Schengen: Bauchgefühle an der Grenze

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Seit dem 12. Dezember finden an den Schweizer Grenzen keine systematischen Personenkontrollen mehr statt. Nur ganz im Osten, an der Grenze zum Fürstentum Liechtenstein, harren ein paar Wächter aus. Hier ist neu Schengenaussengrenze.


Zwei St. Galler Grenzwächter des Kommandos Grenzwachtregion III des Schweizerischen Grenzwachtkorps (GWK) stehen an einem Strassenkreisel im Rheintal. In eine Richtung geht es zur Autobahn, die Sargans mit St. Margrethen verbindet, in eine andere über eine von fünf Rheinbrücken nach Liechtenstein. Überwachungskameras beäugen von Laternenpfählen auf der Brücke aus den vorüberziehenden Verkehr. Die Beamten sehen nicht so aus, als würden sie mit einem spektakulären Arbeitstag rechnen: Beim Kontrollblick über den ruhig dahinfliessenden Rhein, mit der alten Holzbrücke flussaufwärts und dem liechtensteinischen Planetenweg am anderen Ufer, scheinen sie eher ihre Pflicht zu tun, als wirklich nach Booten mit MigrantInnen ohne Papiere, schwimmendem Schmuggelgut oder nach sonst Verdächtigem Ausschau zu halten. Das mag daran liegen, dass die Wiederbefestigung der schweizerisch-liechtensteinischen Grenze - nachdem ein Zollvertrag 84 Jahre lang den freien Grenzübertritt garantierte - eher mit diplomatischen Verzögerungen bei den Schengenbeitrittsverhandlungen des Fürstentums zu erklären ist als mit praktischen Notwendigkeiten. Da Liechtenstein voraussichtlich erst Ende 2009 Schengenmitglied wird, muss diese bisher kaum wahrgenommene Grenze gemäss EU-Richtlinien vorübergehend als Schengenaussengrenze behandelt werden.

Das GWK ist hier für ein zirka 10 Kilometer breites und 41 Kilometer langes Grenzgebiet verantwortlich - der gesamten liechtensteinischen Grenze entlang. Mobile Einheiten des GWK patrouillieren hier seit dem 12. Dezember in Uniform oder in Zivil während 24 Stunden an 7 Wochentagen. «Die Grenzwacht führt im Rahmen der eidgenössischen Ersatzmassnahmen zum Schengenabkommen, die die systematischen Grenzkontrollen an der Landesgrenze ersetzen, Personen-, Waren- und Verkehrskontrollen durch», sagt Clemens Lutz, Mediensprecher des GWK in Chur. Dabei fahnde sie nach international gesuchten - und daher in der Datenbank des Schengener Informationssystems (SIS) verzeichneten - Personen, nach Schmuggelgut wie Drogen, Waffen, Zigaretten oder nach MigrantInnen ohne Schengenvisum. Auf die an Aussengrenzen sonst üblichen Schlagbäume und Grenzzäune wurde zwar verzichtet, und sogenannt unbescholtene BürgerInnen können die Grenze auch weiterhin frei passieren. Die Patrouillen ohne Unterbruch und die Videokameras an der Grenze zeigen aber: Hinter der offenen Fassade lauert die Überwachung. Was in der Schweiz als Öffnung der Grenzen verkauft wird, lässt die Grenze zu Liechtenstein erst wieder zu einer solchen werden.

Überwachung statt Freiheit

So gleicht die kurze Geschichte der liechtensteinischen Aussengrenze jener längeren des Schengenabkommens selbst: Bei der Erstunterzeichnung des Abkommens 1985 im kleinen luxemburgischen Grenzdorf Schengen durch Frankreich, Deutschland, Belgien, Holland und Luxemburg genoss das Abkommen in der breiten öffentlichen Wahrnehmung einen freiheitlichen Ruf, geprägt von der Hoffnung auf Abbau der Landesgrenzen und Ausweitung der Bewegungsfreiheit europäischer BürgerInnen. Heute sieht die Praxis zumindest für NichtschengenbürgerInnen anders aus: Das europäische Fahndungssystem SIS, verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Innern des Schengenraums und mauergleiche Schranken an der Aussengrenze machen Schengen zu einem europäischen Überwachungs- und Ausgrenzungsprojekt und das Schengeneuropa zu einer Festung (vgl. Dossier in WOZ Nr. 16/05). Besonders die sogenannten verdachtsunabhängigen Personenkontrollen im Landesinneren geben viel zu reden. Deutsche GrenzpolizistInnen prägten für diese Kontrollen, die häufig in Zivil durchgeführt werden, den Begriff «Schleierfahndung». Schon seit längerem werden solche Kontrollen auch in der Schweiz im grenznahen Raum durchgeführt, seit Mitte Dezember auch im Landesinneren.

