AHV-Initiative: «Sie sind ineffizient»

Nr. 47 –

Am 30. November können wir entscheiden: Frühpensionierung statt Arbeitslosigkeit und Aussteuerung? Wer mit sechzig Jahren arbeitslos wird, findet kaum eine neue Stelle. Drei Betroffene erzählen.


«Wer im Alter arbeitslos wird, findet keine Stelle mehr», heisst es im Abstimmungsflyer zur AHV-Initiative der Gewerkschaften. Und arbeitslos im Alter werden nicht wenige - nicht etwa, weil sie nichts mehr leisten können, vielmehr, weil ältere MitarbeiterInnen immer teurer werden. Die Pensionskassenbeiträge sind viel höher, ihre Erfahrung muss bezahlt werden. Eine Frühpensionierung führt oft zu Arbeitslosigkeit, zum Gang auf die Regionale Arbeitsvermittlung (RAV) und schliesslich zum Sozialamt - denn auch wer mit sechzig Jahren arbeitslos wird und vierzig Jahre lang Arbeitslosenbeiträge bezahlt hat, hat nur Anspruch auf 400 Stempeltage.

Frau E., Verkäuferin

«Jetzt bin ich halt eine Weile daheim und schreibe Bewerbungen für das RAV», sagt Frau E. Sie hofft, bald eine neue Stelle zu finden, wenigstens zu ein paar Prozent. Früher waren es fünfzig bis sechzig Prozent, in einem Bekleidungsgeschäft, über zwanzig Jahre lang. Im Juni wurde ihr gekündigt. «Mir und vier weiteren langjährigen Mitarbeiterinnen. Bis auf eine waren wir alle um die sechzig Jahre alt», sagt Frau E.

Aus heiterem Himmel kam die Entlassung. «Man hätte doch einfach fragen können, ‹Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?›, oder so ähnlich», sagt sie. Doch so war es nicht, ohne Vorwarnung wurde sie ins Chefbüro zitiert, durfte gerade noch wählen, ob sie sofort gehen oder drei Monate weiterarbeiten wolle. Sie blieb bis September.

Ob sie entlassen worden sei, weil ältere VerkäuferInnen mehr Lohn haben? Jetzt wird Frau E. verärgert. «Teuer? Ich? Wenn Sie hören, wie viel ich verdient habe, da ärgern Sie sich!» Sie zeigt ihren Lohnausweis: 19.10 Franken die Stunde steht da. Plus Ferienzulagen. Dann zeigt sie ihren allerersten Lohnbeleg aus den achtziger Jahren: 11.60 Franken. «Das ist doch unmöglich!» Die ganze Zeit hat Frau E. einen Aushilfsvertrag gehabt, nie wurde ein fester Teilzeitvertrag daraus, jahrelang reichte auch das Arbeitspensum nicht, um auf den Mindestlohn für die Pensionskasse zu kommen.

Ihre Stelle ist jetzt von einer Zwanzigjährigen übernommen worden. Erfahrung werde nicht mehr geschätzt, meint Frau E., auch wenn die Kundinnen sich eher ältere Verkäuferinnen wünschten, und Verkäuferinnen wie sie selbst nur einen einzigen Blick brauchen, um zu wissen, was den Leuten steht. Frau E. hat all die Jahre mit niemandem in der Firma Differenzen gehabt. Dass sich der Chef jetzt nicht für die entlassenen Frauen einsetzte, kann sie nicht verstehen. Im Verkauf gearbeitet hat sie immer schon, seitdem sie die Schule verliess. Zwischendurch hat sie mal bei einem Schwager im Büro gearbeitet, dann wechselte sie wieder in den Verkauf. «Mode verkaufen, das ist schon mein Ding», sagt Frau E., und sie freut sich auch wieder auf eine neue Stelle.

Vor ein paar Tagen ist mit der Post ein Fragebogen gekommen, von der alten Firmenzentrale - «Ihre Meinung interessiert uns», stand da. Ob sie mit den Sozialleistungen zufrieden gewesen sei und ob sie sich vorstellen könne, später wieder einmal im Unternehmen zu arbeiten. Frau E. lacht bitter. Nein, ganz bestimmt nicht.

