Christa Wolf: Einmal Unmögliches glauben

Nr. 11 –

Die Schriftstellerin feiert am 18. März in Berlin Pankow und Kleinmachnow ihren 80. Geburtstag. Sie spielt heute nicht mehr die Rolle, die ihr zu DDR-Zeiten auferlegt war. Das kann auch entlastend sein.


Jeder werde verstehen, gab Christa Wolf in einem ihrer Bücher zu Protokoll, dass sie «nur noch wenig und zögernd und leise spreche». Mit den ihr verbliebenen Wörtern gehe sie «behutsam um, fast liebevoll». Und sparsam. Mit «Auf dem Weg nach Tabou» meldete sich die Ikone der DDR-Literatur 1994 zwar bei ihrer Gemeinde zurück. Die als Krisenbewältigung verstandene Textsammlung war aber nicht das von manchen erhoffte, von anderen gefürchtete Einverständnis mit dem Leben im wiedervereinigten Deutschland, sondern Spiegel einer tiefen Verunsicherung.

Die jahrelange Auseinandersetzung um ihre Person war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Obwohl sie die Schreibhemmung mit dem 1996 erschienenen «Medea»-Roman überwunden zu haben schien, hat sich der Ton ihrer Bücher verändert. Ihnen fehlt die frühere Neigung zur sicheren Sentenz, sie sind polyfoner geworden. Kein Zufall auch, dass Christa Wolf in den vergangenen Jahren vor allem Briefwechsel veröffentlichte. Sie erlebe die heutigen Widersprüche, sagte sie kürzlich in einem Interview, aber sie werde sie wahrscheinlich nicht mehr literarisch verarbeiten können.

Der «hohe Ton»

Wenn sie heute, selten genug, auftritt - und wo sie hinkommt, bersten noch immer die Räume -, wirkt ihre vormals bewunderte Ruhe abgeklärt, abwesend, fast entrückt. Das leise Verhaltene, das keineswegs nur dem Alter zuzuschlagen ist, hat sich ausgeprägt. Ihre Glaubwürdigkeit als moralische Instanz ist nach den aufgeregten Debatten der Nachwendezeit und mit der Selbstenthüllung ihrer kurzen Stasi-Liaison zwar nicht grundlegend erschüttert - schon gar nicht im Osten, der Kritik an der Schriftstellerin stellvertretend als Kritik an sich selber erlebt. Doch Christa Wolf spielt im neuen Deutschland nicht mehr die Rolle, die ihr einmal auferlegt war. Literatur als moralische Veranstaltung hat schlicht ihre Bedeutung verloren. Das kann auch entlastend sein.

Nicht dass Christa Wolf es je nötig gehabt hätte, laut zu werden. Ihre Autorität bedurfte nie der Inszenierung. Ihr Nachdruck, der «hohe Ton», entspringt einer unbedingten Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit, die selbst jene einräumen, die zu DDR-Zeiten und später an ihrem Podest sägten. Diese unerschrockene Wahrhaftigkeit bewies sie zuerst, als sie in «Kindheitsmuster» dem gläubigen Mädchen wieder begegnete, das bis zuletzt an den Führer geglaubt hatte und schmerzhaft seinen Irrtum einsehen musste; sie wiederholt sich im Laufe ihres Lebens bis zu jenem Augenblick, als sie Mitte der neunziger Jahre fassungslos mit der verdrängten «Margarete» in einer Stasi-Akte konfrontiert wird und damit ihrer kurzen, völlig unspektakulären und folgenlosen Buhlschaft mit der Macht. In eigener Sache, heisst es in «Kindheitsmuster», könne man nur «romanhaft lügen oder stockend und mit heiser belegter Stimme sprechen».

Leben in Widersprüchen

Vielleicht waren es immer diese stockenden und stolpernden Suchbewegungen, die Christa Wolf frühzeitig zur Bundesgenossin ihrer LeserInnen machten. Denn bei allem überzeugungswilligen Elan, bei aller erzieherischen Absicht, die die junge Kommunistin zum hoffnungsvollen Talent der frühen ostdeutschen Literaturszene der DDR prädestinierten, hat sie sich von Anfang an nicht nur an den Widersprüchen zwischen sozialistischem Ideal und gesellschaftlicher Wirklichkeit der DDR gerieben. Im Gegensatz zu anderen hat sie sich auch nicht erhoben über das kleine Glück.

