Die Israelis: Die stille Minderheit

Nr. 21 –

Zuerst befürworten sie fast geschlossen den Krieg. Dann bringen sie an der Urne die Rechtskräfte ihres Landes an die Macht. Was sagen eigentlich jüngere Menschen in Israel dazu? Eine Reise durchs Heilige Land.


Plötzlich verschwindet die Sonne: Vor mir steht ein Mann. Kurzgeschorenes Haar, Sonnenbrille, grüne Bomberjacke, schwarze Kampfstiefel, in der Rechten ein Gewehr. Kha-kha - mit zwei martialischen Handgriffen lädt er den Karabiner, stellt ihn zurück an die Mauer des kleinen Wachhauses und setzt sich daneben auf den roten Stuhl.

Hier am Eingang der jüdischen Siedlung Ofra, mitten im besetzten Westjordanland, lauert die Gefahr überall. Wer Ofra besucht, soll dies wissen. Hinter dem massiven Metalltor erheben sich die kahlen Fassaden der ringförmig angeordneten Häuser, umgeben von einem kilometerlangen Stacheldrahtzaun. Ein Fremdkörper, inmitten der mit Olivenhainen und arabischen Dörfern gesäumten Hügeln, die in der Morgensonne glänzen, zwanzig Kilometer nördlich von Jerusalem.

Der Wachmann brüllt ein paar Mal meinen Namen in sein Mobiltelefon, dann lässt er mich durch. Yehezkel Schatz wartet in seinem Haus. Die Rollläden sind unten. Der 39-Jährige sitzt am Küchentisch. Mit blauem Shirt, Kippa und Bart. Seine Frau Lisa und er seien kurz nach ihrer Hochzeit hierher gezogen, beginnt Yehezkel. Sie sei aus Toronto, er aus Washington. Gemeinsam wollten sie hier ihre fünf Kinder grossziehen. «Warum hier? Weil Gott in seiner endlosen Güte und Barmherzigkeit den Juden befohlen hat, Israel zu besiedeln», sagt der junge Informatiker - und gerade hier in Samaria und Judäa sei das Land besonders in Gefahr. Wegen der Araber. Die versuchten den Juden das Land wegzunehmen.

Judäa und Samaria. Damit meint Yehezkel das Westjordanland. Jenes Stück Land, das die Welt den PalästinenserInnen als Staatsgebiet versprochen hat. Seit dem Sechstagekrieg 1967 hält es Israel besetzt. «Westjordanland, Israel!?» Eine künstliche Unterscheidung sei das, sagt Yehezkel - eine Erfindung der Linken. Den Juden gehöre das ganze Land. So wolle es Gott. Und, ist Yehezkel überzeugt: Den Arabern gehe es ohnehin nicht um einen eigenen Staat. «Sie wollen uns töten, abschlachten, uns vernichten - sie wollen die Endlösung.» Nein, Palästinenser kenne er keine, doch ein Blick in die Zeitung genüge, um dies zu begreifen. Yehezkel verkrampft sein Gesicht. Jahrelang hätten sie versucht, mit den Arabern zu leben, doch die wollten nicht. Darum sage er heute: «Werden wir diese Araber endlich los.»

Über die Hälfte Ofras liegt auf privatem Boden. Boden, der palästinensischen Familien aus den umliegenden Dörfern Ein Yabrud und Silwad gehört. 1973 wurde die Kommune von der damals aufstrebenden religiösen zionistischen Bewegung als erste jüdische Siedlung des Westjordanlands aus dem Boden gestampft - leise, Schritt für Schritt, bis die Fakten standen. Seither haben Ofras BewohnerInnen jedes Jahr etwas mehr vom umliegenden palästinensischen Agrarland eingenommen - und eingezäunt. Bis heute gilt die Kommune als Flaggschiff unter den rund 133 Siedlungen und 100 Aussenposten, die sich täglich etwas tiefer ins Westjordanland fressen.

Einer dieser Aussenposten ist Kida. Der Weg dorthin führt weiter Richtung Norden, über eine breite, den SiedlerInnen vorbehaltene Strasse, an Gemüse- und Obstplantagen vorbei, und endet auf einer steinigen Piste, die sich auf ein kleines Plateau schlängelt. Hier oben stehen verstreut ein paar weisse Container, ein Wasserturm, sonst nichts. Im Osten erstreckt sich das weite Jordantal, im Westen glaubt man durch den sandig rötlichen Dunst einen blauen Streifen des Mittelmeers zu erkennen.

