Outing: Von nun an: Herr Recher

Nr. 35 –

Anja Recher, Zürcher Gemeinderätin der Alternativen Liste, Juristin und Velokurierin, wird zum Mann. Sie ist die erste Frau in der Schweiz, die ihre Geschlechtsangleichung öffentlich macht.


Sie tritt burschikos auf, trägt weite Männerkleider, kein Make-up und sehr kurze Haare. Sie sitzt breitbeinig auf dem Stuhl, und sie bewegt sich mit grossen Schritten. Ihr Gesicht sitzt immer perfekt: fröhlich und kühl. Anja Rechers Stil ist von jeher männlich. Jetzt geht die Zürcher AL-Gemeinderätin, Velokurierin, Heilpädagogin und Jus-Studentin einen Schritt weiter: Sie wird zum Mann. Zu Alecs Recher.

«Ich werde nicht zum Mann, ich bin schon ein Mann», sagt die 32-Jährige. Jetzt werde nur noch ihr Körper angeglichen. Seit drei Wochen nimmt sie das männliche Hormon Testosteron ein. Das sei grossartig, sie merkte es beim Velofahren, sie habe bereits jetzt mehr Ausdauer: «Ich dachte, Jungs, wenn ihr wüsstet, was für ein Dopingmittel ihr einfach so mitbekommt!» Bald kommt Recher in eine männliche Pubertät. Sie wird Bartwuchs bekommen und den Stimmbruch. Sie wird mehr schwitzen. Ihr Gesicht wird kantiger werden. Ihr Körper auch, weil sich das Körperfett anders verteilt, und er wird behaarter. Alles nur noch eine Frage von Wochen. Deshalb tritt sie jetzt an die Öffentlichkeit.

Seit einigen Monaten lässt sich Recher psychologisch beraten - das ist vorgeschrieben. Damit die Krankenkasse die Behandlung bezahlen muss, sind Transsexuelle gemäss einem Bundesgerichtsurteil verpflichtet, eine zweijährige Therapie zu machen, erst dann könne eine gesicherte Diagnose gestellt werden. Transsexualität muss ärztlich diagnostiziert werden. Nach wie vor gilt sie offiziell als Krankheit.

Recher empfindet das als Zumutung. «Selbst wenn sich jemand sicher ist, wenn er schon länger als Mann lebt, muss er trotzdem noch zwei Jahre in Behandlung!» Zudem werde während dieser Zeit häufig bereits Testosteron eingenommen: «Dann siehst du aus wie ein Mann, aber in deinem Ausweis steht Frau Soundso. Und wenn du am Flughafen durch die Passkontrolle willst, sagt der Beamte, lustiger Ausweis, aber das sind nicht Sie.»

Die Angst vorm schwangeren Mann

Damit in Rechers Ausweis der Name Alecs und als Geschlecht «männlich» stehen darf, muss sie den Personenstand ändern. Und das darf sie gemäss Gesetz nur, wenn sie sich die inneren Geschlechtsorgane hat entfernen lassen. «Dass einem von Rechts wegen ein irreversibler Eingriff aufgezwungen wird, der medizinisch nicht notwendig ist, einem aber die Einnahme von künstlichen Hormonen aufzwingt, das verletzt die Menschenwürde. Die rechtliche Situation in der Schweiz ist nach wie vor schlecht», sagt Recher. Alecs wird für den Rest seines Lebens Testosteron einnehmen - und selbst wenn er es absetzt und stattdessen künstliches Östrogen einnimmt: Sein Bartwuchs und seine tiefe Stimme werden bleiben. «Dass diese Operation Pflicht ist, rührt von der grossen Angst, dass ein Mann schwanger werden könnte, es gab ja kürzlich diesen Fall in den USA. Davor fürchtet man sich sehr. Dabei ist das eine absolute Ausnahme.»

