US-Wahlen: Der Faktor Mensch

Nr. 44 –

Die Präsidentschaftskampagne geht in die letzte Phase. Die Wahl am Dienstag entscheidet sich in wenigen Gliedstaaten - Virginia ist einer davon. Hier wird um jede Stimme gekämpft.


Eine Wahlkampagne kann noch so ausgefeilt sein - worauf es im Endeffekt ankommt, das sind die Menschen. Menschen wie Meghan Schertz, 29 Jahre alt. Sie ist freiwillige Aktivistin für die Kampagne des Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, Barack Obama. Schertz hat ihren Sonntagnachmittag geopfert, um hier, im Quartier Washington Heigths, im Nordwesten der Stadt Roanoke im US-Bundesstaat Virginia, auf Stimmenfang zu gehen.

Es kommt aber auch auf die Menschen an, denen freiwillige WahlkampfhelferInnen wie Meghan Schertz über den Weg laufen. Mithilfe von Zeitschriftenabonnements, Automarken und Konsumgewohnheiten wurden die Namen ausgewählt, die auf Schertz’ Liste stehen. Jeder Person ist ein Strichcode zugeordnet, und es ist Aufgabe der Aktivistin, sie in einer Skala von eins bis fünf - von «sehr für Barack Obama» bis «sehr für John McCain», den Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei, - einzutragen.

Das System klingt genial. In der Praxis ist es jedoch nicht mehr als wissenschaftlich kaschiertes Rätselraten. Im Haus, vor dem zwei Pick-ups mit Harley-Davidson-Stickern stehen, ist man «eher für Obama». Bei einem anderen Haus kommt Schertz nicht einmal dazu, ihren Mund zu öffnen: Der Mann wirft einen flüchtigen Blick auf ihr Obama-Ansteckschildchen, sagt: «Ich will darüber nicht reden», und schlägt die Tür zu. Als Nächstes kommt eine Frau, die sich weigert, die Tür zu öffnen. «Ich bin für Obama», ruft sie aus dem Fenster, «also gehen Sie jetzt weg.» Ein Mann, der ein Wahlkampfschild für den unabhängigen Kandidaten Ralph Nader im Garten stehen hat, droht Schertz damit, sie zu erschiessen, wenn sie nicht sofort von seinem Grundstück verschwinde. «Heisst das, Sie sind für die Unabhängigen?», hakt die unerschütterliche Aktivistin nach.

Meghan Schertz hat es eilig; am nächsten Tag verstreicht im Bundesstaat Virginia die Frist zur WählerInnenregistrierung (vgl. «Kampf um die Wahlregister» weiter unten). Schertz, die vorher nie an einer Wahlkampagne teilgenommen hat, tut sich jedoch schwer damit, auf der schlecht gezeichneten Karte eine Strasse zu finden. Sie schafft es nicht, alle Namen auf ihrer Liste abzuarbeiten, bevor die Sonne untergeht. Menschen machen jede Planung schwierig.

Auf der wahlpolitischen Landkarte vom Südwesten Virginias ist Roanoke als winzige demokratisch-blaue Insel auszumachen, die von einem Meer in Rot - der Farbe der Republikanischen Partei - umgeben ist. Die Kleinstadt, gelegen in einem Tal zwischen den Blue Ridge Mountains und den Appalachen, ist im Westen vier, im Süden und Osten zwei Autostunden vom nächsten County (Bezirk) mit demokratischer Mehrheit entfernt. Virginia ist ein Wechselwählerstaat (vgl. «Showdown in den Swing States» weiter unten). Wenn Barack Obama als erster Demokrat seit vierzig Jahren die Wahl in Virginia gewinnen will, muss er in der 100000-Seelen-Stadt einen grossen Sieg einfahren. John McCain muss seinerseits im Grossraum Roanoke einen grossen Sieg einfahren, wenn er noch eine Chance auf die Präsidentschaft haben will.

Zwei Roanokes

Bis jetzt läuft es gut für Obama. Er hat für Fernsehwerbung doppelt so viel ausgegeben wie McCain und konnte ihn immer wieder ausmanövrieren. Obama war dreimal in der Gegend. In den letzten drei Wochen kamen auch der frühere US-Präsident Bill Clinton, der demokratische Senator des Bundesstaats Indiana Evan Bayh und der Politberater Terry McAuliffe zu Besuch, um für Obama zu werben. Dagegen liess sich McCain im Zuge seiner Kampagne bisher nicht in Roanoke blicken; nur Sarah Palin tauchte zu Wochenbeginn kurz in der Stadt auf.

Obama hat nicht das Ziel, im Grossraum Roanoke zu gewinnen - obwohl er in der Stadt selber gute Chancen hat. Er will McCains Wahlsieg hier so knapp wie möglich halten, damit er bei einem Grosserfolg in den Vorstädten im Norden Virginias und einem valablen Resultat im Ballungsgebiet an der Küste insgesamt die 50-Prozent-Hürde schafft. Im Südwesten des Gliedstaates braucht Obama 40 Prozent, sagt ein Lokalpolitiker, um in Virginia zu gewinnen. Eine kürzlich erhobene Meinungsumfrage gab ihm 39 Prozent. In Hochrechnungen für den Bundesstaat führt er derzeit allerdings mit 6 Prozent.