Tzofia wartet vor ihrem Container - in Jeans, farbigem Pullover und mit einem breiten Grinsen. Ihr Mann sei soeben aus dem Haus geflüchtet, sagt sie. Als hoher Militäroffizier meide er Journalisten. Drinnen in Tzofias Küche gibt es Schokoladenkuchen und Milchkaffee in grossen bunten Tassen. Und während die Waschmaschine nebenan immer schneller dreht und der Küchentisch immer stärker rüttelt, fängt die Dreissigjährige an, vom «Wunder» zu erzählen: dass die Juden zweitausend Jahre nach ihrer Vertreibung in das heilige Land zurückgefunden hätten - genau wie ihre Eltern, die kurz nach Israels Staatsgründung 1948 aus den USA hierher gekommen sind.

Kida ist der östlichste Aussenposten einer Siedlungskette, die das nördliche Westjordanland durchzieht - darauf ist Tzofia besonders stolz. Irgendwann, ja, irgendwann soll die Kette zusammenwachsen. Die Infrastruktur habe ihnen der israelische Staat geliefert, sagt sie, der steht hinter Kida, wie hinter den meisten Siedlungen. «Einzig mit den Amerikanern haben wir Probleme, die beobachten uns von da oben, mit Satelliten», sagt Tzofia und zeigt mit dem Finger an die Decke, die knapp über ihrer bunten Wollmütze beginnt. Die USA betrachteten die Siedlung als illegal.

Nach internationalem Recht sind das alle. Und genau das wie auch der Plan, hier mitten im gelobten Land einen Staat für die Palästinenser zu gründen, kann Tzofia nicht verstehen. Sie wolle mit den Arabern in einem Staat zusammenleben, sagt sie. Hier gebe es genug Platz für alle. Nur eine rote Linie gelte es zu beachten, fügt Tzofia an: «Es ist unser Staat und das bedeutet: Das jüdische Volk entscheidet, was hier geschieht.» Und die Palästinenser? Irgendwann würden die das schon akzeptieren, ist Tzofia überzeugt: «Wir Juden müssen nur stärker in unserem Glauben werden und unsere inneren Zweifel überwinden.»

Und dann fügt Tzofia noch an: «Glaub ja nicht, dass die linken Israelis einen palästinensischen Staat fordern, weil sie die Araber mögen - sie wollen nur nicht mit ihnen leben.»

PalästinenserInnen kennt Tzofia keine. Warum, wisse sie auch nicht genau. Einzig Beduinen sei sie schon begegnet. Die würden manchmal nachts in die Siedlung eindringen, um zu stehlen - nicht aus Böswilligkeit, das Stehlen gehöre zu ihrer Kultur. Einzig in Jerusalem begegne sie manchmal Arabern. Dort gräbt Tzofia unter der Woche nach Überbleibseln aus der Zeit von König David, dem einstigen König Israels.

Anders ihr Mann: Als Offizier habe er viel mit Arabern zu tun, sagt Tzofia, zuletzt im Gazakrieg Anfang Jahr. Doch von seinen Erlebnissen erzähle er ihr nichts - eine gemeinsame Abmachung sei das: «Er hat sein Leben, ich habe meines.» Der Krieg sei aber eine gute Idee gewesen. Nur schade, habe man sie nicht zu Ende gebracht und die im Gaza regierende Hamas nicht ausgemerzt. Die Zivilisten? Klar habe sie Mitleid mit ihnen. Doch unschuldig sei von ihnen niemand. Sie hätten die Hamas unterstützt. Und die sei politisch extrem - und sehr religiös.

Fast alle Bewohner hier würden die rechtsreligiösen Parteien wählen, erzählt Tzofia später, als wir über die Mondlandschaft spazieren. Sie dagegen habe Likud gewählt. «Hier bedeutet das, dass ich sehr links bin» - wir lachen. Dass der rechtsnationalistische Likud die Wahlen im Februar für sich entscheiden konnte und nun mit dem rechtsreligiösen Lager und der neu aufstrebenden rechtsextremen Israel Beitenu das Land regiert, freut Tzofia besonders. Klar, Israel Beitenu sei eine säkulare Partei. Und trotzdem gebe es dort gute und starke Leute - eine ihrer Abgeordneten erwarte bereits ihr achtes Kind.

