Mexiko: Der Preis der Demokratie

Nr. 39 –

Vierzig Jahre nach dem Massaker vom Tlatelolco-Platz am 2. Oktober 1968 ist die Zahl der Toten noch immer unbekannt. An jedem Jahrestag wird mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit gefordert.


Das Bild fehlte in keinem Jubiläumsrückblick auf die globale 68er-Bewegung: das spektakuläre Foto vom Oktober 1968, als zwei schwarze Athleten auf dem Siegerpodest der Olympischen Sommerspiele ihre Faust zum Black-Power-Gruss reckten. Die Szene spielte in Mexiko-Stadt, wo wenige Tage zuvor Soldaten eine friedliche Protestkundgebung eingekesselt und wahllos auf die TeilnehmerInnen geschossen hatten - doch diese Ereignisse blieben im Rückblick nahezu ausgeblendet.

Dabei steht in der mexikanischen Hauptstadt seit Oktober 2007 das weltweit wohl erste und einzige 68er-Museum - als Dauerausstellung. Das Memorial del 68 ist im Erdgeschoss des ehemaligen Aussenministeriums direkt am Platz von Tlatelolco, dem Schauplatz des Massakers, untergebracht. Die Erinnerung an Revolte und Massenmord war lange Jahre ein Thema privater AktivistInnen, Publizisten und politischer Sonntagsrednerinnen - nun übernahm erstmals eine staatliche Einrichtung, die Nationaluniversität (UNAM), die Verantwortung. 1968 sei mehr als linke Geschichte, sagt Sergio Raúl Arroyo, der Leiter der Erinnerungsstätte, sondern so etwas wie «patrimonio cultural», nationales Kulturerbe. Man wolle weg von den «nekrologischen Konnotationen» einer Gedenkstätte für jenen 2. Oktober, an dem der Studentenbewegung ein jähes Ende gesetzt wurde und auf den sich das Jahr 1968 im mexikanischen Gedächtnis reduziert.

Prozesse ohne Ergebnis

An jenem Nachmittag hatten sich um die zehntausend Studierende und SympathisantInnen auf dem Tlatelolco-Platz nördlich der Altstadt zusammengefunden. Soeben hatten sie beschlossen, die Versammlung aufzulösen, um «Provokationen zu vermeiden». Kreisende Hubschrauber feuerten Leuchtraketen ab, danach kamen die Gewehrsalven. Der Platz war von Panzern umstellt, die Menschen rannten, suchten Zuflucht in Hauseingängen. Noch bis in die Nacht durchkämmten Soldaten die umliegenden Wohnblocks auf der Suche nach den StudentenführerInnen. Rund 2000 wurden festgenommen, viele von ihnen misshandelt, Unzählige wurden auf der Flucht verletzt. Die Zahl der Toten ist bis heute ein Rätsel. Anfangs war von 500 bis 1000 Opfern die Rede, bis vor kurzem noch von 250. Doch auch vierzig Jahre danach sind nur von vierzig Ermordeten die Namen bekannt.

Für den Schiessbefehl von Tlatelolco ist bis heute kein Politiker und kein General hinter Gittern gelandet. Alle Prozesse gegen den späteren Präsidenten Luis Echeverría, als damaliger Innenminister einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker, sind juristisch ins Leere gelaufen.

Dialog, nicht Umsturz

Angesichts dieser absoluten Straflosigkeit droht die Erinnerung an die vorangegangene Bewegung und vor allem an deren kulturelle Dimensionen immer wieder verschüttet zu werden. Diese Dimension wird nun im Memorial rekonstruiert. Gleich zu Beginn stehen die mexikanischen Sechziger als Kreuzungspunkt grenzüberschreitender Kulturbewegungen im Mittelpunkt: Fidel Castro und Janis Joplin, Angela Davis, Andy Warhol, Mao und die mexikanische Schamanin Maria Sabina, weltweite Slogans wie «Prohibido prohibir» (Verbieten verboten) oder «Imaginación al poder» (Die Fantasie an die Macht).

Mexikos Wirtschaft boomte, die Gesellschaft kam in Bewegung, Rockmusik und Jugendkultur schwappten ins Land. Politisch aber blieb die «institutionalisierte Revolution» der gleichnamigen, seit Jahrzehnten die Macht ausübenden Partei wie versteinert. Eine zunehmend autistische Regierung glaubte das Land von kommunistischen VerschwörerInnen und ausländischen Hippies bedroht - und schlug entsprechend um sich. Die Olympischen Spiele standen vor der Tür, jede Unruhe auf den Strassen war ein Störfaktor.