Herr R., Kaminbauer und Maurerpolier

Er wollte als Erkennungszeichen einen gelben Pulli und graue Überhosen tragen, doch dann hat sich Herr R. extra umgezogen, ein schönes Hemd, ein Wollpullover und saubere Hosen. Es ist Mittag, und die Trockenmauer, an der Herr R. gerade baut, liegt direkt unter dem Bundeshaus. Nur bis Ende der Woche kann er noch im Zwischenverdienst arbeiten, bei derselben Firma wie schon mehrere Male, aber dann ist wieder Schluss. «Weil ihnen ein grosser Auftrag durch die Latten gegangen ist, hat der Chef gesagt, er müsse zuerst die eigenen Leute beschäftigen.»

Herr R. ist bald 63 Jahre alt, bis zu seinem 65. Geburtstag bleiben ihm noch 485 Stempeltage bei der Arbeitslosenversicherung. Weil er immer wieder im Zwischenverdienst arbeiten kann, hofft er, es auch diesmal zu schaffen und bis zuletzt, bis zur AHV, nicht zur Sozialhilfe gehen zu müssen. Für ein paar Wochen findet er meistens etwas, «aber dann werde ich nach der Probezeit wieder entlassen, damit der Chef nicht in meine Pensionskasse einzahlen muss», sagt Herr R. Früher hat er in seinem Heimatkanton, dem Thurgau, gearbeitet. Nachdem er sich im «Blick» auf ein Stelleninserat beworben hatte, konnte er für drei Jahre nach Saudi-Arabien. «426 Stunden monatlich war ich dort auf der Baustelle», sagt er und grinst stolz. Alle paar Wochen gab es Heimurlaub, manchmal flog er dann lieber nach Thailand als in die Schweiz. Er kam dann zurück, weil er in der Schweiz den Anschluss nicht verpassen wollte. In Solothurn, in Zürich, im Thurgau, immer wieder wurden die Unternehmen geschlossen, in denen er eine Stelle gefunden hatte. «Oder ich bin gegangen, und ein paar Monate später ging die Firma bachab», sagt R.

Dann zieht er in den Kanton Bern - wegen des Chüngelizüchtervereins - findet eine Stelle als Kaminbauer und bleibt dort sieben Jahre. «Ich hab aufhören müssen, auf den Dächern war ich plötzlich nicht mehr sicher, es wurde mir schwindlig», sagt er. Da ist er 56 Jahre alt. Er findet wieder eine Stelle als Polier, dann, vor vier Jahren, wird R. arbeitslos. «Ich bin teurer als junge Arbeiter, wegen der Pensionskasse», sagt R. Vom Temporärbüro, das ihm immer wieder Stellen vermittelt für ein paar Wochen am Stück, bekommt er 31.90 Franken. Nicht zu viel, sagt er, früher habe er mehr verdient.

Die Frühpensionierung im Baugewerbe gilt für ihn nicht, die Kaminbauer haben einen separaten Gesamtarbeitsvertrag, ohne Frühpensionierung. Im November stimmt Herr R. sicher Ja, für die Flexibilisierung des Rentenalters, auch wenn es ihn gar nicht mehr betreffe. «Für alle Branchen sollte dasselbe gelten», meint er. Und wer länger arbeiten möchte, sollte das auch können. «Sonst ist es doch verrückt: Bis 65 muss man voll arbeiten, leisten wie ein Junger, und dann, zack, ist man wertlos», sagt R. Wenn er pensioniert wird, möchte R. nach Thailand ziehen, mit seiner thailändischen Frau. Die AHV reiche in der Schweiz doch nirgendwohin, vor allem nicht, wenn man wie R. in den letzten Jahren immer wieder nur siebzig Prozent seines Lohnes von der Arbeitslosenkasse bekommen hat. «Und das mit der Pensionskasse ...», beginnt er. Und bricht wieder ab. Ja sagt er, es soll erst einmal die Frühpensionierung kommen. Dann geht er sich wieder umziehen, für den letzten Tag bei der Trockenmauer.