Clemens Lutz hört das Wort «Schleierfahndung» nicht gerne und beschwichtigt: «Polizei- oder Grenzwachtkräfte im Landesinneren kontrollieren jetzt nicht willkürlich einfache Passanten.» Die Intensität der Kontrollen und deren Schauplätze seien unter anderem von der aktuellen Bedrohungslage abhängig: «Das Grenzwachtkorps erstellt regelmässig Lagebilder, anhand deren wir unsere Einsätze definieren.» Während der Weihnachtszeit beispielsweise richte sich die Aufmerksamkeit der Patrouillierenden vermehrt auf sogenannte Dämmerungseinbrüche. Zum Jahresende seien solche Einbrüche in Privathäuser am frühen Morgen und gegen Abend vermehrt ein Thema. Und woran erkennt man etwa bei Verkehrskontrollen solche EinbrecherInnen? Grenzwächter Lutz sagt: «Dafür ist sehr viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl nötig. Schlussendlich kommt kein Zöllner neben gezielten Lagehinweisen und Fahndungsausschreibungen von Fahrzeugen und Personen um sein Bauchgefühl herum.»

Danièle Bersier von der Pressestelle des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartementes (EJPD) ist von den Aussagen ihres St.  Galler Kollegen wenig begeistert: «Bei den verdachtsunabhängigen Personenkontrollen braucht es mehr als ein gutes Bauchgefühl. Es gibt klare Richtlinien, wer kontrolliert werden soll und wer nicht.» Auf einer Internetseite des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) mit dem Titel «Schengen  - Fragen und Antworten» heisst es dazu: «Häufigkeit und Ausgestaltung dieser Kontrollen hinter der Grenze hängen von der Bedrohungslage ab. (...) Die Kontrollen werden (...) so ausgestaltet, dass sie zur Hauptsache Delinquenten oder Störer betreffen und nicht unbescholtene Bürgerinnen und Bürger.» Wie sehen DelinquentInnen aus, wer ist ein Störer? Frau Bersier bittet um 24 Stunden Bedenkzeit. Dann schickt sie Auszüge aus dem umstrittenen neuen Zürcher Polizeigesetz, Artikel 18.1: «Das polizeiliche Handeln richtet sich in erster Linie gegen die Person, welche die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar stört oder gefährdet oder die für das entsprechende Verhalten einer dritten Person verantwortlich ist.» Will heissen: Der Störer ist einer, der stört - das zu Definierende definiert sich selbst.

Ethnische Raster?

Auch der Chef Fahndung der Zürcher Kantonspolizei, Franz Bättig, sorgt nicht für Klärung: «Es werden nur Personen kontrolliert, die in einen bestimmten Raster passen. Aus diesem Grund haben unbescholtene Bürger nichts zu befürchten.» Es sei denn, die unbescholtenen BürgerInnen sehen so aus, wie manche sich vorstellen, dass aussieht, wer aus gewissen Weltgegenden stammt. Bättig hält fest: «Haben wir im Kanton Zürich beispielsweise ein Problem mit Einbrechern aus dem Balkan, werden die Kontrollen von Personen aus dem Balkan intensiviert.» Bättig denkt offenbar in ethnischen Rastern.

EJPD-Sprecherin Bersier kann ihn nicht vollständig widerlegen: «Also wenn zwei asiatisch aussehende Personen, ein Farbiger und ein orientalisch Aussehender in einem Auto sitzen, dann müssen Sie doch zugeben, dass sich die Chance, dass es sich dabei um Ausländer handelt, erhöht, oder?» Ja, vielleicht, aber nicht unbedingt die Chance, dass diese Personen GesetzesbrecherInnen sind. Bersier verteidigt sich: «Reden Sie doch mit den Beamten da draussen. Menschenhandel, Drogen, Rechtsradikale, das ist deren täglich Brot, die müssen ihre Arbeit tun.» Grenzwächter Lutz hat hierfür ein dankbares Beispiel: «Im Jahr 2007 haben wir im St. Galler Rheintal in einem LKW 150 Kilogramm Heroin beschlagnahmt.» Gut, aber wie entscheiden die BeamtInnen denn nun in der konkreten Situation auf der Strasse, wen sie kontrollieren und wen nicht? «Ethnische Merkmale spielen selbstverständlich keine Rolle. Aber wenn Personen aus vielen verschiedenen Ländern in einem Wagen sitzen, müssen wir die Insassen in erster Linie danach kontrollieren, ob sie sich rechtmässig in der Schweiz und im Schengenraum aufhalten.»