Tatsächlich gibt es zwei Roanokes. Die Stadtbevölkerung von Roanoke ist demokratisch eingestellt; der Anteil der Schwarzen ist doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Roanoke ist mehrfach geteilt: von Norden nach Süden durch die Route 581, von Osten nach Westen durch die Eisenbahnlinie und querbeet durch Hautfarbe und Wohlstand. Grob gesagt: Der Südosten ist arm und weiss, der Südwesten reich und weiss, der Nordwesten schwarz, und der Nordosten ist ein Mix aus allem. In den letzten Präsidentschaftswahlen stimmten die Leute knapp für den demokratischen Kandidaten John Kerry (52 zu 46 Prozent), in den demokratischen Vorwahlen für Obama (57 zu 42 Prozent).

Wahlkampf von oben

Roanoke County ist dagegen republikanisch, der Anteil der schwarzen Wohnbevölkerung ist nur halb so hoch wie der nationale Durchschnitt. Das Land steigt im Nordwesten hoch zu den Catawba-Bergen, im Süden wird das Gebiet von den Blue Ridge Mountains begrenzt. 2004 wurde George Bush im County sehr deutlich wiedergewählt (65 zu 35 Prozent), später, bei den Vorwahlen der DemokratInnen, gab man Hillary Clinton gegenüber Barack Obama den Vorzug (55 zu 45 Prozent).

Die lokale Wirtschaft durchlebt wenige Höhen und Tiefen. Zeichen der Krise sind dennoch überall sichtbar: Der einzige Wolkenkratzer von Roanoke heisst Wachovia. Die Filiale der Bankenkette hat die viertgrösste Beschäftigtenzahl in der Region. An dem Tag, als ich in Roanoke ankam, stürzte der Aktienkurs von Wachovia in die Tiefe. Mittlerweile konnte sich Wells Fargo in einem Bietergefecht gegen die Citibank durchsetzen und übernahm das angeschlagene Finanzinstitut. Bei Pops Eisdiele und Getränkemarkt zahlen immer mehr Leute ihre Glacen mit der Kreditkarte. Shenandoah Life, die lokale Versicherungsgesellschaft, wurde abgewertet, weil sie mit den Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac verstrickt war. Seit der Finanzkrise gibt es bei der Food Bank, einer gemeinnützigen Hilfsorganisation, die Lebensmittelspenden an Bedürftige verteilt, einen Nachfragezuwachs von neun Prozent. Der Gliedstaat Virginia wird voraussichtlich 1400 Verwaltungsstellen abbauen.

Doch zurück zur Politik: Während die DemokratInnen vom Gesundheitswesen und dem Krieg sprechen, schüren die RepublikanerInnen Ängste vor Steuern und Sozialismus. McCain mag man hier nicht besonders (Palin dagegen schon), und es ist frappierend, auf wie wenig Enthusiasmus die republikanische Kampagne - im Gegensatz zur demokratischen - stösst. Die Obama-BefürworterInnen müssen nun diese Begeisterung in Stimmen ummünzen.

Das Rennen um die WählerInnenregistrierung war ihre letzte Möglichkeit, die Basis zu erweitern. Das haben sie gut gemacht. Im Unterschied zum County wurden in der Stadt Roanoke im letzten Monat dreimal mehr NeuwählerInnen gewonnen. Jetzt folgt die Knochenarbeit: Die NeuwählerInnen müssen gehalten werden. Obamas Wahlkampfteam prognostiziert, dass achtzig Prozent der NeuwählerInnen in Virginia DemokratInnen seien, und dass drei Viertel von Ihnen auch tatsächlich an die Urnen gehen werden.

Das ist leichter gesagt als getan. All das Gerede über eine basisdemokratische Bewegung übertüncht nicht die Tatsache, dass die Kampagne von oben geführt wird und die Botschaft erst noch nach unten durchsickern muss. In einer Stadt mit einem Viertel afroamerikanischer Wohnbevölkerung, so fürchten schwarze LokalpolitikerInnen, betrachte man die Unterstützung der Schwarzen für die Obama-Kampagne als eine Selbstverständlichkeit. «Wenn eine weisse Zwanzigjährige einem fünfzigjährigen Schwarzen sagt, was er tun soll, kommt dies bei den älteren Leuten nicht an», sagt Onzlee Ware, Abgeordneter im Parlament von Virginia. «Vor allem, wenn man ihnen sagt, wie sie ihre Basisgruppen leiten sollen.» Die Schwarzen hier sagen, sie seien begeistert von Obamas Kampagne, doch gab es nur wenig Koordinierung zwischen der Wahlkampfleitung und den parteinahen Gruppen. Obama hat allen Grund, zuversichtlich zu sein - es gibt aber keinerlei Anlass für Selbstzufriedenheit. Ein republikanischer Lokalpolitiker sagt: «McCain kann die Wahlen ohne Virginia nicht gewinnen.» Ein Afroamerikaner betont: «Ohne uns Schwarze kann Obama in Roanoke nicht gewinnen.»



