Blaskapellen: Urgrossmamas Heavy Metal

Nr. 15 –

Lange Zeit galten sie als Auslaufmodell - jetzt kehren die Bläsersounds mit Gruppen wie Beirut und der Gangbé Brass Band in die Popmusik zurück.


Blaskapellen waren die Punkbands der 1860er Jahre. Die «schmetternde, ohrenzerrreissende Janitscharenmusik» stand im Kreuzfeuer der Kritik. Ein Jahrhundert später drängten Rock ’n’ Roll und Beat die Blasmusik ins Abseits. Seither gilt sie als spiessig. Selbst die wohlgemeinten Versuche mancher Orchesterleiter, sich mit Beatles-Medleys und Popnummern dem Zeitgeist anzupassen, verpufften ohne Wirkung.

Doch seit ein paar Jahren beginnt sich das Blatt zu wenden. Durch die Hintertür kehrt der Blechklang in die populäre Musik zurück. Blaskapellen vom Balkan haben das Wunder möglich gemacht. Mit ihrem fetzigen Sound machten sie die Blechmusik zum Renner der Weltmusikszene und zur Sensation in den grossstädtischen Discos.

Wuchtige Klänge, laute Tröten

Schon einmal hatten Blechbläser auf dem Tanzboden triumphiert. In Dörfern und Vorstädten galten sie einst als der letzte Schrei und bildeten einen Knotenpunkt im sozialen Leben. Was die E-Gitarre für die Rockära bedeutete und der Laptop für die Gegenwart, waren Trompeten und Hörner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: das dominante Instrumentarium der populären Musik.

Zwei Erfindungen ermöglichten den Siegeszug: Die Entwicklung der Tuba sowie der Blechinstrumente mit Ventilen brachten das Blasorchester als homogenen Klangkörper hervor. Anfangs machte vor allem das Militär vom neuen wuchtigen Klang Gebrauch, der Aufmärschen mehr Pomp verlieh. Wenn Regimentsmusiker später den Dienst quittierten und in ihre Dörfer zurückkehrten, spielten sie auf Hochzeiten und lokalen Festen. Urgrossmutters «Heavy Metal» verschaffte sich selbst im grössten Wirtshauslärm Gehör. Solche lauten Tröten standen vor allem bei der Jugend hoch im Kurs. In Blaskapellen lernten Jugendliche aus den unteren Gesellschaftsschichten das ABC der Musik.

Durch die koloniale Expansion gelangte die Brass Music über Europa hinaus. Ob in Lateinamerika, Asien oder Afrika: Überall war bald der blecherne Klang zu hören. Von dort kehrt die Blasmusik nun wieder in die westliche Popmusik zurück.

Als Botschafter wirken Popmusiker wie Zach Condon von der US-Gruppe Beirut. Condon ist ein musikalischer Globetrotter. Wie vor ihm Paul Simon, Ry Cooder und David Byrne bereist er die Welt auf der Suche nach ungehobenen musikalischen Schätzen, um sie für die Popwelt nutzbar zu machen. Selbst ein versierter Trompeter, Euphonium- und Waldhornbläser, hat er ein ausgesprochenes Faible für Blechorchester.

Der Marsch der Zapoteken

Die letzte Einspielung von Condon war stark von den Bläsersounds des Balkans gefärbt. Für die aktuelle Produktion hat es ihn ins mexikanische Hinterland verschlagen. Im April letzten Jahres machte er sich auf nach Teotitlán del Valle, einer Stadt am Fusse der nördlichen Sierra im Bundesstaat Oaxaca im südlichen Mexiko. Dort lassen es jeden Freitagabend die örtlichen Blaskapellen auf dem Marktplatz mächtig krachen. Besonders angetan war Condon vom fast zwanzigköpfigen Blasorchester der Familie Jiménez. Die Mitglieder dieser «banda» erwiesen sich als passable Notenleser, die sich dennoch den Charme des unpolierten Musizierens bewahrt haben. Der Beirut-Bandleader arrangierte seine Songs für die Familienband neu und nahm deren Interpretationen mit dem Laptop auf, um später im Studio in Brooklyn die Liedmelodien darüberzusingen. Seine Ausbeute erschien als kurze CD mit dem Titel «March of the Zapotec» - auf der kaum ein Name der mexikanischen Musiker korrekt geschrieben ist - im Doppelpack zusammen mit der seichten Elektropop-CD «Realpeople Holland».

