«Marx im Westen»: Auch die Marx-Blase platzt

Nr. 51 –

Eine neue Studie legt die verschüttete Marx-Diskussion seit 1965 frei - und rückt die aktuelle Debatte gerade.


«‹Das Kapital› geht weg wie warme Weggli», titelte der «Blick» im Oktober. Gemeint war nicht etwa das Kapital auf den Finanzmärkten, sondern das Hauptwerk von Karl Marx. Mit der Finanzmarktkrise war Marx plötzlich kein toter Hund mehr. Das ist zum einen ein Ausdruck dafür, wie ratlos viele neoliberale ApologetInnen angesichts der Krise sind. Kein Wunder also, dass Marx ins Rampenlicht gezerrt wird. War er nicht derjenige, der die masslosen Kapitalisten anprangerte und die finale Krise des Kapitalismus prophezeite? Dass dem ganz und gar nicht so ist, wissen all diejenigen, die Marx auch gelesen haben und nicht nur über ihn reden. Die Krise zeigt also nicht nur die Ratlosigkeit der Mainstreamökonomie, sondern auch, wie ahnungslos die Debatte über Marx geführt wird.

Da kommt eine wissenschaftliche Arbeit zur neueren Rezeption gerade recht. Ingo Elbe hat die sogenannte neue Marx-Lektüre seit 1965 in der Bundesrepublik Deutschland untersucht und rekonstruiert diese anhand zentraler Fragen der Debatte. Wer bereit ist, etwas Mühe zu investieren - schliesslich ist es eine wissenschaftliche Arbeit -, wird viel lernen.

Die «Kapital»-Frage

Die sogenannte neue Marx-Lektüre ist Ausdruck einer recht banalen Unterscheidung, nämlich der zwischen Marx und Marxismus. Bereits Marx wird nachgesagt, dass er sich dagegen verwehrte, als Marxist bezeichnet zu werden. In den sechziger Jahren ging es - nicht nur in Westdeutschland, worauf sich die Studie von Elbe beschränkt - um die kritische Aneignung der marxschen Theorie jenseits des Marxismus der sozialistischen und kommunistischen Parteien, aber auch jenseits der Tradition des sogenannten westlichen Marxismus (Antonio Gramsci, die Frankfurter Schule und so weiter). Dessen VertreterInnen wandten sich angesichts des Stalinismus und der Erfahrungen des Faschismus den marxschen Frühschriften zu und bedienten sich bei anderen Theorien wie der Psychoanalyse.

Die neue Marx-Lektüre beschäftigt sich hingegen vor allem mit Marxens Hauptwerk, dem «Kapital». «Das Kapital» wird traditionell oft als klassische Arbeit der politischen Ökonomie ausgelegt. Aber im Gegensatz zur Klassik von Adam Smith oder David Ricardo lege Marx in seinem dreibändigen Werk den Ausbeutungscharakter des Kapitalismus offen und stelle die Klassenkämpfe ins Zentrum der Analyse, heisst es. Demgegenüber stellt sich die neue Marx-Lektüre neue und zugleich simple Fragen: Was macht Marx im «Kapital»? Und wie? Was ist überhaupt sein Gegenstand?

Elbe zeigt anhand der methodischen Debatten, wie sich der Diskurs von den Traditionslinien unterscheidet und wie er zu einem ganz neuen Objektverständnis kommt. Marx ist nicht einfach ein kritischer oder klassenkämpferischer Ökonom. Das macht auch der Untertitel des «Kapitals» deutlich: Marx geht es um eine Kritik der politischen Ökonomie, um die Kritik der ökonomischen Ordnung und Funktionsweise ebenso wie um eine Kritik der wissenschaftlichen Disziplin als Ganzes.

Mehr als ein Werkzeug

Marx wirft dieser Disziplin vor allem zwei Punkte vor: So verstehe die ökonomische Klassik zwar, dass Ökonomie immer etwas mit Arbeit - und damit mit Ausbeutung - zu tun habe, aber eben nicht, dass Arbeit, Arbeitsteilung und Ausbeutung im Kapitalismus eine bestimmte Form annehmen: Waren, Geld und Kapital sowie Lohn. Diese und die ihnen zugrunde liegende Wirtschaftsweise seien alles andere als eine menschliche Eigenschaft schlechthin - wie etwa Atmen. Vielmehr trügen gerade die Wissenschaften dazu bei, die historisch spezifischen Formen des Wirtschaftens wie Natureigenschaften des Menschen aussehen zu lassen, indem sie in allen Epochen nur die gegenwärtigen Formen wiedererkennen. So erscheint der Faustkeil des Neandertalers nicht einfach als dessen Werkzeug, sondern als dessen Kapital.

Die neue Marx-Lektüre, die Elbe rekonstruiert, zeigt den grundlegenden Mangel der traditionellen Marx-Lektüre, aber auch der ökonomischen Klassik und der heute dominanten Neoklassik: Das Geld ist in deren Vorstellung sowohl der Produktion wie der Zirkulation von Waren äusserlich, und eigentlich denken sie den Kapitalismus als unmittelbaren Produktetausch. Das ist ein Grund, warum sie Krisen nur als externe Effekte erklären können. Für Marx hingegen gehört die Krise zum Kapitalismus dazu und kommt auch nicht erst mit innovativen Finanzprodukten ins Spiel. Das spekulative Moment, was das Krisenpotenzial überhaupt erst ausmacht, beginnt beim geldvermittelten Warentausch - dem Auseinandertreten von Kauf und Verkauf. Der Produzent kann sich nie sicher sein, sondern immer nur darauf spekulieren, ob sich die von ihm hergestellte Ware auf dem Markt wirklich verkauft. Der Kredit schliesslich erlaubt «die Akte des Kaufens und Verkaufens länger auseinanderzuhalten und dient daher der Spekulation als Basis» (Marx).

Für Marx ist demnach der Kapitalismus nicht erst in einer aus den Fugen geratenen Form spekulativ und destruktiv, sondern war es immer schon - ein Punkt, der gegenwärtig bei der Schelte von SpekulantInnen oder InvestmentbankerInnen gerne vergessen wird. Profitmaximierung ist im Kapitalismus erwünscht und gehört zu seinen grundlegenden Spielregeln. «Gierig» werden die AkteurInnen nur im Nachhinein bezeichnet, wenn die Maximierung gescheitert ist. Hatte sie Erfolg, war der Manager clever.

Nicht nur hier zeigt sich, wie wichtig ein Verständnis der marxschen Theorie jenseits eines feuilletonistischen Interesses ist. Es gilt Marx endlich wieder als Wissenschaftler ernst zu nehmen. Das ist der grosse Verdienst von Elbes Arbeit.

Ingo Elbe: Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965. Akademie Verlag, 2008. 644 Seiten. Fr. 83.90