Arbeiten bei Novartis: Das Labor ist die Fabrik

Nr. 38 –

Fliessbandarbeit ist auch in der viel zitierten «Wissensgesellschaft» nicht verschwunden. Sie hat sich verlagert, wie eine neue Studie zeigt.


Der Schweizer Pharmamulti Novartis beschäftigt weltweit rund 100 000 Menschen - zehn Prozent davon arbeiten in und um Basel. Wie sehen die Arbeitsrealitäten in diesem Grosskonzern aus, was hat sich in den letzten Jahren verändert, wie sehen die beruflichen Perspektiven aus? Der Soziologe Peter Streckeisen hat mit über dreissig Beschäftigten aus den Schweizer Labors und Produktionsstätten Interviews geführt. Gesprochen hat er mit Laborantinnen, Abfüllungsarbeitern, Verpackungsarbeiterinnen, Automationsspezialisten, Labor-, Team- und ProjektleiterInnen, Prozess- und PersonalmanagerInnen und anderen mehr.

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An einer verbreiteten Gegenwartsdiagnose meldet Streckeisen Zweifel an. Ihm zufolge leben wir nicht in einer «Wissensgesellschaft», auch wenn oft behauptet wird, die Arbeitswelt habe sich durch den technischen Wandel so verändert, dass menschliche Arbeit durch Automatisierung weitgehend verdrängt sei. In einer «Wissensgesellschaft» werde statt herkömmlicher Industriearbeit Wissens- oder Informationsarbeit geleistet. Neue Organisationsformen - flachere Hierarchien, Teamarbeit - hätten die Arbeitswelt demokratischer und die Arbeit der Einzelnen selbstbestimmter und interessanter gemacht.

In seiner materialreichen Untersuchung beschreibt der Soziologe eine andere Gegenwart. Die derzeitigen chemisch-pharmazeutischen Arbeitswirklichkeiten sind ausgesprochen vielschichtig und entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. «Ein Trend, den ich sehr interessant finde, ist, dass die früher klar getrennten Welten der ArbeiterInnen und der Angestellten nicht mehr so eindeutig unterscheidbar sind», sagt Streckeisen.

«Zum Beispiel gibt es in den Labors eine Entwicklung zu fortschreitender Automation. Der Zeitdruck ist stark gestiegen - es gibt Deadlines, bis zu denen etwas fertig sein muss. Und die Tätigkeiten werden zusehends spezialisiert: Die Einzelnen machen immer das Gleiche, Abwechslungen zwischen allen möglichen Verrichtungen gibt es immer weniger. Das sind alles Entwicklungen, die zu mehr Routine führen, teilweise dazu, dass die Beschäftigten stärker kontrolliert sind.» Früher hiess es, das Labor biete den Beschäftigten mehr Freiheiten bei höher qualifizierten Tätigkeiten. «Ein Laborant hat das mir gegenüber so formuliert: ‹Inzwischen ist es im Forschungslabor wie in der Fabrik.›»

In der Pharmaproduktion hingegen zeichnen sich kaum technische Umbrüche ab. Sterile Medikamentenampullen zum Beispiel werden seit zehn Jahren an denselben Maschinen auf dieselbe Art und Weise hergestellt. Streckeisen beschreibt: «Eine Person gibt die leeren Ampullen an der Waschmaschine auf. Eine Person nimmt die vollen Ampullen ab, kontrolliert ihr Aussehen und beschickt den Wagen, auf dem die Ampullen in die Sterilisierkammer gebracht werden. Schliesslich ist eine Person für den Start der Programme und die Bearbeitung und Protokollierung der Produktionsaufträge zuständig.» Danach kommen die Ampullen in die Abfüllung des Medikamentenstoffes, zur Etikettierung und zur Verpackung.

Bislang gab es Arbeitsgruppen für die einzelnen Arbeitsschritte. Nun wird das Personal der Ampullenproduktion neu gemischt. Teams sind jetzt für sämtliche Arbeitsschritte zuständig. «Das betriebliche Ziel dieser Neuorganisation ist nicht zuletzt, die einzelnen Arbeiterinnen und Arbeiter flexibler einsetzen zu können», sagt Streckeisen. Gleichzeitig ist schwere und erschöpfende körperliche Arbeit keineswegs verschwunden. Der Soziologe hebt besonders die langen Fussstrecken der ArbeiterInnen hervor, das Putzen von Maschinen und Hallen sowie die physischen Strapazen der Dreischichtarbeit in der chemischen Produktion.