Bevor ich ins Auto steige, gibt mir Tzofia eine Passionsfrucht und einen letzten Gedanken mit auf den Weg: «In Europa ist es gut, politisch links zu sein - hier ist es genau umgekehrt.» Sie grinst, schlägt die Autotür zu und beginnt zu winken.

Einer, der für die rechtsextreme Israel Beitenu gewählt hat, ist Yaniv Shmushkevitch. Er lebt in Rechovot, einer kleinen Stadt, zwanzig Kilometer südlich von Tel Aviv.

Der Weg führt über Jerusalem. Bis dorthin dauert es keine halbe Stunde. Mit einem israelischen Nummernschild bewegt man sich auf den Siedlerstrassen des Westjordanlandes so frei wie irgendwo auf dieser Welt. Die grossen Checkpointhallen, in denen junge bewaffnete israelische SoldatInnen täglich Tausende von PalästinenserInnen durch die langen Schleusen aus Metallgitter treiben, sieht man hier nicht; und die kilometerlange Mauer, die sich weit ins Westjordanland gräbt und die die PalästinenserInnen von der übrigen Welt abschneidet, nur aus der Ferne. Einzig der Kontrollpunkt am Eingang von Jerusalem verrät, dass man besetztes Land verlässt.

Von der heiligen Stadt aus, die mit ihren unzähligen Kirchtürmen, Minaretten und Kuppeln verschlafen in den Hügeln hängt, geht es anschliessend weiter Richtung Meer.

Das Haus mit der Nummer vierzehn ist ein quadratischer Block aus Stein. Wie die meisten Häuser in Israel. Yaniv steht im Treppenhaus. Der 26-Jährige kommt gerade aus der Praxis, wo er als Physiotherapeut arbeitet. Er öffnet die Wohnungstür: eine alte Küche, zwei kleine Zimmer, Fernseher, Sofa - und darauf eine schwarze Katze. «Nimm dich vor ihr in Acht», warnt Yaniv, die Katze sei furchtbar aggressiv. Er packt sie am Nacken, wirft sie wie einen Müllsack ins kleine Zimmer, schliesst die Tür und grinst mich an. Die Katze gehöre seiner Freundin, mit der er hier wohne. «Bier? Wodka?», fragt Yaniv. Ich lehne ab - es ist zehn Uhr morgens. Er grinst wieder.

Yaniv ist einer von gut einer Million russischer Neuzugewanderten, die seit dem Ende des Kalten Kriegs hierhergekommen sind. Sie machen heute knapp ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus. Die meisten leben südlich von Tel Aviv: Ashdod, Ashkelon, Beersheba - dem Tor zur Wüste Negev. Sie waren es, die der rechtsextremen Israel Beitenu bei den Wahlen erstmals zu zwölf Prozent verhalfen und deren Chef Avigdor Lieberman - ein Einwanderer aus Moldawien - auf den Posten des Aussenministers katapultierten. Doch über die russischen EinwanderInnen mag Yaniv nicht reden. Er glaube, meint Yaniv etwas verlegen, dass ich da gewisse Dinge durcheinanderbringe: «Wir Juden kommen von überall her, aber wir sind alles Juden - und die Araber, das sind eben Araber.»

Und in ihnen sieht Yaniv eine grosse Gefahr. «Sie hassen dieses Land», sagt Yaniv, und sie hassten die Idee, dass Israel ein jüdischer Staat sei - das glaube nicht nur er, sondern auch die Politiker. Yaniv spricht nicht von den Menschen in den besetzten Gebieten, im Gazastreifen und dem Westjordanland. Er spricht von jenen PalästinenserInnen, deren Vorfahren während des arabisch-israelischen Kriegs 1948 nicht flüchteten und nun mit israelischem Pass in Israel leben. Christen und Musliminnen. Auch sie machen rund ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus.

Ihr Hass sei während des Gazakriegs offensichtlich geworden, fährt Yaniv fort. Sie hätten nicht aufgehört, die israelische Regierung für ihren Feldzug anzuprangern. «Wenn ich daran denke, kocht es in mir», ereifert sich Yaniv, «solche Leute würde ich am liebsten in die Hölle schicken!» Demokratie, Meinungsfreiheit und so, ja, das sei zwar alles schon gut, doch zu viel Demokratie eben auch wieder nicht. Im Nebenzimmer beginnt die Katze zu miauen.

