Tom Segev: «Ich bin kritischer Zionist»

Nr. 14 –

Der bekannte israelische Historiker und «Haaretz»-Journalist über Israels neue Rechtsregierung, den zionistischen Traum und den gescheiterten Frieden.


WOZ: Herr Segev, Israel hat gerade eine neue Regierung vereidigt, mit dem rechtsextremen Avigdor Lieberman als Aussenminister ...

Tom Segev: ... dass eine solche Partei wie Liebermans Israel Beitenu zur drittstärksten Kraft werden konnte, ist beschämend. Israel Beitenu basiert auf Fremdenhass, wie ähnliche Parteien in Europa. Nur ist es bei uns noch schlimmer: Der Hass richtet sich nicht gegen Fremde, sondern gegen israelische Araber - also gegen israelische Staatsbürger.

Lieberman möchte sie am liebsten loswerden.

Sein Plan ist es, die Araber mithilfe einer neuen Grenzziehung zwischen Israel und dem besetzten Westjordanland auszuklammern - ihnen die Staatsbürgerschaft zu nehmen und gleichzeitig die jüdischen Siedlungen ins israelische Territorium zu integrieren.

Wie erklären Sie den Rechtsrutsch, der in den Wahlen vom Februar sichtbar wurde?

Die Israelis sind pessimistisch geworden, sie glauben nicht mehr an einen Frieden. Bei Liebermans Wählern handelt es sich zudem vor allem um eine Gruppe von rund einer Million russischer Neuzuwanderer, die keine demokratische Tradition mit sich gebracht haben.

Die Linke ist bereits seit den gescheiterten Camp-David-Verhandlungen von 2000 verstummt.

Die Linke wurde nach diesem Scheitern tatsächlich sehr geschwächt. Aus der Zweistaatenlösung ist nichts geworden: Road Map, Friedensprozess - das sind ja alles nur leere Worte.

Viele ehemalige Linke sind nach rechts gerückt. Sie auch?

Nein, aber ich bin immer pessimistischer geworden. Ich glaube nicht mehr an einen Frieden. Dabei stamme ich aus einer Generation, die mit diesem Glauben aufgewachsen ist.

Bei den Camp-David-Gesprächen war man aber nahe dran ...

Das glaube ich nicht. Beide Seiten haben sich bemüht, diesen Anschein zu erwecken. Jerusalem, die Siedlungen, die Flüchtlinge: In all diesen Fragen existiert kein Kompromiss. Damit sind so viele Emotionen verbunden - Geschichte, Religion.

Ist es denn wirklich ein religiöser Konflikt?

Er wird immer religiöser! Ich spreche nicht nur von der palästinensischen Hamas. Dasselbe gilt für die israelische Seite, vor allem für die Siedler. Entsprechend wird der Konflikt immer schwieriger zu lösen.

Ist die Haltung des säkularen Zionismus, etwa der Arbeiterpartei, nicht in gleichem Masse unfähig zum Kompromiss?

Nicht unbedingt. Der ursprüngliche Zionismus war immer darauf aus, eine jüdische Mehrheit zu bilden - und sei es auch nur in einem Teil des Landes. Erst seit dem Sechstagekrieg 1967, als Israel Ostjerusalem, das gesamte Westjordanland sowie den Gazastreifen eroberte, wurde - unter dem Einfluss der Religion - das Land plötzlich wichtiger als die jüdische Mehrheit.

Und Israel hat begonnen, immer mehr Siedlungen zu bauen.

Ja, und dies führt dazu, dass Israel seine Grenzen immer weiter auf das Westjordanland ausdehnt, in dem die Juden in der Minderheit sind. Das Ergebnis wird ein binationaler Staat sein, in dem Juden und Araber leben, und nicht ein jüdischer und demokratischer Staat. Damit handelt Israel seit dem Sechstagekrieg gegen seine ursprünglichen nationalen zionistischen Ideale - der Zionismus wurde neu formuliert.

Er ist religiöser geworden?