Alles in allem kommt Streckeisen zur Einschätzung, dass die Diagnose von der «Wissensgesellschaft» arg einfach gestrickt ist. Den euphorischen Erfolgsmeldungen, die heutige Gesellschaft würde nicht mehr aus sozialen Gruppen und Klassen bestehen, sondern aus selbstverantwortlichen Individuen, die es nach oben schaffen können, wenn sie sich nur richtig anstrengen, hält er entgegen: «Die Gesellschaft ist eine Klassengesellschaft geblieben.»

Jedem sein «Performance Grid»

Allerdings sprichtder Kapitalismus eine neue Sprache: Geredet wird seitens der «Human Resources», der wissenschaftlichen Personalführung, von «Empowerment» - Motivation der Beschäftigen -, von einer «High-Performance-Kultur» - alle müssen jedes Jahr besser werden. Gefragt ist eine «Speak up Mentality» - Vorgesetzte und Untergebene sollen sich offen ihre Meinung sagen. Zum selbstverständlichen Vokabular gehören auch «Rating» und «Performance Grid» - Ausdrücke eines neuen Messsystems zur Leistungsbeurteilung, anhand deren der Lohn festgesetzt wird. Insbesondere dieses Leistungslohnsystem sorgt für viel Unmut unter den Novartis-Beschäftigten. Die Firmenleitung hat es kürzlich für alle unterhalb der Manageretage eingeführt. Von vielen wird es als leeres Versprechen gesehen. Mit hochtrabenden Worten werde suggeriert, es komme in der neuen Betriebskultur auf Stimme und Urteil des einzelnen Beschäftigten an. Tatsächlich, berichtet Streckeisen, werden die Einstufungen von diesen oft als höchst willkürlich empfunden.

Nicht alle können mit Beurteilungskriterien für den Leistungslohn wie Kunden- und Qualitätsorientierung, Kreativität und Innovation, Führungskompetenz, Geschwindigkeit, Handlungsorientiertheit, Einfachheit und Initiative oder Stärkung der Eigenverantwortlichkeit gleich viel anfangen. Vor allem wenn sich die Beschäftigten bezogen auf diese Kriterien zuerst selbst einschätzen sollen. Dieser sogenannte Performance Grid muss anschliessend dem Vorgesetzten vorgelegt werden. Der nimmt eine Ausseneinschätzung vor. Dann wird in einem Personalgespräch darüber geredet.

Zwar opponiert praktisch niemand offen gegen diese Art der Leistungsermittlung. Viele Beschäftigten jedoch füllen die Selbsteinschätzung nicht aus oder tragen sehr gute Werte ein, um eine bessere Verhandlungsposition für das Gespräch zu erlangen. Streckeisen zeigt in seiner Analyse präzise auf, wie mit diesem Leistungslohnsystem innerbetriebliche Herrschaftsbeziehungen und gesellschaftliche soziale Ungleichheiten hergestellt werden, und zwar auf scheinbar betriebswirtschaftlich neutrale und somit vermeintlich sachliche Art und Weise. Gerade Frauen kommen dabei noch immer deutlich schlechter weg als Männer.

Streckeisen gelangt aufgrund seiner Auseinandersetzung mit den konkreten Arbeitsrealitäten innerhalb von Novartis Schweiz zur folgenden Einschätzung der Unternehmenspolitik: Zwar haben sich Herrschaftsstrukturen verändert, und die Arbeitskräfte werden anders mobilisiert - zum Teil gewinnen diese dadurch grössere Spielräume. Der kapitalistische Betrieb jedoch bleibt «ein Herrschaftsverband».

Peter Streckeisen: Die zwei Gesichter der Qualifikation. Eine Fallstudie zum Wandel von Industrie­arbeit. Universitätsverlag, Konstanz 2008. 364 Sei­ten. 66 Franken