Vier Jahre «Kioto»: 2040 - die Wüste lebt

Nr. 8 –

Am 16. Februar 2005 trat das Kioto-Abkommen in Kraft, das als Meilenstein des Klimaschutzes gefeiert wurde. Unser Gastautor aus der Zukunft blickt mit wenig Begeisterung darauf zurück.


Im Nachhinein kann niemand genau sagen, ob das Kioto-Protokoll schuld war. Sicher in Kioto akzeptierte die Menschheit, dass die Klimakrise die grösste Bedrohung der modernen Zivilisation darstellte. Man vergisst heute leicht, dass damals noch immer einflussreiche Stimmen in der Öffentlichkeit die vom Menschen verursachte Klimaerwärmung als Spekulation abtaten.

Doch das Protokoll hat Entwicklungen in Gang gesetzt, die die Erde drastischer als je zuvor verändern. Denn mit «Kioto» setzte sich die Ansicht durch, Klimaschutz sei zuerst und vor allem ein technisches und ökonomisches Problem. Zur Senkung der Treibhausgasemissionen durch marktwirtschaftliche Anreize wurden die «flexiblen Mechanismen» in das Kioto-Protokoll aufgenommen, die im Wesentlichen auf die Initiative von Al Gore, Vizepräsident der USA von 1993 bis 2000 und Friedensnobelpreisträger 2007, zurückgehen. Die «flexiblen Mechanismen» schufen den weltweiten Handel mit Emissionsgutschriften und hypothetischen Emissionsreduktionen.

Eine der ersten technischen Massnahmen, die von den flexiblen Mechanismen des Kioto-Protokolls begünstigt werden, ist die Förderung von Treibstoffen aus Pflanzen als Erdölersatz. Obwohl zahlreiche wissenschaftliche Studien bereits damals das Gegenteil zeigen, gelten Agrartreibstoffe als CO2-neutral. Schon im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kommt es zu Hungeraufständen in der sogenannten Dritten Welt, als die zunehmende Produktion von Biotreibstoffen und die damit verbundene Spekulation die Lebensmittelpreise explodieren.

Lulas Grosser Amazonas-Plan

2009 unterschreibt Brasiliens Präsident Luiz Inácio «Lula» da Silva den Grossen Amazonas-Plan. Dieser weist eine halbe der zwei Millionen Quadratkilometer Amazonas-Regenwald als Fläche zum Anbau von Treibstoffpflanzen. Bereits zu diesem Zeitpunkt schrumpft der brasilianische Amazonas-Regenwald jedes Jahr um 11 000 Quadratkilometer - die Fläche Jamaikas.

Den Aufschrei der Umweltorganisationen weist Lula als imperialistisch und technikfeindlich zurück. «Wir haben genügend Know-how, um diese Umwandlung nachhaltig zu gestalten», erklärt er stolz. Europa und die USA hätten ihre Waldflächen in der Vergangenheit gerodet und kein Recht, Brasilien diesen Entwicklungspfad zu verbieten.

Gleichzeitig verkündet Lula eine strategische Partnerschaft mit China und Indien mit dem Ziel, mithilfe der Gentechnik schnell wachsende Baumarten für die warmen Klimazonen zu entwickeln, die der Atmosphäre CO2 entziehen und im Sinne des Kioto-Protokolls den Industrieländern als Klimaschutzmassnahmen verkauft werden können.

Ende 2009 wird nach hartem Ringen das Nachfolgeabkommen des Kioto-Protokolls verabschiedet. Treibende Kräfte sind China, Brasilien und Indien, die zudem die USA, Kanada und Russland ins Boot holen können, auf deren Territorien sich die riesigen borealen Urwälder mit einer Fläche von 14 Millionen Quadratkilometern befinden - während die EU durch interne Streitigkeiten lahmgelegt ist und Australien darüber streitet, ob die verheerenden Buschbrände, denen Anfang 2009 Hunderte Menschen zum Opfer fielen, etwas mit dem Klimawandel zu tun hätten.

Das neue Abkommen sieht erstmals einen weltweiten Waldnutzungsplan vor. Nach dem Vorbild der preussischen Forstverwaltung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts Deutschland wieder aufforstete, werden sämtliche Urwälder in den Rettungsplan für den Planeten einbezogen. Die Menschheit könne es sich nicht leisten, «weite Teile der Erde ökonomisch und ökologisch brachliegen zu lassen», heisst es in der Präambel. Freilich verpasst es das Abkommen, zu definieren, was ein Wald sei: Zwischen Urwäldern und Baumplantagen wird nicht unterschieden.

