«Fast eine Weltgeschichte»: Erfindung der modernen Kunst

Nr. 6 –

In seinem neuen Buch erzählt der lateinamerikanische Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano die Weltgeschichte neu. Eine kleine Vorauswahl.


Man schrieb das Jahr 1906. Die Menschen kamen und gingen wie an jedem Tag durch die Perdido Street in einem armen Stadtviertel von New Orleans. Ein fünfjähriger Junge lehnte in einem Fenster und betrachtete mit weit offenen Augen und Ohren dieses Einerlei, als erwarte er, dass etwas geschähe.

Und es geschah. An einer Ecke brach Musik los und nahm schnell die ganze Strasse ein. Ein Mann blies sein in den Himmel gerecktes Horn, und um ihn her klatschte die Menge in die Hände und sang und tanzte. Und Louis Armstrong, der Junge im Fenster, wiegte sich so stark im Takt, dass er fast herausfiel.

Ein paar Tage später kam der Mann mit dem Horn ins Irrenhaus. Man steckte ihn in die Abteilung, die für Schwarze reserviert war.

Das war das einzige Mal, dass sein Name, Buddy Bolden, in den Zeitungen auftauchte. Er starb ein Vierteljahrhundert später im selben Irrenhaus, und die Zeitungen erfuhren nicht einmal davon. Doch seine Musik, nie aufgeschrieben noch aufgenommen, klang weiter in all jenen, die sie bei Festen und Begräbnisfeiern genossen hatten.

Laut denen, die etwas davon verstehen, war dieses Gespenst der Begründer des Jazz.

Am Rio de la Plata war er zur Welt gekommen, in den Bordellen der Vorstädte. Die Männer tanzten ihn zusammen, um sich die Wartezeit zu vertreiben, während ihre Frauen sich im Bett um Kunden kümmerten. Seine Klänge, langsam, stotternd, verloren sich in den Gassen, wo das Messer und die Trauer herrschten.

Der Tango trug seinen Herkunftsnachweis auf der Stirn, die Halbwelt, das Gangstermilieu, und deshalb durfte er nicht nach draussen.

Doch der Nichtvorzeigbare bahnte sich seinen Weg. Im Jahre 1917 brach der Tango an der Hand von Carlos Gardel in das Stadtzentrum von Buenos Aires ein, stieg auf die Bühne des Esmeralda-Theaters und stellte sich mit seinem eigenen Namen vor. Gardel sang «Mi noche triste» - Meine traurige Nacht - und wurde gefeiert. Und damit war das Exil des Tangos beendet. In Tränen aufgelöst, hiess ihn die brave Mittelschicht lautstark willkommen und erteilte ihm ein gutes Führungszeugnis.

Dies war der erste Tango, den Gardel für eine Schallplatte aufnahm. Man hört ihn immer noch, und er hört sich jedes Mal besser an. Gardel nennt man den «Magier». Und das ist kein bisschen übertrieben.

Wie der Tango war auch der Samba nicht salonfähig: «billige Musik, Negerzeug».

1917, im selben Jahr, als Gardel die Tür weit öffnete, damit der Tango eintreten konnte, kam es zur ersten Explosion des Samba beim Karneval von Rio de Janeiro. In jener Nacht, die Jahre währte, sangen die Stummen und tanzten die Laternen an den Strassenecken.

Wenig später reiste der Samba nach Paris. Und Paris drehte durch. Unwiderstehlich war diese Musik, in der sich alle Musikstile einer Nation wiederfanden, die so unglaublich musikalisch war.

Doch der brasilianischen Regierung, die damals noch keine Schwarzen in der Fussballmannschaft duldete, gefiel dieser europäische Segen ganz und gar nicht. Die berühmtesten Musiker waren schwarz, und es drohte die Gefahr, dass Europa glaubte, Brasilien läge in Afrika.

Der musikalischste dieser Musiker, Pixinguinha, Meister auf der Flöte und dem Saxofon, hatte einen unverwechselbaren Stil entwickelt. Die Franzosen hatten so etwas noch nie gehört. Er spielte nicht nur auf, sondern mehr noch mit seinem Instrument. Und spielend lud er ein zu spielen.