Neben der Entfernung der inneren Geschlechtsorgane sind zwei weitere Operationen möglich: Entfernung der Brüste und Aufbau einer männlichen Brust sowie Aufbau eines Penis. Letzteres ist ein heikler Eingriff. Welche Operationen Recher vornehmen wird, will sie nicht sagen, «das ist Privatsache».

Anja Recher fühlte bereits als Kind, dass sie anders war als die anderen Mädchen, sie wollte ein Knabe sein, und sie wusste irgendwie, sagt sie heute, dass das möglich wäre und sie dafür zum Arzt gehen müsste, aber auch, dass das nicht geschehen würde. Also schwieg sie. Während der Kindheit und der Jugend ging Recher einen Kompromiss ein: Sie verhielt sich wie die anderen Mädchen, trug «notfalls» auch mal ein Kleid, aber sie nahm sich ihre Freiheit, wo immer dies möglich war. Schnitt sich die Haare kurz, machte Judo, staute Bäche. Sie galt einfach als ein etwas wildes Mädchen. «Es half mir sehr, dass ich psychisch stark bin - und dass ich gute Noten in der Schule hatte. Dann wird man in Ruhe gelassen.»

Spass an der Verwirrung

Recher verdrängte den Wunsch, legte ihn im Kopf «hinter eine Panzertüre». Mehr als zwanzig Jahre lang sei das so gewesen: «Ich wäre nie auf die Idee einer Geschlechtsangleichung gekommen, selbst als ich als Lesbe in der Homosexuellen- und Dragszene verkehrte und dort mit dem Thema konfrontiert wurde.» Eine Zeit lang lebte sie sogar als Frau: «Ich kleidete mich als Frau, schminkte mich manchmal.» Dennoch blieb das Unbehagen mit den weiblichen Seiten ihres Körpers, «der Rest, meine Nase, meine Füsse, mein Hirn, das war alles in Ordnung».

Die meisten Jahre aber lebte sie «uneindeutig, irgendwo dazwischen», zwischen den klaren Geschlechtern. Sie ging beim Kleiderkaufen in die Männerabteilung und im Schwimmbad in die Frauengarderobe. «Man wird irgendwann sehr flexibel im Denken. Und ich hatte durchaus meinen Spass dabei, die Leute zu verwirren.» Anja Recher wird schon heute oft als Mann wahrgenommen, «auf dem Frauen-WC werde ich immer wieder mal angeschnauzt, ich hätte hier nichts verloren». Anfänglich habe sie das gefreut, zunehmend aber sei sie es leid geworden, immer zurechtgewiesen zu werden.

Und dann, vor einem Jahr etwa, begegnete sie einem transsexuellen Bekannten wieder, den sie seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Er hatte inzwischen monatelang Testosteron eingenommen und sah aus wie ein Mann. Diese Begegnung veränderte alles. «Oh, oh, Recher, dachte ich, das ist es.»

Die anfängliche Angst vor der Geschlechtsangleichung verschwand mit zunehmendem Wissen. Anja Recher sprach mit ihren FreundInnen, ihrer Familie, ihrer Fraktion, sie fand grosse Unterstützung. Auch an ihrer Arbeitsstelle in der Geschäftsführung der Demokratischen JuristInnen in Zürich gab es keine Probleme. «Sie sagten, okay, dann bist du jetzt der Alecs, ist gut, Hauptsache, du kündigst nicht.»

Recher ist froh, dass sie in Zukunft eindeutig als Mann wahrgenommen wird. «Als Transmann, also als Frau, die zum Mann wird, hat man einen grossen Vorteil etlichen Transfrauen gegenüber: Man wirkt vollumfänglich wie ein Mann, man verschwindet in der Masse. Niemand merkt, dass man mit einem weiblichen Körper geboren wurde. Da haben es viele Transfrauen schwerer: Sie müssen sich ihren Bartschatten epilieren lassen. Und ihre Stimme bleibt tief. Man kann zwar die Stimmbänder operieren lassen, aber das ist heikel, und wenn es schiefgeht, dann spricht man wie Micky Maus.»

