Durch den Monat mit Irene Caspar Frey (Teil 1): Hauptsache abstinent?

Nr. 46 –

Irene Caspar Frey im Abgaberaum der Klinik DBB: «Die heroingestützte ­Behandlung rettet viele Leben.»

WOZ: Frau Caspar, was macht die Poliklinik für Diagnostik, Behandlung, Beratung DBB?
Irene Caspar Frey: Die Poliklinik DBB behandelt und unterstützt Menschen, die Probleme mit einer psychoaktiven Substanz haben. Egal, ob diese illegal oder legal ist. Wir gehören zur Arud Zürich, zur Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen. Wir bieten heroin- und methadongestützte Behandlungen an, aber helfen auch bei Problemen mit Kokain, Cannabis, Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen. Um die dreissig Patienten bekommen morgens und abends Heroin und konsumieren es in unserem Abgaberaum.

Darf man das Heroin nicht mitnehmen?
Nein. Die Auflagen sind sehr streng. Eine Ausnahme gibt es für Herointabletten: Patienten, die erwerbstätig sind oder Kinder betreuen, können maximal eine Tagesdosis nach Hause nehmen. Das spritzbare Heroin dürfen wir aber nie mitgeben. Beim Methadon sind die Regeln etwas lockerer.

Weil Methadon weniger beliebt ist auf dem Schwarzmarkt?
Nein. Für das Methadon ist der Kanton zuständig, für die heroingestützte Behandlung legt das Bundesamt für Gesundheit die Richtlinien fest. Ich wünschte mir etwas weniger strenge Vorgaben. Die Patienten in der heroingestützten Behandlung sind extrem angebunden. Sie müssen tagtäglich hierher kommen, 365 Tage im Jahr, sogar an Weihnachten. Manche Leute haben mit Methadon keinen Erfolg und hätten eine heroingestützte Behandlung nötig, können aber die hohen Anforderungen dafür nicht erfüllen.

Wird die Revision des Betäubungsmittelgesetzes, über die wir am 30. November abstimmen, daran etwas ändern?
Nein. Mit dieser Revision wird nur im Gesetz verankert, was heute üblich ist: die Viersäulenpolitik mit Prävention, Therapie (dazu gehört die heroingestützte Behandlung), Schadensminderung und Repression.

Was sind die Vorteile der heroingestützten Behandlung?
Die heroingestützte Behandlung rettet viele Leben. Und nur mit Menschen, die leben, kann man eine Therapie machen. Der körperliche und psychische Zustand und die soziale Situation verbessern sich deutlich, die Beschaffungskriminalität fällt weg. Erst in diesem geschützten Rahmen können sie sich überhaupt mit ihrer Situation auseinandersetzen und ihre Zukunft planen.

Wie wichtig ist in der DBB das Ziel, abstinent zu werden?
Es steht nicht im Vordergrund. Eigentlich haben alle Patienten, die zu uns kommen, den Wunsch, abstinent zu werden. Manchmal müssen wir sie fast bremsen. Denn viele überfordern sich massiv, wenn sie zu schnell zu viel erreichen wollen. Wir versuchen einen realistischen Weg zu finden. Manchmal dauert das Jahre.

Manche Fachleute halten die Fixierung auf Abstinenz beim Heroin für gefährlich, weil das Risiko eines Rückfalls sehr gross ist.
Das stimmt. Seit ich im Suchtbereich arbeite, habe ich schon mehrmals erlebt, dass Leute an Rückfällen gestorben sind. Das Problem ist nicht der Entzug. Die schwierige Zeit beginnt nachher. Dann kommt es häufig vor, dass jemand wieder Heroin konsumiert und eine Dosis, die früher gut ertragen wurde, jetzt zu viel ist. Heute sind solche Todesfälle zum Glück etwas seltener, weil die Leute besser informiert sind. Wir machen in der Therapie auch auf solche Gefahren aufmerksam.

Die «Förderung der Abstinenz» wird mit der Revision neu im Gesetz verankert. Finden Sie das gut?
Ja, denn die Abstinenz ist ein Ziel, das immer Platz haben sollte. Nur ist es kontraproduktiv, wenn man versucht, jemanden zur Abstinenz zu drängen. Mit Zwang erreicht man nichts. Aber wenn jemand motiviert ist, steht einem Entzug und einer abstinenzorientierten Therapie natürlich nichts im Weg. Immer mit dem Vorbehalt, dass die Person zurückkommen kann in die heroin- oder methadongestützte Behandlung, wenn der Ausstieg scheitert.

Wird die Revision durchkommen?
Ja. Ich hoffe auf einen möglichst hohen Ja-Anteil. Das hat auch mit Achtung vor drogenabhängigen Menschen zu tun. Während der Zeit der offenen Drogenszenen Abhängigen stark angefeindet. Diese Zeiten haben wir Gott sei Dank fast hinter uns. Allerdings ist das Thema Drogen aus der öffentlichen Diskussion verschwunden, die Drogenpolitik entwickelt sich kaum noch weiter. Und der politische Wind ist härter geworden. Ich weiss nicht, ob es heute noch möglich wäre, die heroingestützte Behandlung aufzubauen. Gut, gibt es sie schon.

Die Ärztin Irene Caspar Frey, 53, leitet die Poliklinik DBB in Horgen. Sie berät und behandelt Menschen, die Probleme mit legalen oder illegalen Substanzen haben.