Die lustige Grenze

Lutz und sein Kollege Felix Dobson sitzen in Zivil in einem nicht gekennzeichneten PS-starken Geländewagen («Ist aber mit Rapsöl betrieben!») des St. Galler GWK. Früher, als sie noch den Opel Kadett hatten, sagt Dobson, seien ihnen verdächtige Personen in schnellen Karossen regelmässig davongefahren. «Wir mussten dann die Kollegen von der Kantonspolizei zu Hilfe rufen, da haben wir regelmässig faule Sprüche eingesackt.» Die Schleierfahnder sind am Dreiländereck Schweiz-Liechtenstein-Österreich angelangt. Auf dem Fahrradweg, der der Grenze entlangführt, verhindert ein Viehrost den Grenzübertritt fremder Nutztiere. Zwei Damen führen ihre Hunde aus. Ein Velorennfahrer flitzt vorbei. Ist der jetzt gemäss Bauchgefühl unverdächtig? Lutz’ Kollege flachst: «Na ja, vielleicht ist der ja bis oben voll mit Anabolika.»

Die St. Galler Grenzwächter haben noch Sinn für Humor, ihre Arbeit an der Aussengrenze ist ja bis auf weiteres unproblematisch: Erstens haben die rund 2300 EinwohnerInnen Liechtensteins, die weder Schweizer BürgerInnen noch UntertanInnen des Fürsten sind oder aus anderen Schengenstaaten kommen, sondern sogenannte visumspflichtige DrittstaatlerInnen sind, zurzeit unkompliziert ihre Schengenvisa abholen können. Und zweitens schaffen es die meisten SchmugglerInnen oder MigrantInnen ohne Papiere ja gar nicht bis ins Fürstentum: Die entsprechenden Tragödien spielen sich anderswo ab. So blieb in den Kontrollen der Grenzwächter im Rheintal, seit sie hier am 12. Dezember 2008 um 0.00 Uhr mit der ununterbrochenen Patrouille begonnen haben, noch niemand hängen - trotz Bauchgefühl.


Schengenalarm

Das Wort «Sirene» steht für «Supplementary Information REquest at the National Entry», und das Schweizer Sirene-Büro wird vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) in Bern betrieben. Es steuert, koordiniert und bearbeitet alle ein- und ausgehenden SIS-Fahndungen und ist bei einem Treffer für die Fallbearbeitung zuständig. Für alle anderen Regelungen im Zusammenhang mit den nationalen Ersatzmassnahmen zu Schengen (unter anderem Schleierfahndungen) sind die Kantone zuständig. Die Aufgabenteilung zwischen Grenzwachtkorps (GWK) und jeweiliger Kantonspolizei regelt jeder Kanton mit dem GWK selbstständig. Das GWK kann also grundsätzlich auch in Binnenkantonen Patrouillenaufgaben übernehmen.

Das Sirene-Büro hat zwischen dem 14. August und dem 22. Dezember im SIS schweizweit bei zirka 700 000 Anfragen (an den Flughäfen werden alle Einreisenden aus Nichtschengenstaaten überprüft) 2558 Treffer verzeichnet. Im Schengenvergleich ist das sehr viel. 1121 davon stehen in Zusammenhang mit schengenweiten Ausschreibungen zu Einreiseverweigerungen. Gemäss Fedpol-Sprecher Guido Balmer beziehen sich dabei über neunzig Prozent auf das Schweizerische Ausländergesetz. Davon betroffen sind Drittstaatsangehörige, denen die Einreise verweigert wird, weil sie bereits einmal aus einem Schengenstaat ausgewiesen wurden. Oft handelt es sich dabei um abgewiesene Asylsuchende. Wird ein Asylgesuch in einem Schengenstaat abgelehnt, kann in keinem anderen ein zweites gestellt werden. Diese Betroffenen werden schengenweit zur Ausweisung ausgeschrieben.

Weiter sind von den 2558 Treffern deren 774 Sachfahndungen, betreffen also gesuchte Güter. Nur bei 35 Treffern handelte es sich um international gesuchte Straftäter oder Straftäterinnen. Zur Frage, wo und aufgrund welcher Kontrollen die 2558 Treffer erzielt wurden, kann das Sirene-Büro gemäss Balmer erst im kommenden Juni Auskunft geben.