Durch den Monat mit Pasqualina Perrig-Chiello (Teil 3): Wofür forschen Sie?

Nr. 9 –

Pasqualina Perrig-Chiello: «Vielleicht ist Herr Merz sehr lernfähig und denkt auch an das Wohl unserer Kinder.»

WOZ: Frau Perrig, wie viel Einfluss hat die Wissenschaft auf die Politik?
Pasqualina Perrig-Chiello: Eine schwierige Frage. Am ehesten einen Einfluss hat wohl die orientierte Forschung, wie das Nationale Forschungsprogramm NFP 52 zu Kindheit und Jugend. Solche Programme haben den Anspruch, gesellschaftlich relevante Probleme aufzugreifen und Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Nicht im Sinne von Rezepten, sondern durch das Bereitstellen von Handlungsgrundlagen.

Wie stellen Sie als Ko-Leiterin eines solchen Grossprojektes sicher, dass die Forschenden den notwendigen Bodenkontakt halten, wenn es schon um gesellschaftliche Relevanz geht?
Viele Forschende sind sehr gut in der Umsetzung von Forschungsergebnissen, schreiben Artikel, halten Vorträge für verschiedene Zielgruppen. Manchmal wird aber auch hervorragendes Wissen produziert, das nur wenig Wirkung zeigt.

Wie sind Sie beim NFP 52 vorgegangen, um einen effizienten Wissenstransfer zu erreichen?
Wir verfassten zwei Berichte, den Generationenbericht und den Kinder- und Jugendbericht. Sie dienen als Schnittstelle zur Öffentlichkeit.

Bei diesen Schnittstellen handelt es sich um dicke Bücher ...
Nun, so dick sind sie auch wieder nicht! Aber die Wahrung des Kontaktes zur Öffentlichkeit verlangt immer einen Sondereffort.

Und eben eine gewisse Bodenhaftung, die es ja schon vorher, beim Einbezug praktischer gesellschaftlicher Fragen in die Forschung, braucht ...
Ja, unbedingt. Solche Bodenhaftung wird Forschenden nicht in die Wiege gelegt.

War Ihr Job für das NFP 52 denn vor allem der einer Brückenbauerin?
Brückenbauerin insofern, als ich die Möglichkeit hatte, die Forschungsresultate von 29 Teams zusammenzubringen und sie für ein breites Publikum verständlich aufzubereiten.

Wer ist mit «breites Publikum» gemeint?
Das sind Behörden in Bund, Kantonen und Gemeinden und die Verantwortlichen für Familien-, Kinder- und Jugendpolitik. Des Weiteren Organisationen, Vereine, Jugendverbände, die Wirtschaft und Berufsverbände, und nicht zuletzt die Medienschaffenden und Berufsleute der Kinder- und Jugendarbeit, Pädagoginnen, Sozialarbeiter und Psychologinnen.

Was erwarteten diese Stellen von Ihnen?
In erster Linie Daten aus unseren Erhebungen, die als Basis für ihre Arbeit dienen können. Fakten also, auf die sie sich verlassen können. Als einzelne Akteure können sie ja nicht einschätzen, ob das, was sie als Problem wahrnehmen, auch gesellschaftlich eines ist.

Forschen Sie denn explizit für diese Akteure und Instanzen – oder für die Gesellschaft als Ganzes?
Bei der Forschung geht es nicht primär darum, für jemanden zu forschen, sondern darum, zu neuem Wissen, zu Grundlagen zu gelangen. Die primäre Zielgruppe wäre daher wohl die Scientific Community – die wissenschaftliche Gemeinschaft.

Steht das nicht im Widerspruch zu Ihrem Ziel, die Ergebnisse der Forschung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
Sie müssen sehen: Wenn Sie als Wissenschaftlerin in dieser Community nicht mitmischen, nicht neues Wissen kreieren und publizieren, werden Sie nicht ernst genommen. Jede Forschung hat das Potenzial eines praktischen Nutzens. Aber um solche Wirkungen zu erzielen, müssen Sie in der Wissenschaftsgemeinschaft zuerst einmal akzeptiert werden.

Mehr Krippenplätze gibt es also nur, wenn Sie zuallererst den Elfenbeinturm mit Ihren Forschungsresultaten überzeugen können?
Wenn Forderungen wie jene nach Krippenplätzen nicht wissenschaftlich solid abgestützt und begründet sind, interessieren sie niemanden.

Sehen Sie schon konkrete politische Effekte aufgrund des NFP 52, das ja 2008 abgeschlossen wurde?
Na ja, vor einer Woche sagte Bundesrat Hans-Rudolf Merz, man müsse jetzt grundsätzlich Familien steuerlich entlasten und stärken. Ich traute meinen Ohren nicht und dachte: Das sind ja genau unsere Forderungen!

Vor ein paar Jahren sagte er dazu noch: «Bei der Familienbesteuerung bin ich unschlüssig: Ich bin je länger je mehr davon überzeugt, dass man mit der Steuerpolitik keine Sozialpolitik betreiben soll. Falls es höhere Kinderzulagen braucht, geht das rasch ins Geld.»
Nun gut, vielleicht ist Herr Merz sehr lernfähig und denkt nicht mehr nur an seine Kassen, sondern auch an das Wohl unserer Kinder.

Vielleicht ist Merz aber auch einfach ein Wendehals.
Das müssen Sie beurteilen. Aber den Kindern wäre eine bessere Familienpolitik jedenfalls zu gönnen!

Pasqualina Perrig-Chiello (55), Professorin für Entwicklungspsychologie in Bern, forschte zwischen 2003 und 2008 als Ko-Leiterin im Nationalen Forschungsprogramm 52.