Das durchschnittliche Erfahrungsniveau, das sie mit ihren LeserInnen zu teilen scheint, macht es leicht, sich mit ihren Figuren zu identifizieren. Dies gilt für die frühen Romane, die die Spannung zwischen Glückserwartung im Grossen und Glückserfüllung im Kleinen noch hoffnungsbereit ausmessen ebenso wie für die späteren Erzählungen wie etwa «Leibhaftig» (2002), in denen der Widerspruch nicht mehr gesellschaftlich figuriert, sondern in den Körper verlegt und ausgetragen wird. Auf das Nurüberleben zurückgeworfen, bleibt nur das Kreatürliche als verlässliche Instanz.

So durchschnittlich die mittleren Charaktere, so wenig heroisch wirkt Christa Wolfs Aufwerfung gegen die Macht. Das machte sie menschlich, aber nach der Wende auch angreifbar. Die mutigen Einsprüche, das kleinmütige Schweigen, beides gehörte bei ihr zusammen. Sie war, wie ihr Biograf Jörg Magenau resümiert, immer eine «loyale Dissidentin». Wenn Weggefährtinnen, Kollegen und Freundinnen wie in einem gerade erschienenen Geburtstagsband die «Tapferkeit» der Jubilarin würdigen, dann ist daran nichts auszusetzen: Denn wer von den Nachgeborenen kann die Schuld wägen, die eine 1929 Geborene in ein unverbrüchliches Stillhalteabkommen manövrierte, um der «dritten Sache», dem Aufbau des Sozialismus, nicht zu schaden? Das Leben nur am Ideal zu messen, konnte auch sündhaft sein. Vernehmlich und über die Grenzen des kleinen Landes hinweg erhob Christa Wolf die Stimme erst 1976 anlässlich der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Da war ihr die Utopie, wie sich in den Erzählungen «Kassandra» oder «Störfall» unschwer nachlesen lässt, schon abhanden gekommen. Sie war die Seherin des unaufhaltsamen Untergangs.

«Kassandra» und der Untergang

Vor allem «Kassandra» machte Christa Wolf auch für die jüngere westliche (Frauen-)Generation anschlussfähig. Unzählig die Lesezirkel, die sich Mitte der achtziger Jahre an der Erzählung sowie an Wolfs Frankfurter Poetikvorlesung, die als feministisches Manifest verstanden wurde, abarbeiteten. Kassandra, die in dem von Wolf umgeschriebenen Mythos den Untergang Trojas vorhersagt und aus der Geschichte «austritt», war die damals adäquate Identifikationsfigur, die weibliches Schicksal und weibliche Überlieferung «typisch» (wie es DDR-Kulturverwalter genannt hätten) vorführte. Kein anderes Buch von Christa Wolf wurde im Westen so leidenschaftlich diskutiert, womöglich, weil die in den Mythos transponierte Geschichte die Kluft zwischen den beiden Staaten schloss.

Die Rolle der Seherin hat Christa Wolf abgelegt, nicht erst als das bundesdeutsche Feuilleton sie zum Schlachtvieh erklärte und durchs Mediendorf trieb. In Medea, der in Korinth fremden und ausgegrenzten Kolchisin, erkennt sie sich wieder, ohne dass der umgeschriebene «mütterliche» Mythos wirklich bewohnbar würde. «Bald werden wir für alles, was über uns kommt, nur noch dieses Gelächter haben», liess Wolf Heinrich von Kleist in der fiktiven Begegnung mit Karoline von Günderrode in «Kein Ort. Nirgends.» (1979) orakeln. Es ist das furchtbare Lachen der Frauen angesichts des untergehenden Troja, das hysterische Gelächter angesichts der Katastrophe, die sich nur zufällig in Tschernobyl ereignete, und das grauenvolle Höllengelächter, das sich über die absehbar künftigen Katastrophen legen wird. «Einmal im Leben, zur rechten Zeit», wie es in «Nachdenken über Christa T.» heisst, «an Unmögliches» geglaubt zu haben, wird dann vielleicht unser Trost sein.

Therese Hörnigk (Hrsg.): Sich aussetzen. Das Wort ergreifen. Texte und Bilder zum 80. Geburtstag von Christa Wolf. Wallstein-Verlag. Göttingen 2009. 192 Seiten. Fr. 27.50