Sie reiten maskiert, weisse Kutten mit Kapuzen, weisse Kreuze, hocherhobene Fackeln: Die Schwarzen, hungrig auf weisse Jungfrauen, zittern vor diesen rächenden Reitern, die die Tugend der Damen und die Ehre der Herren verteidigen.

Auf der Höhe der Lynchjustiz lässt der Film «Die Geburt einer Nation» von D. W. Griffith eine Lobeshymne auf den Ku-Klux-Klan erschallen.

Dies ist die erste Superproduktion Hollywoods und der grösste Kassenschlager der Stummfilmära. Es ist auch der erste Film, der seine Premiere im Weissen Haus erlebt. Der Präsident, Woodrow Wilson, klatscht ihm stehend Beifall. Klatscht ihm Beifall, klatscht sich Beifall: Dieser glühende Parteigänger der Freiheit ist Autor der wichtigsten Texte, die die epischen Bilder begleiten.

Die Worte des Präsidenten erläutern, die Befreiung der Sklaven sei «tatsächlich eine Niederlage der Zivilisation des Südens, der weisse Süden unter dem Stiefelabsatz des schwarzen Südens».

Seither herrscht dort das Chaos, denn die Schwarzen «sind Menschen, die die Ausübung der Autorität nicht kennen, ausser in ihren Unverschämtheiten».

Doch der Präsident entzündet das Licht der Hoffnung: «Endlich hat ein grosser Ku-Klux-Klan das Licht der Welt erblickt.»

Und am Ende des Films steigt sogar Jesus persönlich vom Himmel herab, um seinen Segen zu geben.

Von jeher arbeiten die afrikanischen Holzschnitzer singend. Und sie hören nicht auf zu singen, bis sie ihre Werke vollendet haben, damit die Musik in diese eindringt und in ihnen weiterklingt.

1910 wurde Leo Frobenius fast blind angesichts der alten Skulpturen, die er an der Sklavenküste gefunden hatte.

So hoch entwickelt war ihre Schönheit, dass der deutsche Afrikaforscher glaubte, dies seien griechische Werke, aus Athen hierhergebracht, oder vielleicht Schöpfungen aus dem untergegangenen Atlantis. Und seine Kollegen stimmten zu: Afrika, die Tochter der Verachtung, die Mutter von Sklaven, konnte nicht die Urheberin solcher Wunder sein.

Und doch. Diese Abbilder voller Musik waren ein paar Jahrhunderte zuvor im Nabel der Welt geschaffen worden, in Ife, dem heiligen Ort, wo die Yoruba-Götter die Frauen und die Männer zur Welt gebracht hatten.

Und in Afrika war weiter ein unerschöpflicher Quell von Kunst entstanden, die es wert war, gefeiert zu werden. Und es wert war, gestohlen zu werden.

Es scheint, als habe Paul Gauguin, ein recht zerstreuter Mann, seinen Namen unter ein paar Skulpturen aus dem Kongo gesetzt. Der Irrtum war ansteckend. Von da an irrten sich auch Picasso, Modigliani, Klee, Giacometti, Ernst, Moore und viele andere europäische Künstler, und zwar häufig.

Durch Kolonialrecht geplündert, erfuhr Afrika nicht einmal, wie viel ihm die beeindruckendsten Werke der europäischen Malerei und Bildhauerei des 20. Jahrhunderts schuldeten.


Eduardo Galeano: Fast eine Weltgeschichte. Spiegelungen. Aus dem Spanischen von Lutz Kliche. Peter Hammer Verlag. Wuppertal 2009. 440 Seiten. 39 Franken

Mit freundlicher Genehmigung des Peter-Hammer-Verlags.

Eduardo Galeano

Mit zwanzig Jahren wurde Eduardo Galeano, geboren 1940 in Montevideo, Uruguay, stellvertretender Chefredaktor der Zeitschrift «Marcha» in Montevideo. Später betreute er andere südamerikanische Zeitschriften und lebte ab 1976 in spanischem Exil. 1985, nach Beendigung der Militärdiktatur in Uruguay, kehrte er nach Montevideo zurück. Er ist unter anderem Autor von «Die offenen Adern Lateinamerikas», dem Grundlagenwerk über die Geschichte des Kolonialismus in Lateinamerika.