Sahar Khalifa: Eine Tragödie

Nr. 35 –


«Doch nun berichteten ihm die Studenten, die Mauer habe bereits seinen Ort erreicht, Ain Murdschan. Er wollte es nicht glauben. Diese Mauer war etwas Entsetzliches, etwas wie Aussatz, Krebs oder Unfruchtbarkeit. Aber immer war sie fern gewesen. Sie betraf andere, nicht einen selbst. Deshalb hatte er sie verdrängt wie alle Leute. Als er das Ungetüm endlich zur Kenntnis nahm, erstreckte es sich über den ganzen Horizont.»

Sahar Khalifa ist eine der bekanntesten und unerschrockensten Schriftstellerinnen Palästinas. Ihr jüngstes ins Deutsche übertragene Buch ist ein Roman über die israelische Belagerung der Mukatta, des Amtssitzes von Jassir Arafat in Ramallah, im Frühling 2002. Die Autorin stützte sich dabei auf Aussagen von AugenzeugInnen, Dokumente aus dem Umkreis von Arafat und auf Reportagen der kuweitischen Zeitung «Al-Watan».

Khalifa, 1941 in Nablus geboren, gründete dort ein Frauenzentrum und ist Dozentin an der Bir-Seit-Universität. Sie kennt sich auch in kleinsten Winkeln der komplexen palästinensischen Wirklichkeit aus. Ihr geht es um ein möglichst volksnahes Bild der Tragödie, das nicht nur Eingeweihten zugänglich sein sollte. Dabei klammert sie Missstände in der palästinensischen Führung nicht aus. Sie hat keine Angst vor Mitteln des Trivialromans, weshalb die Dramatik der Ereignisse mitunter hinter allzu einfachen, sentimentalen Szenen zurücktritt. Aber vielleicht ist gerade dies eine Eigenart dieses Konflikts auf engstem Raum, im Schatten des apokalyptischen israelischen Trennwalls, der das Gefängnisdasein der PalästinenserInnen drastisch verschlimmert hat.

Im Mittelpunkt stehen zwei Brüder aus dem Flüchtlingslager Ain Murdschan, in deren Nähe sich eine israelische SiedlerInnenbastion gespenstisch ausdehnt. Der Vater stammt aus dem einstigen Mittelstand und setzt seine Hoffnungen auf die beiden Söhne. Der eine strebt eine Karriere als Musiker an, der andere versucht, die Tragödie mit der Kamera einzufangen, und beide werden sie Opfer eines endlosen Kriegs.

Sahar Khalifa: Heisser Frühling. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Unionsverlag. Zürich 2008. 285 Seiten. Fr 35.90