Die Krise in der Kantine (6): Weihnachtsguezli an Ostern

Nr. 13 –

Der Caritas-Markt für Armutsbetroffene erzielte im letzten Jahr einen gewaltigen Umsatz - und das ist ein schlechtes Zeichen.


Der Caritas-Markt in Zürich-Oerlikon liegt versteckt hinter zwei grossen Häusern, von der anderen Strassenseite aus ist er kaum zu sehen. Dass dennoch immer mehr Menschen ihren Weg dorthin finden, erstaunt allerdings nicht: «Das ist ja fast geschenkt!», ruft eine ältere Frau begeistert, als sie eine Packung Risotto aus dem Regal nimmt: ein Kilo für 95 Rappen. Seit 2006 hat sich die Zahl der KundInnen verdoppelt. «Aber es sollten noch mehr kommen», sagt Rolf Maurer, Geschäftsführer der Genossenschaft Caritas-Markt.

Potenzielle KundInnen gibt es genug - leider. Im Caritas-Markt kaufen die Ärmsten ein: Menschen, die mit dem Existenzminimum leben oder Sozialhilfe beziehen. «Bei uns erhalten Armutsbetroffene Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen», sagt Maurer, der seit drei Jahren bei der Caritas arbeitet. Früher war er als Detailhändler bei verschiedenen Grossverteilern angestellt, dann wollte er sein ökonomisches Wissen mit Wohltätigkeitsarbeit verbinden. «Die Caritas-Märkte beziehen einen grossen Teil ihres Sortiments aus Überproduktionen und Fehllieferungen grosser Konzerne wie Coop, Migros, Denner und Nestlé, die dadurch die teure Vernichtung vermeiden können. Weil solche Lieferungen jedoch immer weniger planbar sind, müssen wir vermehrt selber einkaufen und die Produkte subventionieren, damit wir sie zu tiefen Preisen verkaufen können. So können wir weiterhin armen Menschen einen finanziellen Spielraum erhalten. Ohne Angebote wie den Caritas-Markt könnten viele Familien in der Schweiz ihre grundlegende Versorgung nicht mehr sicherstellen. Besonders in der gegenwärtigen Krise wird das immer wichtiger werden, immer mehr Menschen sind dauerhaft auf vergünstigte Lebensmittel angewiesen.»

Schon jetzt ist der Caritas-Markt erfolgreicher als je zuvor, die schlechte Wirtschaftslage hat sich bereits bemerkbar gemacht: «Wir hatten letztes Jahr einen gewaltigen Umsatz», sagt Maurer. «Im Vergleich zum Vorjahr ist er um ein Drittel gestiegen. Aber das ist eigentlich kein Grund zur Freude. Umsatz ist notwendig, das ist klar. Doch für uns bedeutet Umsatzsteigerung vor allem, dass es den Leuten schlecht geht. Und vielen Menschen ging es natürlich bereits vor der Krise schlecht. Es hat immer schon arme Leute in der Schweiz gegeben, und zu wenige, die zu uns in den Markt kommen - weil eben viele nicht wissen, dass es uns gibt. Deshalb sind wir auf die Zusammenarbeit mit den Sozialämtern angewiesen; sie müssen die Leute darauf aufmerksam machen, dass sie bei uns zu tiefen Preisen einkaufen können. Gerade eben sind die Prognosen des Seco veröffentlicht worden: im nächsten Jahr soll die Arbeitslosenquote fünf Prozent betragen. Das wird sich natürlich in unseren Läden zeigen. Darum ist es umso wichtiger, neue Filialen zu eröffnen, um mehr Menschen zu erreichen. Im Februar wurde in Olten der neuste Caritas-Markt eingeweiht.» Mit Neueröffnungen schafft die Caritas auch neue Stellen für Erwerbslose, die so Erfahrungen im Detailhandel machen können und dadurch im Arbeitsmarkt bessere Chancen haben.

Anna ist gerade auf dem Weg ins Lager, um frische Frühstücksflocken zu holen. Sie arbeitet seit drei Jahren beim Caritas-Markt in Oerlikon, die Stelle wurde ihr vom Sozialamt vermittelt. Auch sie hat gemerkt, dass immer mehr KundInnen vom Angebot in ihrem Laden Gebrauch machen. Allein die Wirtschaftskrise sei das jedoch nicht, das liege auch am einzigartigen Angebot. Wo sonst bekommt man noch an Ostern Weihnachtsguezli?


Serie Kantinengespräche

Die Zeitungen sind voll mit abstrakten Analysen der Finanzkrise und ihres Niederschlags in der sogenannten Realwirtschaft. Die WOZ wählt den Blick von unten und besucht Kantinen, Pausenräume und Beizen in und bei Fabriken und Betrieben. In loser Folge sprechen wir mit den Angestellten: Wie verändert sich ihr Arbeitsalltag? Wo spüren sie die Krise persönlich?