Frau K., Bankangestellte

2004 beginnt Frau K. bei der UBS im Bereich Wealth Management. Im Bankensektor hat sie bereits vorher gearbeitet, als ihre Kinder alt genug waren. Doch nach der Auslagerung ihres Arbeitsplatzes wird sie entlassen und ist ein Jahr arbeitslos. Es folgen die Anmeldung beim RAV, unzählige Bewerbungsschreiben und sehr wenig Vorstellungsgespräche, Frau K. war schon damals über fünfzig Jahre alt, «und in dem Alter wird man selten eingeladen», sagt sie. Dann findet sie, mit 57, über eine Freundin Arbeit bei der Grossbank, in einem Zweierteam und mit einer spannenden Aufgabe. «Es war ein erfolgreicher Start, nach einem Jahr bekam ich eine sehr gute Beurteilung», sagt Frau K. Nach zwei Jahren wird die Teamkollegin zu ihrer Vorgesetzten befördert, und die Atmosphäre verschlechtert sich, genauso wie die Beurteilungen und die Prämien Ende des Jahres, Frau K. gerät wieder in eine Probezeit und muss in dieser Frist schriftlich festgelegte Ziele erreichen. «Das habe ich, aber die Chefin warnte mich davor, noch eine Beurteilung infrage zu stellen. Das sei ein Kündigungsgrund», sagt Frau K. Falsch, teilt ihr die Personalabteilung mit. Aber dann setzt das Mobbing richtig ein - Frau K. werden Ineffizienz und Fehler vorgeworfen, jeder Schritt wird überwacht. Die Vorwürfe bleiben vage, und doch verordnen ihr die Vorgesetzten eine weitere Probezeit. «Und gleichzeitig war es auf der Bank ein offenes Geheimnis, dass Leute entlassen werden sollten», erzählt K. Die meisten hätten sich längst nach anderen Stellen umgesehen, und wer konnte, ging. «Sie haben überall gespart.» Auch Frau K. ist auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle, hat bereits zwei Vorstellungsgespräche in einer neuen Firma hinter sich. Mitte Juli wird sie zu einem Treffen mit ihren Vorgesetzten und dem Personalchef bestellt, ihr Mann beruhigt sie noch am Telefon: «Er sagte, ich würde sicher befördert.» Beim Gespräch liegt ein Ordner auf dem Tisch: «Fehler Frau K.» steht darauf. Dann sagt der Chef: «Frau K., wir müssen uns von Ihnen trennen.» Frau K. weigert sich, ihre Entlassungspapiere zu unterschreiben, worauf sie von den Vorgesetzten zum Arbeitsplatz begleitet wird und einen diktierten Text als automatische E-Mail-Antwort eingeben muss. «Diese Aufsicht war echt brutal, ich fühlte mich wie eine Verbrecherin. Dann musste ich meinen Arbeitsplatz sofort räumen. In den darauffolgenden Tagen habe ihre Chefin eine E-Mail an alle verschickt: «Frau K. is leaving UBS», habe sie tippen wollen, aber da stand «is living UBS». Da habe sie sich diebisch gefreut, sagt sie. Sie ist 57, als sie bei der UBS freigestellt wird. Ein bereits fortgeschrittenes Alter für die Jobsuche - wenn auch kein Alter für eine Bankangestellte. Sollte man meinen. «In dieser Zeit wurde einigen Kolleginnen vorgeschlagen, sie sollten sich frühpensionieren lassen», sagt Frau K., sie seien halt alle zu teuer gewesen. Ältere Kolleginnen hätten in der UBS ständig Angst vor Entlassungen gehabt, sagt Frau K. Oft fehle ihnen auch eine entsprechende Ausbildung. Wie ihr selbst: Sie hat Slawistik, Anglistik und Publizistik studiert und hat keine Bankausbildung.

Nach ihrer Entlassung sucht K. händeringend nach internen Referenzen, plötzlich scheint auch die versprochene Neuanstellung in einer anderen Bank gefährdet. Doch sie bekommt die Stelle, vor einem Monat hat sie angefangen.

In Frau K.s Team in der UBS bleibt die gleichaltrige Chefin - auch deren drei MitarbeiterInnen bleiben, alle jünger als 27.


Die AHV-Vorlage

Am 30. November stimmen wir über die gewerkschaftliche Volksinitiative «Für ein flexibles AHV-Alter» ab. Sie sieht vor, dass auch Personen mit einem geringeren Erwerbseinkommen (bis höchstens zum Anderthalbfachen des maximalen rentenbildenden AHV-Einkommens, Stand 2007: 119 340 Franken) sich früher pensionieren lassen können und ab dem 62. Altersjahr eine ungekürzte AHV-Rente erhalten. Dies würde pro versicherte Person im Durchschnitt 6.50 Franken im Monat kosten. Um so viel sollen die AHV-Beiträge bei der Annahme erhöht werden. Frühpensionierte müssen ihre Erwerbstätigkeit vollständig aufgeben oder dürfen nur noch ein Kleinsteinkommen erzielen. Bei Teilzeitarbeit sollen ungekürzte Teilrenten möglich sein. Zudem soll das AHV-Rentenalter von 65 für Männer und Frauen als Obergrenze in der Verfassung verankert werden.