Kleine studentische Gruppen schwollen angesichts der blindwütigen Repression der Regierung in kurzer Zeit zu einer Massenbewegung an, und die Universitäten wurden bestreikt. Dabei ging es nicht um gewaltsamen Umsturz, sondern um die Freilassung von Inhaftierten und um «einen öffentlichen Dialog» mit dem Staatschef. In ihrem - primär politischen - Antiautoritarismus hatte die mexikanische Revolte womöglich mehr Ähnlichkeiten mit jener in Prag als mit jener in Paris.

Heute gibt es mehr Gefangene

Das Herzstück der multimedialen Museografie aus Fotografien und Bildschirmen bilden editierte Fragmente aus 57 Filminterviews mit Zeitzeugen und Protagonistinnen der Revolte (vgl. unten: «Kleine und grössere Freiheiten»). Sie sind heute Filmemacher und Funktionärinnen, arbeiten in Kultur- oder Medienbetrieben oder an den Universitäten. Achtundsechziger zu sein, sei im politischen Establishment Mexikos heute längst «eine Auszeichnung», sagt die Schriftstellerin Elisa Ramírez, die damals der libertären Fraktion angehörte. Viele der damaligen Opfer der Repression sind heute Abgeordnete der mexikanischen Linkspartei PRD oder Mitglieder der linken Regierung von Mexiko-Stadt.

Ehemalige AktivistInnen, die seit fast zwanzig Jahren im Comité 68 organisiert sind, hatten öffentlich kritisiert, dass in der Ausstellung die Frage der rechtlichen Aufarbeitung nicht weiterverfolgt wird. Für den Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II, einer der Interviewten, hat hingegen die juristische Ebene an Bedeutung verloren. «Die Gesellschaft und die Geschichte haben ihr Urteil gefällt.» Wichtig bleibe allerdings, jene «juristische Barbarei» zu rekonstruieren, die Hunderte von Menschen für Jahre ins Gefängnis geschickt hatte. Dies sei heute aktueller denn je: Laut Schätzungen der 2007 gegründeten Nationalen Front gegen die Repression - die Neuauflage eines schon in den achtziger Jahren agierenden Bündnisses - gibt es heute ebenso viele oder sogar mehr politische Gefangene wie 1969. Damals sassen 400 Menschen aus politischen Gründen im Gefängnis.

Diese Aktualität kommt auch im Memorial zur Sprache. Zur Eröffnung hatte die Universitätsleitung den Konzeptkünstler Santiago Sierra eingeladen, eine Installation über die Toten vom 2. Oktober zu machen. Dieser fragte die VeranstalterInnen, ob es denn heute noch Opfer politischer Gewalt in Mexiko gäbe. In einer akribischen Archivrecherche trug man die Daten von insgesamt 1548 Toten zusammen, die seit 1968 bis zum Tag der Eröffnung Opfer von politischer Gewalt geworden waren. 72 Stunden lang verlasen SchauspielerInnen ihre Namen. Es gehe also nicht um Reinwaschung und auch nicht um die «Wahl zwischen Erinnerung und Gerechtigkeit», sagt Álvaro Vázquez Mantecón, Kurator des Memorials. Vielmehr wolle man einem jungen Publikum erklären, «was die mexikanische Demokratie gekostet habe: die Kämpfe, die Kopfschmerzen, das Blut».

Aktualisiertes Gedenken

Für Vázquez Mantecón ist klar, dass 1968 die Geburtsstunde der Demokratisierung war - und eine Erfolgsgeschichte, trotz des Massakers und der Repressionen. Auch für den Memorialleiter Sergio Raúl Arroyo war das Aufbegehren gegen den Autoritarismus ein Sieg der «Pluralität über die Homogenität». Davon zeugten heute Gay-Gruppen genauso wie unabhängige Gewerkschaften, BäuerInnen- wie BürgerInnenbewegungen, eine breit gefächerte Kunstszene jenseits des einstigen «nationalkulturellen» Pathos. Für andere, die ebenfalls in den Interviews zu Wort kommen, war 1968 eher ein letztes Aufbäumen der Utopie, «ein revolutionärer Schwanengesang», wie der ehemalige Aktivist Marcelino Perelló meint.