Rasch beginnen Kanada und Russland mit dem massiven Anbau von gentechnisch veränderten Kiefern, die von der amerikanischen Firma ArborGen entwickelt worden sind. Sie wachsen doppelt so schnell wie natürliche Kiefern. ArborGen hat sie mit Fördergeldern des Umweltprogramms des amerikanischen Präsidenten Barack Obama (2009-2012) entwickelt.

In kurzer Zeit zu einem milliardenschweren Konzern aufgestiegen, fusioniert ArborGen 2017 mit dem Agrarmulti Monsanto und überholt Google als weltgrössten Konzern. ArborGen Monsanto arbeitet zudem eng mit dem vom Erdölkonzern BP finanzierten Energy Bioscience Institute in Berkeley zusammen, das die biotechnische Gewinnung von Treibstoffen erforscht. Dessen Gründungsdirektor war der Physiknobelpreisträger Steven Chu, den Präsident Obama 2009 zu seinem Energieminister machte.

Noch im Fusionsjahr präsentiert ArborGen Monsanto der Weltöffentlichkeit zwei aufsehenerregende Forschungsergebnisse: Zum einen ist es gelungen, Weizen und Reis mit einem Maisgen für die besonders effiziente C4-Fotosynthese auszustatten. Zum anderen hat der Biotech-Gigant eine Koniferenart entwickelt, bei denen der Anteil am Holzstoff Lignin, der sich besonders gut zur Holzvergasung eignet, 45 statt bisher 30 Prozent beträgt. Das «Time Magazine» kürt den Genbaum zum «Man of the Year» - nach dem Personal Computer (1982) und der gefährdeten Erde (1988) kommt diese Auszeichnung zum dritten Mal nicht einem Menschen zu.

«Kommen wir zu spät?»

Die «Zweite Grüne Revolution», angestossen von der Bill-und-Melina-Gates-Stiftung und Leuten um den früheren Uno-Generalsekretär Kofi Annan, gewinnt ab 2010 an Fahrt. Die borealen Nadelwälder im Norden und die tropischen Regenwälder entlang des Äquators werden in gigantische Getreideplantagen umgewandelt. In den zwanziger Jahren kommt es weltweit zu Rekordernten bei Weizen und Reis. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren bleiben Hungersnöte und Aufstände aus, obwohl die Weltbevölkerung inzwischen auf 7,8 Milliarden Menschen gewachsen ist und bereits die Hälfte aller landwirtschaftlichen Flächen auf der Erde degeneriert ist.

Der Preis ist ein rapider Verlust an Wildnis. Romantisch veranlagte PhilanthropInnen kaufen letzte Flecken Urwald auf. In Finnland wird ein ganzes Flusstal in einem gigantischen Treibhaus für die Nachwelt konserviert. «Präservat» wird zum geflügelten Wort unter UmweltschützerInnen. Der Unterhaltungskonzern SonyDisney kauft Naturgebiete auf und richtet darin Freizeitparks ein.

Die gute Laune verdirbt im Jahr 2027 der Uno-Klimarat IPCC: Der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre hat die kritische Grenze von 450 Teilen pro Million überschritten. Damit könne die Erderwärmung definitiv nicht mehr bei plus zwei Grad gegenüber vorindustrieller Zeit gestoppt werden; eher sei mit vier oder mehr Grad zu rechnen. Eine Erwärmung um zwei Grad lässt das Grönlandeis abschmelzen, was wiederum den Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen lässt. Besonders alarmierend, stellt das IPCC fest, sei der Anstieg des Treibhausgases Methan, verursacht einerseits durch die weiter intensivierte weltweite Viehhaltung, andererseits aus den auftauenden Permafrostböden der Tundra freigesetzt. «Kommen wir doch zu spät?» fragt CNN - eine rhetorische Frage. Religiöse Endzeitbewegungen erleben einen Massenzulauf.