Im Süden Mexikos hat die Blasmusik eine lange Tradition. Im Hochland von Oaxaca tauchten die ersten Trompeten bereits in den 1850er Jahren auf. Aber erst die Invasion der Franzosen 1862 und die Krönung des habsburgischen Erzherzogs Maximilian zum Kaiser von Mexiko 1864 brachte europäische Militärkapellen in so nennenswerter Zahl ins Land, dass sie bald Nachahmer unter den Einheimischen fanden. Ob bei Dorffesten, religiösen Prozessionen oder Karnevalsumzügen - allerorten sorgten die Bläser mit Märschen, Polkas und Walzern für Unterhaltung, wobei an den kirchlichen Feiertagen auch Hymnen aus dem katholischen Gesangsbuch intoniert wurden.

Neben Lateinamerika hatte die französische Kolonialarmee auch Afrika im Visier. Mit dem Militär kamen die Regimentskapellen. Durch ihr martialisches Auftreten und die Wucht ihres Klangs avancierten sie zu Symbolen kolonialer Macht, was Nachahmer fand: Bald stellten die einheimischen Herrscher ihre eigenen Blechformationen auf. 1862 stiess ein europäischer Forschungsreisender in Karagwe (Tansania) auf solch ein Ensemble: «Der König befahl seinen Musikern, uns ein Stück zu spielen. Die Gruppe setzte sich aus einigen Trommlern zusammen und Blechbläsern mit teleskopartigen Trichterinstrumenten, wie sie gerade in Mode sind, die sie die ganze Zeit wie wild bliesen.»

«In wilder Erregung fortgerissen»

Hand in Hand mit den Kolonialmächten arbeitete die christliche Mission. Die Bekehrten zogen in Missionsstationen, wo das traditionelle Instrumentarium verboten war, weil es mit «heidnischen» Bräuchen assoziiert war. Als Ersatz wurden Blaskapellen ins Leben gerufen, deren Instrumente man aus Europa einführte. Die Missionare sahen im Musikmachen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung im «Kampf gegen die Sinnlichkeit der Neger», wie es 1902 in einem Missionsbericht hiess. «Die jungen Burschen müssen doch Gelegenheit haben, zu jugendlich fröhlichem, aber anständigem Treiben zusammenzukommen. Man muss sie anleiten, ihre Musezeit mit Edlem anzufüllen.»

Die Kalkulation der Missionare ging nicht auf. Da die Absolventen der Missionsschulen oft gute Jobs in der Verwaltung oder bei Handelsfirmen fanden, gingen sie bald ihre eigenen Wege. Sie spielten weiter auf den Blasinstrumenten, doch nicht das fromme Repertoire. «In manchen Gegenden wird die Sinnlichkeit und das ungebundene Wesen mächtig gefördert durch Musikbanden, die mit europäischen Instrumenten spielen», klagt eine Missionszeitschrift. «Auch viele Christen, zumal jüngere Leute, vermögen der Verführungsmacht dieser europäischen Musik nicht zu widerstehen und werden in wilder Erregung der Sinneslust fortgerissen.»

Blasmusikwelle in Fahrt

Von den Missionaren bekämpft, bildeten solche «Musikbanden» den Nährboden für die afrikanische Popmusik der nachkolonialen Ära. Aus dem westafrikanischen Bénin, das von 1892 bis 1960 unter französischer Herrschaft stand, stammt die Gangbé Brass Band. Ihre Besetzung ähnelt der der Blaskapellen der Kolonialzeit. «Gangbé» bedeutet «Klang von Metall».

Das achtköpfige Bläser- und Trommelensemble peilt jedoch einen neuartigen Stil an, der nigerianischen Juju, Highlife aus Ghana und traditionelle Vodunmusik (Voodoo) mit Jazz- und Bigbandarrangements vereint. So entsteht ein mitreissender Bläsersound, der vielleicht bald dafür sorgen könnte, dass die Blasmusikwelle noch mehr an Fahrt gewinnt. Schmissige Märsche wird man darin allerdings vergeblich suchen.

Beirut: «March of the Zapotec/Realpeople Holland». Pompeii Records / Irascible.

Gangbé Brass Band: «Assiko». Contre Jour  / Disques-Office.