Ja, innerhalb der zionistischen Bewegung sind die religiösen Parteien sehr stark geworden - heute kommen die Offiziere der Armee oft aus den Siedlungen des Westjordanlandes. Früher stammten sie aus den sozialistischen Kibbuzim. Der Sechstagekrieg hat eine tiefe Veränderung in Gang gebracht - der religiöse Zionismus ist an die Stelle des sozialistischen Zionismus getreten.

Wie kam es dazu?

Der Sechstagekrieg war eine emotionale nationale Erfahrung, die das ganze Volk mitgemacht hat. Sechs Tage vor dem Krieg glaubten alle, dass sie von den Nazis - damit meinte man die Ägypter - vernichtet würden. Nach sechs Tagen Krieg stand man als Sieger da. Es herrschte ein Gefühl der Erlösung. Und man hatte die heiligen Stätten erobert: Jerusalem, die Klagemauer. Diese Ereignisse haben in den Menschen alle möglichen Gefühle ausgelöst - dieses geistige Erlebnis dauert bis heute an.

Doch nicht nur die Regierungen der religiösen Parteien treiben den illegalen Siedlungsbau voran, die Arbeiterpartei nimmt hier sogar eine Spitzenposition ein.

Sie tun dies aus politischem Interesse. Die Siedler haben genug Macht. Doch wie gesagt: Je mehr Siedlungen gebaut werden, desto mehr gerät die jüdische Mehrheit in Gefahr - und dann kommt es zu solchen Ideen, wie Lieberman sie hat.

Hier scheint es von rechts bis ganz links einen Konsens zu geben: Alle sehen die jüdische Mehrheit in Gefahr - warum muss Israel ein jüdischer Staat bleiben?

Die meisten Israelis verstehen sich nun einmal als Juden und brauchen diese Identität - das ist ein Bestandteil des hiesigen Lebens.

Doch ein Fünftel der Israelis sind Araber: Muslime und Christen. Solange sich Israel als ein Staat für die Juden definiert, werden sie nie ganze Israelis sein.

Sie können ganze Israelis sein, es gibt viele Länder mit nationalen Minderheiten. Warum sollen Juden in der Schweiz leben können, aber Araber in Israel nicht?

Schweizer ist, wer einen Schweizer Pass hat - ob er Jude, Christ oder Muslim ist, spielt keine Rolle.

Jeder Araber kann Israeli sein.

Aber nicht Jude - also nicht ganzer Israeli.

Er kann nicht Jude sein, aber er kann Gleichberechtigung haben - die er allerdings heute noch nicht hat.

Trotzdem: Warum sollte das so bleiben?

Die grosse Mehrheit der Israelis will das so. Die meisten Israelis verstehen sich als Juden. Klar, man könnte sagen: Warum heiraten wir Juden und Araber nicht untereinander. Doch die Palästinenser wollen auch kein Zusammenleben.

Was ist Ihre persönliche Haltung?

Ich habe nichts gegen einen jüdischen Staat. Ich glaube, dass ein jüdischer und demokratischer Staat nicht unbedingt einen Widerspruch darstellen. Wir haben noch sehr viel zu tun, um der arabischen Minderheit Gleichberechtigung zu verschaffen. Sie werden überall diskriminiert, teilweise sogar im Gesetz: Es ist ihnen zum Beispiel nicht erlaubt, Frauen beziehungsweise Männer aus dem Westjordanland nach Israel zu holen, um sie zu heiraten. Ich glaube: Bevor wir uns entscheiden, wie wir unseren Staat definieren wollen, gibt es hier noch viel zu tun.

Eine verschwindend kleine nichtzionistische Linke plädiert für die Gründung eines einzigen Staates, in dem Juden, Christen und Muslime gemeinsam leben würden. Was halten Sie davon?

Das würde alles nur noch komplizierter machen. Wir haben in Israel ja bereits einen binationalen Staat: In vielen Städten gibt es arabische Viertel - Tel Aviv, Haifa, Akko. Und die Schwierigkeiten, die dies mit sich bringt, lösen wir nicht besonders gut. Regelmässig kommt es zu Ausschreitungen.

Sind Sie Zionist?