Pragmatisch, initiativ, ehrgeizig

Die «weibliche Seite», die sie als Mann beibehalten möchte, ist ihre «empfindsame, emotionale Seite»: «Ich will ja kein Macker werden!» Werden Sie künftigen neuen Bekannten erzählen, dass Sie einmal eine Frau waren? «Ich stelle mir gerade vor wie ich sage, guten Tag, Recher, transsexuell ... Nein, im Ernst: Wenn es sich aufdrängt, dann sicher. Aber es ist etwas sehr Persönliches, ich werde das niemandem auf die Nase binden. Es ist auch nicht wichtig, dass man es weiss. Ich bin noch so viel mehr: Politiker, Velokurier, Student. Ich hoffe, die Geschlechtsangleichung tritt mit der Zeit in den Hintergrund.» Und fügt dann noch hinzu, dass es in den verschiedensten Kulturen schon lange Zeit Transsexuelle gibt. «Ich habe sogar einmal gelesen, dass es im Deutschen Reich eine Frau gab, die dank Hitlers Unterschrift die Bewilligung bekam, als Mann zu leben - als Mann von Führers Gnaden sozusagen.»

Recher sitzt seit 2004 für die Alternative Liste im Zürcher Gemeinderat, ihre Themen sind Gleichstellung, Soziales, Umwelt, Verkehr, Stadtentwicklung, künftig auch stärker die Rechte von Transsexuellen. Im Rat gilt sie als unideologisch, pragmatisch und direkt. Recher ist ein initiativer Mensch: Sie organisierte die unterschiedlichsten Events, etwa ein internationales Kurierrennen oder den Christopher Street Day, sie war Pressesprecherin der Mister- und Miss-Gay-Wahlen, sie liess sich zur Behindertensportleiterin ausbilden. Und sie ist ehrgeizig, als Juristin, als Politikerin und als Sportlerin - so wurde sie 2006 an den Velokurier-Weltmeisterschaften in Sydney Zweite. All das ist Anja/Alecs. Und all das will er bleiben.

Rechers Homepage hiess übrigens frauraecher.ch. «Ich sah vor ein paar Jahren den Kinofilm ‹Herr Lehmann› und ich dachte, wenn ich jetzt bald dreissig werde, dann bin ich wohl nicht mehr Anja, sondern Frau Recher.» Herr Recher überlegte sich kurze Zeit, die Webadresse beizubehalten. «Ich könnte dann schreiben: Weiterhin Ihr kompetentester Ansprechpartner in allen queeren Belangen, das wäre doch hübsch.» Aber die neue Homepage heisst nun doch recheralecs.ch.

Und dann erzählt Recher noch einen Monty-Python-Sketch: Der Vater im Spital: «Ist es ein Junge oder ein Mädchen?» - «Aber, aber, wir wollen es doch nicht gleich in eine Rolle drängen.»


Transsexualität

Die erste operative Geschlechtsangleichung eines Mannes zu einer Frau wurde 1952 durchgeführt, die Angleichung von einer Frau zum Mann erst einige Zeit später. In der Schweiz gebe es nach Schätzungen rund 500 Männer, die sich als Frau empfinden, und etwa 200 Frauen, die sich als Mann fühlen, sagt Udo Rauchfleisch, Psychologieprofessor an der Universität Basel. «Wahrscheinlich liegt die Zahl wesentlich höher.» Knapp ein Drittel von ihnen lässt sich tatsächlich operieren. Andere Studien gehen von der gleichen Häufung bei beiden Geschlechtern aus. Transsexuelle, die ihr neues Geschlecht amtlich eintragen wollen, müssen nach der Operation unfruchtbar sein.

Transmänner, also Frauen, die Männer werden, seien nicht häufiger lesbisch als die restliche Bevölkerung, sagt Rauchfleisch: «Sie fühlen sich als Mann und suchen deshalb keine lesbische Partnerin, sondern eine heterosexuelle. Nach der Angleichung haben dann überdurchschnittlich viele eine Beziehung mit einem Mann».