Gary Younge ist britischer Journalist und Schriftsteller. Er ist US-Korrespondent der britischen Tageszeitung «The Guardian» und Kolumnist der US-Wochenzeitung «The Nation».

Kampf um die Wahlregister

Spätestens seit dem Wahldebakel im Jahr 2000 sind AnwältInnen bei US-Präsidentschaftswahlen heiss begehrt. Juristische Stolpersteine gibt es bei den komplizierten Registrierungs-, Abstimmungs- und Zählverfahren genug. In den USA existiert keine einheitliche EinwohnerInnenkontrolle und kein generelles Personenregister, aus dem ersichtlich wäre, wer in welcher Gemeinde wahlberechtigt ist. Im Vorfeld der Wahlen müssen sich die BürgerInnen deshalb bei den lokalen Verwaltungen rechtzeitig in WählerInnenregister eintragen lassen. Das Verfahren variiert dabei von Bundesstaat zu Bundesstaat. Der Vorgang bringt technische und bürokratische Hürden mit sich und ist anfällig für Missbrauch und politische Manipulationen. Vor allem Angehörige von Minderheiten und sozialen Unterschichten haben zuweilen Hemmungen, sich als WählerInnen registrieren zu lassen und an die Urne zu gehen. Von vergangenen Wahlen sind Fälle dokumentiert, in denen versucht wurde, gerade solche Leute - die mehrheitlich demokratisch wählen - durch gezielte Fehlinformationen und Einschüchterungen von der Stimmabgabe abzuhalten.

In den letzten Tagen mehrten sich Meldungen von Bürgerrechtsgruppen, wonach in verschiedenen Bundesstaaten Zehntausende von Wahlberechtigten fälschlicherweise aus diesen Registern gestrichen worden sind. Diese unsaubere Bereinigung der Wahllisten geschah ausgerechnet aufgrund eines Gesetzes, das nach dem Wahldebakel im Jahr 2000 für eine bundesweite Vereinheitlichung sorgen sollte. Auch hier sind vor allem die DemokratInnen betroffen, da diese sich besonders durch das Anwerben von NeuwählerInnen hervorgetan haben. Die Streichungen müssen nun in einem aufwendigen Verfahren einzeln überprüft werden. Auf das Verwaltungsprozedere wird teilweise auch politisch Einfluss genommen: Nachdem im strategisch bedeutsamen Gliedstaat Ohio Fälle von Falscheinträgen ans Tageslicht kamen, forderten die RepublikanerInnen die Offenlegung der Namen aller 200 000 registrierten - überwiegend demokratischen - NeuwählerInnen in Ohio. Es bestünde Verdacht auf Wahlbetrug im grossen Stil. In Michigan hat der Sprecher der RepublikanerInnen angekündigt, EigenheimbesitzerInnen, deren Häuser durch die Hypothekenkrise gepfändet wurden, sollen von den Wahlen ausgeschlossen werden, wie die Internetzeitung «Michigan Messenger» berichtete. Davon wären rund 62 000 Familien betroffen. In beiden Fällen sind Gerichtsverfahren hängig.

Bereits seit letzter Woche können in mehr als dreissig Bundesstaaten BürgerInnen in Frühwahlen vorzeitig ihre Stimme abgeben. Was die Wahlbeteiligung betrifft, wird mit einem Rekordresultat gerechnet.

Thomas Bürgisser

Showdown in den «Swing States»

Die Wahl des US-Präsidenten erfolgt nicht direkt, sondern über sogenannte ElektorInnen, deren Anzahl in den jeweiligen Bundesstaaten von der Bevölkerungszahl abhängt. Die ElektorInnenstimmen werden (mit Ausnahme von Nebraska und Maine) nicht proporzional zum Wahlresultat aufgeteilt: Bei einfacher Mehrheit für einen der Kandidaten fallen diesem alle Stimmen zu.

Als sichere demokratische Hochburgen gelten die Staaten an der Westküste sowie die dicht bevölkerten Gebiete im Nordosten, während die RepublikanerInnen auf den konservativen Süden und die dünn besiedelten Staaten im mittleren Westen zählen können. Am 4. November werden deshalb jene Gliedstaaten die Wahl entscheiden, die von keiner der beiden Parteien eindeutig dominiert werden. Der Wahlkampf der Parteien konzentriert sich daher vornehmlich auf diese Wechselwählerstaaten oder Swing States. Die bevölkerungsreichsten und deshalb voraussichtlich umkämpftesten Swing States sind Florida (27 ElektorInnenstimmen), Pennsylvania (21), Ohio (20), North Carolina (15) und Virginia (13).

Thomas Bürgisser