Darum habe er Lieberman gewählt: Weil dieser alle Araber ausbürgern wolle, die sich nicht zum jüdischen Staat bekennen wollten, sagt Yaniv. Es gelte nun, Stärke zu demonstrieren. Die Palästinenser allesamt aus dem Land werfen? Yaniv zögert, schaut auf das Diktiergerät und lacht nervös. Er habe ein wenig Angst vor diesem Gerät, aber ja, im Innersten seines Herzens wäre er froh darüber. Doch er wisse, dass das nicht menschlich sei und nicht richtig und aggressiv und irgendwie auch unlogisch - «du musst denken, dass ich ein Faschist bin», sagt Yaniv nachdenklich.

Die Katze miaut noch immer. Dann poltert es, als würde das Tier im Zimmer alles niederreissen. Yaniv grinst: «Wenn die Katze wählen könnte, würde sie bestimmt auch Lieberman wählen.» Aus Wut? Ja, vielleicht. Er habe aber vor allem Angst. Irgendwann würden sich die Araber rächen, ist er überzeugt. «Denn sie glauben, dass wir ihnen ihr Land weggenommen haben», sie würden in diesem Denken erzogen. Und irgendwie stimme das ja auch: Man habe ihnen das Land ja tatsächlich weggenommen. Und zudem würden sie noch überall diskriminiert - das wisse er von einem ehemaligen Studienkollegen, einem Araber, einem wahnsinnig netten Menschen. Aus diesen Gründen seien die Menschen in Europa auch alle gegen Israel. «Doch ihr versteht nicht - hier ist der Dschungel: Bist du zu schwach, stirbst du.» Falls die Araber eines Tages stark genug würden, werde es hier einen zweiten Holocaust geben.

Yaniv steht auf und verschwindet in der Küche. Ich sei in Ofra gewesen, rufe ich ihm nach. «Oh, die sind extrem religiös dort», sagt Yaniv, der mit einem Pack Kekse zurückkommt. Anders als die Siedler habe er kein Problem damit, die besetzten Gebiete den Palästinensern zu übergeben. «Aber dann wirklich: zwei Staaten, keine Araber hier, keine Juden dort, und dazwischen eine hohe Mauer, mit Stacheldraht und vielen Soldaten - wie es Lieberman will.» Dazu müsste die Grenze im Zickzack neu gezogen werden: Die jüdischen Siedlungen im Westjordanland gehörten zu Israel, die arabischen Dörfer Israels in die heute besetzten Gebiete.

Dass das Westjordanland zum heiligen Land gehört, spielt für Yaniv keine Rolle. «Ich bin nicht religiös, ich bin ein säkularer Zionist», sagt er. Für ihn seien die Juden in erster Linie ein Volk, das irgendein Stück Land brauche. Punkt.

Ein Volk, das ein Land braucht. So dachten auch die säkularen sozialistischen Zionisten aus Europa, die 1948 den israelischen Staat verkündeten. Weg von den alten religiösen Bräuchen ihrer Eltern, hin zum modernen Nationalismus des 20. Jahrhunderts.

Ich treffe Tamar Zandberg und Uri Zaki im fünfzehnten Stock der Tel Aviver Stadtverwaltungszentrale. Die beiden politisieren für Meretz, die kleine Schwester der Arbeiterpartei - den beiden politischen Überbleibseln der einst so mächtigen linkszionistischen Elite im Land.

Den Kaffee gibt es im Pappbecher. Tamar und ihr Kollege Uri sitzen, die Arme verschränkt, hinter einem alten Bürotisch und warten. «Meretz!?», werde ich gleich zu Beginn unterbrochen, «Meretz existiert nicht mehr.» Die Partei sei kollabiert, sagt Tamar zynisch. Tatsächlich gibt es wenig zu feiern: Meretz sackte in den letzten Knessetwahlen von 5 auf 3 Sitze ab, die Arbeiterpartei von 19 auf 13. Die Fortsetzung eines jahrelangen Trends.

Doch seine Überzeugungen hat Uri behalten: Dass die Juden ein Volk seien, das einen jüdischen Staat brauche, gehöre für ihn zu den grundlegendsten Wahrheiten dieser Welt, sagt der 34-Jährige. Und gerade deshalb müssten die Juden den Palästinensern Land abgeben: «Um uns einen demokratischen - und jüdischen - Staat zu sichern.» Man müsse bedenken: Die Hälfte der Menschen, die heute unter Israels Kontrolle lebten, seien Araber; vor allem wegen der arabischen Mehrheit im Westjordanland. Ziehe sich Israel nicht endlich aus diesem Gebiet zurück, gerate die jüdische Natur des Staates ernsthaft in Gefahr.

