität angeht, hat Sennett Dringliches zu sagen. Die psychischen Leiden, die sich in den letzten Jahren zunehmend ausgebreitet haben, erzählen viel von der Abwesenheit dieser Verankerung: Gefühle der Ohnmacht, des Abgeschnittenseins, der Irrealität. Sie sind die logischen Folgen einer Welt, in der sich fast alles nur noch auf Bildschirmen abspielt. Der Eindruck lebensbedrohlicher Abstraktion liesse sich relativ leicht durchbrechen durch den Kontakt mit materiellen, sinnlich erfahrbaren, berührbaren Dingen. Das Wissen um die heilende Kraft konkreter Tätigkeiten ist auch noch vorhanden - nur kommen diese oft erst zum Einsatz, wenn es zu reparieren gilt: Psychisch kranke Jugendliche werden auf Bauernhöfe geschickt, statt dass Arbeit mit den Händen in jeder Schule bis zur Matura ein wichtiger Unterrichtsbestandteil wäre.

Sennett vermeidet das Wort Kreativität, wo immer es geht. Es führe «allzu viel romantisches Gepäck mit sich - das Mysterium der Inspiration, den Anspruch auf Genialität». Handwerk ist dagegen etwas Langsames, Langfristiges und vor allem Lernbares: Alle können gute HandwerkerInnen werden, ist der Soziologe überzeugt. «In der Aufklärung glaubten unsere Vorfahren, die Natur habe die Menschheit insgesamt mit der für gute Arbeit erforderlichen Intelligenz ausgestattet. (...) Die moderne Gesellschaft betont eher die Unterschiede in den Fähigkeiten. Die 'Qualifikationsgesellschaft' versucht ständig, Kluge von Dummen zu unterscheiden. Doch die Aufklärung hatte recht, zumindest im Blick auf das handwerkliche Können.»

Richard Sennett ist ein Pragmatiker. Er weiss, dass auch gute Arbeit nicht alle Probleme löst. Darum beginnt und endet sein Buch mit dem schlimmsten «handwerklichen Produkt», das die Menschen je hergestellt haben: der Atombombe. Ihre Entwickler um den Physiker Robert Oppenheimer waren gemäss Sennetts Definition durchaus «handwerklich» vorgegangen: Sie hatten in Los Alamos gute, qualitätsorientierte Arbeit geleistet, auf die sie mit Recht stolz waren. Doch als sie das Potenzial ihrer Erfindung erkannten, packte sie das Grauen. Auch Arbeit, die als sinnvoll empfunden wird, kann destruktiv sein.

Was antwortet Sennett darauf? «Innehalten und über sein Tun nachdenken» - während der Arbeit, nicht danach. Das scheint auf den ersten Blick etwas unbeholfen. Doch wenn alle so vorgehen würden, in allen Bereichen der Gesellschaft, hätte das einschneidende Konsequenzen. Unvorstellbare sogar. Vielleicht dachte Sennett in diese Richtung, als er schrieb: «Gutes Handwerk verlangt nach Sozialismus.»

Richard Sennett: Handwerk. Übersetzung von ­Michael Bischoff. Berlin ­Verlag. Berlin 2008. 432 Seiten. Fr. 39.90