Ich bin ein kritischer Zionist - es gibt nur wenige Israelis, jüdische Israelis, die nicht Zionisten sind. Doch ich bin mir bewusst, dass der Zionismus auch viel Unrecht mit sich bringt. Gegen Araber - und Juden. Der ursprüngliche Zionismus in den fünfziger Jahren war furchtbar fanatisch: Man hat die Menschen, die eingewandert sind, gezwungen, ihre ursprüngliche Identität abzulegen. Viele kamen aus arabischen Ländern, und man hat von ihnen verlangt, etwas zu sein, was sie nicht waren. Heute ist das anders: Die Russen können einen Teil ihrer Abiturprüfung auf Russisch machen - man ist viel offener.

Fällt damit die Gesellschaft nicht auseinander?

Nein, mittlerweile existiert eine starke israelische Identität. Es gibt eine dritte und vierte Generation von Israelis, die Hebräisch spricht, in der alle dieselben Schulen und Militäreinheiten besucht haben. Zu Beginn gab es das nicht: Ich habe mit meiner Mutter immer nur Deutsch gesprochen - sie war mit meinem Vater aus Nazideutschland hierher geflüchtet.

Ihre Eltern haben sich nie integriert?

An meinen Vater kann ich mich nicht erinnern, er ist im israelisch-arabischen Krieg von 1948 umgekommen. Doch meine Mutter hat nie Hebräisch gelernt - meine Bücher hat sie nie lesen können. Jeder ihrer Sätze fing an mit: In Europa war das so und so. Sie hatte immer das Gefühl, etwas Besseres verloren zu haben - dieses Gefühl haben heutzutage auch viele russische Einwanderer.

Wie ergeht es den russischen Einwanderern heute?

Sie leiden viel unter Rassismus, wie die äthiopischen Einwanderer auch - mein Adoptivsohn ist aus Äthiopien. Israel ist ein ziemlich rassistisches Land. Es ist ein Experiment, das noch nicht gelungen, aber auch noch nicht gescheitert ist. Es gibt unendlich viele verschiedene Israelis, die kulturell kaum etwas miteinander zu tun haben - und trotzdem versuchen sie, miteinander zu leben.

Ist Ihr Adoptivsohn integriert?

Ja, er war auch erst acht Jahre alt, als er mich gewissermassen 1991 auf der Strasse von Addis Abeba adoptiert hat. Damals sassen 20 000 Juden auf der Strasse vor der israelischen Botschaft und warteten darauf, dass man sie aus dem umkämpften Äthiopien ausfliegt. Ich hatte ihn auf der Strasse getroffen und kurz mit ihm gesprochen; und als ich nach Israel zurückflog, war er zufälligerweise im selben Flugzeug und hat mich angesprochen - kurz darauf habe ich beschlossen, ihn zu meiner Story zu machen: Ich wollte schauen, wie ein solcher Junge Israeli wird. Erst allmählich wurden wir zu Vater und Sohn.

Und, wie wurde er Israeli?

Es ist nicht einfach, als äthiopisches Kind in Israel aufzuwachsen. Die Tatsache, dass er jüdisch ist und wir als Juden gemeinsam den Arabern gegenüberstehen, erspart ihm nicht alle möglichen rassistischen Erfahrungen.

Zum Beispiel?

Neulich sass er mit einem anderen äthiopischen Freund in einem Lokal, in dem in einer Ecke eine andere Gruppe von äthiopischen Jungen sass, die plötzlich ohne zu bezahlen das Lokal verliess. Sofort kam der Kellner zu meinem Sohn und hat ihn aufgefordert, für die anderen Jungen zu bezahlen - dabei kannte er diese nicht mal. Es kommt auch immer wieder vor, dass ein Bürgermeister äthiopischen Kindern verbietet, zur Schule zu gehen. Dasselbe gilt für die Russen. Und die Russen und die Äthiopier hassen sich - die äthiopischen Freunde meines Sohnes nennen ihn manchmal Boris, um ihn zu ärgern.

Braucht Israel seine Feinde, um nicht auseinanderzufallen?

Vielleicht.

Sucht man sie deswegen auch?

