Durch den Monat mit Chantal Michel (Teil 2): Haben Sie Höhenangst?

Nr. 28 –

WOZ: Was haben Sie in Ihrer Performance an der Vernissage vom vergangen Samstag gemacht?
Chantal Michel: Ich stand in einem barocken Kleid auf einer vier Meter hohen Säule und habe ein Buch von Bertolt Brecht rückwärts gelesen. Nach eineinhalb Stunden taten mir die Füsse weh. Die Übermüdung und Anstrengung der vergangenen Tage, an denen ich beinahe durchgearbeitet habe, taten ein Übriges. Trotzdem war es ein wunderschöner Tag auf dem Schloss. Viele Leute haben die Ausstellung besucht und waren begeistert. Ich bin rundum glücklich.

Sind Sie ein Chamäleon, das sich der Umgebung anpasst und die Rollen übernimmt, die sich anbieten?
Zwischen mir und dem Ort passiert ziemlich viel, so entsteht das Bedürfnis, mit ihm zu verschmelzen. Wenn ich lange alleine da bin, versuche ich, die Atmosphäre einzusaugen und dem Ort anzuverwandeln. Hier im Schloss war es aber anders, weil mir das Interieur gefehlt hat. Deshalb habe ich hier diese imaginären Porträts im Stil von alten Gemälden oder alten Fotografien geschaffen, um auf diese Art dem Schloss wieder etwas Leben einzuhauchen. Die Werke leiten in eine andere Welt über. Eine Welt, die man entdecken muss und die einen zum Staunen bringt.

In Ihren früheren Arbeiten waren Sie oft allein oder als Zwillinge im Bild. Ist die Selbstdarstellung in der Gruppe neu?
In einem solch grossen Schloss haben viele Menschen gelebt, Bewohner und ihre Bediensteten. Bei der Arbeit fühle ich mich manchmal auch wie mehrere, bin auch aktiv wie vier. Ich habe keine Probleme, zwischen Männer- und Frauenrollen zu wechseln, die unterschiedlichsten Charaktere darzustellen. Bei Aufnahmen kann ich mich über den Monitor kontrollieren, kommuniziere mit meinem Gegenüber.

Wie entstehen solche Bilder?
Manchmal helfen mir Freunde bei der Realisation, posieren für mich, damit ich die Wirkung der Inszenierung, der Bilder überprüfen kann. Das geht aber nur mit Freunden, die mir wirklich nahe sind. Die sind rar, aber einige genügen mir. Fotografie, Video, Licht, Ton und Gerüche spielen auf Schloss Kiesen stark zusammen. Werk und Raum sind eine Einheit. Man befindet sich in einer riesigen Installation, einer Welt, in der Unwahrscheinliches wahr wird. Diese Ausstellung verkörpert meine Person. Kunst und Leben kommen zusammen. Ich will die Menschen bezaubern und abends bekochen, ihnen so einen unvergesslichen Augenblick bieten.

Sie stellen sich ins Zentrum ihrer Arbeit und wirken gleichzeitig scheu.
Ich bin zwar im Bild, nehme mich aber auch zurück. Ich bin präsent und zugleich absent. Das ist schwer zu beschreiben, höchstens mit einer Geste. Ich bin gerne bei den Leuten, jedoch entfernt auf einer Kirchturmspitze.

In Ihren Performances gefrieren Sie gelegentlich zu einer Statue, hängen mit dem Gesicht zur Wand oder stehen auf Hausdächern. Wollen Sie unerreichbar sein?
Ich beobachte gerne, höre zu und bin gleichzeitig nicht erreichbar. Wie eine Erscheinung, die mal da ist und dann wieder verschwindet. Auf dem Dach vom Hotel Schweizerhof in Bern habe ich im Mai zur Eröffnung des Bahnhofplatzes eine zweite Performance gemacht. Dieselbe Gestalt war auf dem Turm, wie bei der Eröffnung meiner Ausstellung vor drei Jahren. Da war diese märchenhafte Figur wieder, die kommt und geht. Es ist eine Botschafterin des Guten.

Haben Sie Höhenangst?
Man muss es einfach wollen. Ich kann mir gut Geschichten einreden, deshalb wirken meine Bilder auch glaubwürdig. Wenn ich diese Fee auf dem Turm bin, ist auch die Höhenangst weg. Ich weiss haargenau, was ich meinem Körper zumuten kann.

Waren Cindy Sherman oder Bruce Nauman inspirierend für Ihre Arbeit?
Ein wirkliches Vorbild habe ich nicht, aber man wird von allem auf der Welt beeinflusst. Orte, Räume und Menschen wirken aber inspirierender auf mich als andere Künstler. Aus diesem Mix entstehen neue Bilder. Es ist das Leben, das mich inspiriert. Cindy Sherman hat alte Porträts nachgestellt, bei mir sind es reine Fantasieprodukte. Ich glaube, wir sind uns sehr ähnlich, und wenn ich ihre Texte lese, fühle ich eine gewisse Verwandtschaft.

Ihre Bilder wirken bei aller Poesie gleichzeitig oft unheimlich und etwas bedrohlich. Sind Sie subversiv?
Ich spiele mit dieser Ambivalenz und überlasse die Entscheidung dem Betrachter. Die Fotos lassen vieles offen, irritieren und werfen Fragen auf, ohne Antworten zu geben. Bilder, die schon alles sagen, sind langweilig. Die Leute sollen ihre eigenen Geschichten dazu 
erfinden.

Chantal Michel (40) ist Foto-, Video- und Performancekünstlerin aus Bern.

www.chantalmichel.ch

Siehe auch WOZ Nr. 46/12.