Gazastreifen: Europas Schweigen

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Lange ging es, bis europäische Regierungen ein Ende des Massakers forderten. Kritisiert wurden auch dann nur die PalästinenserInnen. Israel kritisiert man nicht.


Europa wird einmal mehr von seiner antisemitischen Geschichte eingeholt: Während das israelische Militär vor zwei Wochen damit begann, unter der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein regelrechtes Massaker anzurichten, verschlossen Europas Regierungschefs während Tagen die Augen. Erst am Wochenende folgten dann zögerliche Aufrufe, die Waffen niederzulegen. Doch Kritik bekam die israelische Regierung auch dann nicht zu hören. Europas Geschichte scheint eine solche noch immer unmöglich zu machen.

Schuld trage einzig und alleine die palästinensische Hamas. Und zudem habe Israel das Recht, sich gegen den Beschuss durch Kassamraketen aus dem Gazastreifen zu verteidigen, verkündete etwa die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Frau Merkel und ihren europäischen Kollegen ist da offenbar etwas entgangen: Klar hat der israelische Staat das Recht, sich zu verteidigen. Doch nicht, indem er anderthalb Millionen palästinensischer ZivilistInnen auf einem kleinen Flecken Land einpfercht, durch eine monatelange Blockade an den Rand ihrer Existenz treibt und sie dann einem tagelangen Bombenhagel aussetzt, der Hunderte von Todesopfern sowie Tausende von Schwerverletzten fordert. Und sicher nicht, indem er Wohnhäuser, Schulen und Moscheen zerbombt und den humanitären Hilfslieferungen sowie der Presse den Zugang in das Kriegsgebiet verweigert. Eine solche Politik verstösst nicht nur gegen jegliches Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch gegen die Genfer Konventionen. Doch Europa, das sich sonst so gerne als Hüter der Menschenrechte gebärdet und mit dem Finger auf die arabische Welt zeigt, scheint das nicht zu stören. Lieber trägt es gemeinsam mit den USA die israelische Gewaltpolitik stillschweigend mit.

PalästinenserInnen bezahlen

Europa hat aus seiner blutigen Geschichte eigenartige Lehren gezogen: Erstens fühlen sich die europäischen Staaten durch ihre «historische Verantwortung» offenbar nur jenen Minderheiten moralisch verpflichtet, die in der Vergangenheit Opfer ihrer eigenen Verbrechen wurden. Den PalästinenserInnen bleibt damit einzig die Hoffnung, dass die Geschichtsschreibung eines Tages auch ihnen diesen Status verleihen wird. Zweitens ist Europa offenbar bereit, seinen früheren Opfern eine bedingungslose Loyalität zu gewähren - auch für Taten, die neues Unrecht schaffen. Die Zeche für diese absurde und selbstgefällige Moral bezahlen seit Jahrzehnten die PalästinenserInnen: Israel hat das historische Recht auf die Rolle des Opfers - den PalästinenserInnen bleibt jene des Täters.

Furcht vor Antisemitismus

Europa sollte den Mut haben, sich seinen inneren moralischen Widersprüchen zu stellen: «Historische Verantwortung» hat gegenüber allen Minderheiten zu gelten, an denen Unrecht begangen wird, auch gegenüber den PalästinenserInnen - und dies auch, wenn dafür Israels Politik zu kritisieren ist. Eine kritische Beurteilung der israelischen Besatzungspolitik untergräbt, solange sie auf berechtigten moralischen Grundsätzen beruht, weder die «historische Verantwortung», noch trägt sie etwas Antisemitisches in sich. Denn auch wenn es selten ausgesprochen wird: Die berechtigte Furcht vor dem Antisemitismus zensuriert leider auch zu oft die legitime Kritik an Israels Politik.

Wo schlägt also die berechtigte Kritik in Antisemitismus um? An jenem Punkt, an dem versucht wird, die israelische Besatzungspolitik auf eine selbsterklärte jüdische Identität zurückzuführen. Tatsächlich grassieren solch hässliche Ideen in Europa noch immer - und sind gerade in den letzten Tagen, wie etwa beim Brandanschlag auf eine Synagoge in Toulouse, einmal mehr zum Vorschein gekommen. Wer Israels Politik kritisiert, sollte sich über seine wahren Motive im Klaren sein und solch antisemitische Taten und Ideen entschieden verurteilen. Dies umso mehr, als jede legitime Kritik an der israelischen Politik sonst die Gefahr birgt, antisemitischen Bestrebungen Auftrieb zu geben.