Man sucht sie nicht, sie sind schon da. Ich glaube nicht, dass man in Israel deswegen keinen Frieden sucht. Aber ja, der Kriegszustand hält die Israelis zusammen.

Welche Rolle spielt hier der Holocaust?

Das Gefühl, ständig bedroht zu sein, ist bestimmt auf den Holocaust zurückzuführen. Diese Angst ist sehr authentisch, sie wurde aber auch über Jahre hinweg stark kultiviert. Alle zehn Jahre taucht ein neuer Hitler auf, im Moment ist es der Iran - allerdings liegen diese Gefahren nicht völlig in der Fantasie: Der Iran baut sich eine Atombombe und spricht davon, Israel zu vernichten. Es vergeht noch heute kein Tag, an dem der Holocaust nicht in irgendeiner Zeitung erwähnt wird. Dasselbe gilt für die Literatur, das Theater, die Kunst, das Schulwesen. Und der Holocaust wird auch als politisches Argument verwendet.

Dass man Opfer ist?

Ja, dass man Opfer ist. Und es ist nicht leicht, zwischen authentischen Ängsten und manipulierten Argumentationen zu unterscheiden.

Sie haben ein Buch zum Holocaust verfasst. Darin verneinen Sie die geläufige Annahme, dass die Gründung Israels eine Folge des Holocaust gewesen sei.

Israel ist das Ergebnis einer systematischen Arbeit der zionistischen Bewegung, die 1918 begann und sich über die nächsten dreissig Jahre bis zur Staatsgründung hinwegzog. Und die Engländer, die zu dieser Zeit in Palästina waren, haben dies unterstützt ...

... auch damit widersprechen Sie der gängigen Geschichtsschreibung.

Das hat auch viele Leute verärgert.

Ist es denn ein Zufall, dass der Staat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde?

Nein, aber 1948 existierte der Staat in seinen Grundfesten bereits. Nehmen Sie eine Zeitung vom Datum, an dem der Staat gegründet wurde: Man liest von Theatern, Restaurants, Geschäften. Vielmehr erlebte der Zionismus durch den Holocaust einen Rückschlag. Die Menschen, die in Europa vernichtet wurden, hätten hier leben sollen. Nun waren sie weg - damals dachte noch niemand an die Juden in den arabischen Ländern. Zudem stürzte die zionistische Bewegung in eine Krise, weil sie völlig hilflos zusehen musste, wie die europäischen Juden vernichtet wurden.

Sie werden zu den Neuen Historikern gezählt. Was bedeutet das?

Meine Bücher beruhen auf Informationen, die bis dahin geheim in Archiven lagen. Wenn man sie öffnet und sich die Dokumente anschaut, merkt man: Es ist nicht so, wie es die offizielle zionistische Geschichtsschreibung haben will. Viele haben kritisiert, meine Arbeit sei ideologisch. Doch ich verstehe mich als sehr unideologischen Menschen, als Journalisten. Ich suche mir ein Jahr aus und schaue mir die Dokumente an. Ich bin Sklave der Story, aber das glaubt mir niemand.

Sie waren einer der ersten, die zeigten, dass infolge der Staatengründung rund 750 000 Palästinenser vertrieben wurden; Sie haben geschrieben, dass der Sechstagekrieg kein Verteidigungskrieg war. Sind Sie nicht einfach ein Historiker, der links der Mitte steht?

Wahrscheinlich. Ich mache mir die Illusion, ich würde einfach schreiben, was mir die Dokumente erzählen. Doch wahrscheinlich stimmt das so nicht - eine objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht.


Tom Segev

Der 64-jährige Journalist ist einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Neuen Historiker: einer neuen Generation von Forscherinnen und Forschern, die in den Neunzigern begann, die offizielle israelische Geschichtsschreibung zu revidieren. Tom Segev lebt in Jerusalem und schreibt für die einflussreiche linksliberale Tageszeitung «Haaretz». Auf Deutsch erschienen sind unter anderem: «Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung» (1995), «1967. Israels zweite Geburt» (2007), «Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates» (2008).

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