Die Linke fordere einen Staat für die Palästinenser, um nicht mit ihnen gemeinsam leben zu müssen, hatte Tzofia in Kida gesagt - nicht weil sie es für gerecht hielten. Hatte sie recht? «Sicher», meint Uri gelassen, «definitiv», fügt Tamar ihrerseits etwas beschämt hinzu, «es ist die Lösung des sogenannten demografischen Problems». Ist Liebermans Plan einer vollständigen Trennung zwischen Juden und Arabern nicht die konsequente Umsetzung davon? «So ist es», sagt die 33-jährige Tamar. Sie zweifle deshalb - wie auch eine Minderheit in ihrer Partei - immer mehr, ob die Gründung eines palästinensischen Staates wirklich das Richtige sei. «Wir müssen lernen, zusammenzuleben» - es werde ohnehin immer eine arabische Minderheit in Israel geben.

Also einen einzigen Staat für Juden und Palästinenser? Warum nicht, meint Tamar. Man müsse offen für neue Lösungen sein. «Um dann auszuwandern!?», fällt ihr Uri wütend ins Wort. «Oder um auf alle Ewigkeit als Minderheit unter Arabern zu leben?» Nein, ist Uri überzeugt: Es brauche zwei Staaten. Zwar müssten die Araber in Israel endlich die Gleichberechtigung erhalten, was heute natürlich nicht der Fall sei. Doch der israelische Staat, der müsse jüdisch bleiben. Was Lieberman zum Neofaschisten mache, ergänzt Uri, sei nicht sein Plan einer Trennung von Palästinensern und Juden - «warum sollen wir nicht arabische Städte gegen jüdische Siedlungen tauschen, solange die Araber einverstanden sind?» Das Problem sei Liebermans Drohung, die israelischen Araber zwangsweise auszubürgern; da gebe es einen wesentlichen Unterschied.

Über etwas sind sich die beiden aber einig: Ihren Niedergang habe die zionistische Linke selbst zu verschulden - sie habe den Sprung ins 21. Jahrhundert verpasst. «Unsere Parteiführer stammen noch immer aus den Kibbuzim und tun so, als seien die ehemals sozialistischen Kommunen noch immer die Avantgarde der Nation», kritisiert Uri. Dabei steckten die Kibbuzim seit den achtziger Jahren in einer tiefen wirtschaftlichen und ideologischen Krise. Und, sagt Tamar, die Kibbuznik selbst würden heute mehr und mehr Kadima wählen - «tatsächlich ist Kadima auch die neue Anführerin des Peace Camps, der Bewegung, die Frieden will!», ergänzt Uri bewundernd.

Kadima. Das ist jene Mittepartei, die der einstige Kriegstreiber und spätere Premierminister Ariel Sharon 2005 aus dem Boden stampfte und die nun mit Tzipi Livni an der Spitze in Opposition zur Rechtsregierung - inklusive der Arbeitspartei - ist. Eine Partei wie aus dem PR-Prospekt: jung, dynamisch, modern - so friedliebend wie möglich, so standhaft wie nötig. Und selbstverständlich für einen palästinensischen Staat - die USA will man nicht vergraulen. Ihre Wählerhochburg: Tel Aviv.

Vor dem Fahrstuhl notiert mir Uri noch seine Adresse auf einen Zettel. Zaki? Ja, sein Vater sei aus Ägypten. Ein arabischer Jude? Nein, präzisiert Uri schroff, man nenne sie orientalische Juden.

Draussen drückt die Nachmittagssonne. Auf der Fussgängerallee Richtung Strand flanieren junge Leute. In hippen Klamotten - hohe Stoffturnschuhe, Pilotenbrille, schwarze Röhrchenjeans. Unter den Pavillons in den Alleen sitzen überall Menschen, trinken Apéros und schwatzen. Einzig die schlichten Fassaden der alten Bauhausgebäude aus den Dreissigern erinnern an die alten sozialistischen Zeiten. Vorne am Strand, der sich gleich hinter den modernen Wolkenkratzern über mehrere Kilometer zieht, liegen die Menschen auf ihren Liegestühlen unter Schirmen dicht gedrängt aneinander. Und ganz im Süden der Bucht ragt auf einem kleinen Hügel das Städtchen Jaffa ins Meer - nach der Staatsgründung ergriffen dort mehrere Zehntausend arabische BewohnerInnen vor israelischen Milizen die Flucht.