Während das Museum auf Vielstimmigkeit und Pädagogik setzt, wird draussen auf dem Platz von Tlatelolco das Gedenken jedes Jahr aufs neue aktualisiert. Seit den siebziger Jahren ist der Jahrestag des Massakers Anlass für ein Demonstrationsritual, das politische Forderungen der jeweiligen Gegenwart ausdrückt. Wer die Marchas verfolgt, sieht, dass immer neue Generationen nachrücken: Die Gesichter scheinen nicht älter zu werden, nur die Haare der kleinen Truppe vom Comité 68 werden immer grauer. Alle anderen sind jung, sehr schwarz oder sehr bunt gewandet.

Letztes Jahr trugen sie einen wilden Mix von Ikonen am Leib und auf Transparenten: von Mahatma Gandhi bis Bob Marley, von Lenin über Frida Kahlo bis zur Jungfrau von Guadalupe. Che war allgegenwärtig, nur wenige Bilder gab es hingegen vom zapatistischen Subcomandante Marcos, noch weniger vom linken Oppositionsführer Andrés Manuel López Obrador. Dieses Jahr, zum vierzigsten Jahrestag, werden Zehntausende erwartet. Auf der Agenda stehen der Widerstand gegen Privatisierungspläne im Erdölsektor und im Bildungswesen, die Beschneidung von Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit. Protestiert werden soll zudem gegen polizeiliche Übergriffe und gegen den Angriff der kolumbianischen Armee auf ein Lager der kolumbianischen Farc-Guerilla in Ecuador, bei dem auch mexikanische Studierende ums Leben kamen.


Kleine und grössere Freiheiten

Im Museum Memorial del 68 hat die mexikanische 68er-Revolte 57 Gesichter. Gerade mal 12 davon sind weiblich, und die Hälfte davon sind die Witwen und Töchter berühmter Wortführer. Dabei hat auch in Mexiko das Miteinander der Geschlechter durch die Revolte vermutlich tief greifende Veränderungen erfahren.

Zwar ging die 68er-Bewegung in Mexiko - anders als in Europa und den USA - noch nicht mit der Revolte der Frauen einher. Die Antibabypille, die bereits seit Mitte der sechziger Jahre in Lateinamerika verbreitet war, brachte eine alltagskulturelle Revolution mit sich, doch zwischen der Völker- und der Frauenbefreiung sollten noch ein paar Jahre vergehen.

Viele der späteren Aktivistinnen waren durch die Rebellion der Studierenden politisiert. Marta Lamas, eine der bekanntesten Feministinnen Mexikos, war 1968 gerade zwanzig Jahre alt und erinnert sich noch heute an das «Glücksgefühl, die Strasse zu erobern». Es war die Zeit des «compañerismo»: Männer und Frauen sollten gleich sein, Schulter an Schulter, bei Demonstrationen, Aktionen und Versammlungen.

Auch im Alltag eroberten sich die jungen Mexikanerinnen kleinere Freiheiten: später nach Hause zu kommen, Miniröcke oder Hosen zu tragen. «Unsere Heldin», so erinnert die Dokumentarfilmerin Margarita Suzán, sei Jean Seberg gewesen, die Hauptdarstellerin im Kultfilm «A Bout de Souffle» von Jean-Luc Godard («Ausser Atem», 1960): «Sie rauchte und trug kurzes Haar.»

Ob sich die behauptete Gleichheit in einem Mehr an weiblicher Lust auswirkte, war allerdings nicht zu erfahren. «Von Sex sprach man nicht», sagt Elisa Ramírez. Unübersehbar war dafür, wer die kleinen Arbeiten machte: die Papiere heften, Texte übersetzen, das Geld einsammeln und den Kaffee kochen. Im gewählten Streikrat waren die Frauen hingegen so gut wie nicht vertreten. Diese agierten vor allem auf den Strassen, um in «Brigaden» für die Sache der Streikenden zu werben. Politisch thematisiert wurde dieser Widerspruch erst einige Jahre später.

Marta Lamas bezeichnet einen Vortrag der US-amerikanischen Publizistin Susan Sontag im Jahr 1971 als ihre eigene Stunde null: «Sontag sprach, wovon sonst niemand sprach: dass die Politik etwas mit dem Alltag zu tun hatte und Macht etwas mit Sexualität.» So wurden auch in Mexiko die siebziger Jahre zum Nährboden für die Frauenbefreiung. Schliesslich setzten beide Bewegungen auf den Kampf gegen ein autoritäres System. «Die Forderungen der 68er waren allerdings einfacher zu erfüllen», meint Lamas. «Für das, was wir Feministinnen fordern, gab und gibt es bis heute keine Instanz, die das einfach umsetzen könnte: einen kulturellen Wandel, der viel weiter geht als das, was die Studentenbewegung jemals gefordert hat.»