Katastrophenjahr 2029

Die Oberhäupter der G11-Staaten verkünden auf ihrem Gipfel in Schanghai trotz allem, die Strategie der Zweiten Grünen Revolution fortzusetzen. Zur Abfederung der negativen Folgen wolle man die Produktion synthetischen Fleischs subventionieren. Am Rande des Gipfels gibt die chinesische Regierung die Gründung der Trantor Yeast Corporation, eines Joint Ventures mit dem amerikanischen J. Craig Venter Institute, bekannt. Diese soll neue Verfahren, mit denen aus künstlichen Hefebakterien nahezu jedes Lebensmittel produziert werden kann, weiterentwickeln.

Als der extrem heisse und trockene Sommer 2029 und ein bislang unbekannter Schädling grosse Teile der ausgedehnten Holz- und Getreidemonokulturen dahinrafft - die gentechnisch optimierten Pflanzen erweisen sich als wenig resistent -, die Agrartreibstoffpreise explodieren und es auf drei Kontinenten zu schweren Hungersnöten kommt, erweisen sich die neuen Hefelebensmittel als ein Segen. KritikerInnen der Technologie werden als «Handlanger des Hungers» gebrandmarkt.

Die Uno-Vollversammlung beschliesst einstimmig, die weltweite Produktion der Trantor Yeast Corporation mit einer Finanzspritze von fünf Billionen Euro [entspricht ungefähr fünfzig Milliarden Euro in Werten von 2009, die Red.] binnen eines Jahres zu verdoppeln. Ausserdem sollen alle Restbestände der Urwälder im Norden und in den Tropen sofort abgeriegelt werden, um einen Genpool für neue Pflanzenzüchtungen zu erhalten.

Die Rückeroberung beginnt

Diese Massnahmen bringen aber nur wenig Erleichterung, denn das Nutzwaldsterben im Norden greift auf die verbliebenen Urwälder über, deren Ökosysteme nachhaltig geschwächt sind. Der Neue Amazonas-Agrarsektor (NAAS) wird zur sengenden Savanne, was Millionen Bauern in den verbleibenden Amazonas-Regenwald treibt.

2040 sind von den Urwäldern, die zu Beginn des Jahrhunderts noch 16 Millionen Quadratkilometer ausmachten - ein Drittel des Waldes weltweit -, 13 Millionen verschwunden. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche der Erde beträgt nur noch 40 Millionen Quadratkilometer. Der Rest ist versalzen, erodiert oder überbaut. Der Welthandel ist eingebrochen, weil nicht ausreichend Treibstoffe zur Verfügung stehen.

Zum ersten Mal seit Menschengedenken sinkt die Weltbevölkerung. Vor allem in Afrika sind ganze Landstriche entvölkert, und die Bevölkerung etwa der Westafrikanischen Agglomeration ist, trotz des immensen Zustroms von Landflüchtlingen, von ihrem Höchststand von 69 Millionen im Jahre 2029 auf 35 Millionen eingebrochen. Auch in den alten Industriestaaten sind Millionen Hungertote zu beklagen.

Zehn Jahre später sind viele Agrarsprit- und Gentechbaumplantagen, aber auch Milliarden Hektar Weideland aufgegeben worden und verwandeln sich allmählich in Heidelandschaften, Steppen und Savannen. Eine Rückeroberung der Natur setzt ein. Was von der wilden unberührten Natur vergangener Jahrhunderte geblieben ist, sind Erzählungen wie Jack Londons «Ruf der Wildnis» oder Joseph Conrads «Herz der Finsternis».


Kioto-Protokoll



1992 wurde das Uno-Rahmenabkommen zum Klimawandel (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) verabschiedet. Darin verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, einen «gefährlichen Klimawandel» zu bekämpfen.

1997 wurde in Kioto das Abkommen verabschiedet, das die Vorgaben des UNFCCC konkretisiert. Demgemäss müssen die Industriestaaten ihre Emissionen im Zeitraum 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent (Schweiz: 8 Prozent) gegenüber 1990 senken. Sie dürfen ihr Ziel allerdings teilweise durch den Zukauf von Emissionsrechten und «-reduktionen» aus dem Ausland ermogeln. Das Kioto-Protokoll trat am 16. Februar 2005 in Kraft. Die USA, die das Protokoll massgeblich geprägt haben, haben es nie ratifiziert.

Für die Zeit ab 2013 wird derzeit ein Nachfolgeabkommen ausgehandelt, das im Dezember 2009 in Kopenhagen unterschriftsreif vorliegen soll.