Die Mehrheit der israelischen AraberInnen wohnt heute im Norden des Landes. In Ar’ara, Umm al-Fahm - oder auch Nazareth, wo ich Abir Kubti, eine junge arabische Israelin treffe.

Die Strasse führt entlang der Küste Richtung Norden, zweigt dann ins Landesinnere ab, durchquert grüne Ackerflächen, arabische Dörfer und steigt zuletzt auf einen kleinen Buckel, an dessen Fuss sich Nazareth erstreckt. Das biblische Städtchen, in der einst der Engel Gabriel die Geburt Jesu angekündigt haben soll, ist längst zur pulsierenden arabischen Grossstadt geworden. Im Zentrum herrscht Verkehrschaos, überall drängen sich Menschen durch die Strassen, und dazwischen preisen die Strassenhändler mit lauten Rufen ihre Waren an.

Abir sitzt hinter einem Schreibtisch in einem winzigen Büro. «Ahlan», begrüsst mich die Palästinenserin. Die 29-Jährige sitzt seit kurzem im Gemeindeparlament von Nazareth - jener Stadt, in der ihre Familie seit Generationen lebt, wie Abir stolz berichtet. Für Hadash, die Nachfolgerin der kommunistischen Partei. Hier in Nazareth holte ihre Liste bei den Knessetwahlen über die Hälfte aller Stimmen. Landesweit jedoch gerade mal drei Prozent - etwa gleich viel wie die arabischen Parteien Taal und Balad. Hadash sei die einzige jüdisch-arabische Partei Israels, stellt Abir gleich zu Beginn klar. Und die einzige erklärtermassen nichtzionistische Partei, die nicht nur arabische, sondern auch jüdische Wähler hat. Taal und Balad, das seien rein arabische Parteien, sagt Abir, die kämen für sie nicht infrage. Genau so wenig wie die linke Meretz, die nur für Juden und dazu noch zionistisch sei. Dass Meretz den Angriff auf Gaza in den ersten Tagen gutgeheissen hat, kann die Palästinenserin nicht verstehen. «Wie können die behaupten, links zu sein?»

Mit dem Zionismus, ja, mit dem habe sie ein grundsätzliches Problem, sagt Abir. Zwar hätten die Juden ein Recht auf Selbstbestimmung. Und sie habe auch nichts dagegen, wenn der israelische Staat dieses Recht repräsentiere. Doch dass Israel ein jüdischer Staat sein soll, das gehe ihr zu weit. «Als nichtjüdische Araberin werde ich von diesem Staat ausgeschlossen», sagt Abir - und mit ihr ein Fünftel von Israels Bevölkerung. «Der Davidstern auf der israelischen Flagge ist jüdisch, der Text der Nationalhymne zionistisch - aber ich bin weder Jüdin noch Zionistin.»

Die Folgen daraus spüre sie im Alltag. Die Jugendlichen würden bei der Arbeitssuche diskriminiert, kämen manchmal nicht in Nachtclubs rein - «selbst für arabische Strassenschilder müssen wir kämpfen». Und, fügt Abir empört hinzu: «Immer mehr Israelis sehen uns als eine demografische Gefahr - der Ruf, uns in die besetzten Gebiete zu transferieren, wird mit jedem Tag lauter.»

Dann holt Abir aus, um ihren Traum zu skizzieren: einen gemeinsamen jüdisch-arabischen Staat Israel neben einem eigenständigen Staat Palästina - die irgendwann, ja irgendwann vereinigt würden. «Es gäbe dann nur noch einen Staat», sagt Abir, «einen Staat, in dem Juden und Araber gleichberechtigt gemeinsam leben würden.» Die Juden dürften dann auch im Westjordanland leben. Den Nationalismus, glaubt Abir, den müsse man endlich überwinden.

Und dann sagt Abir plötzlich noch: «Wir Araber brauchen in Israel endlich nicht nur die normalen bürgerlichen Rechte, sondern auch nationale Rechte.» Nationale Rechte? Ja, sagt Abir, die Araber seien eine eigene Nation für sich, und als Nation stünden ihnen bestimmte nationale Rechte zu.

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