Neue Sozialversicherung: Alles in einem

Nr. 23 –

Das Denknetz lanciert eine dringliche und elegante Idee: die Schaffung einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Warum? Wie soll sie aussehen? Wie lässt sie sich bezahlen?


Der Plan ist vorerst noch ein Buch. Aber der Plan ist gut. Er heisst kurz: AEV.

Die Arbeitslosenversicherung, die Invalidenversicherung, der Erwerbsausfall bei Krankheit, Unfall, Mutterschaft, Militär-, Zivildienst, Ergänzungsleistungen sowie die Sozialhilfe: Die Aufzählung zeigt, wie verworren die Versicherungszweige und Unterstützungssysteme sind, die heute beim Erwerbsausfall zum Tragen kommen. Sie alle sollen nun in einer Allgemeinen Erwerbsversicherung AEV gebündelt werden.

Das schlägt das Denknetz Schweiz vor. Achtzehn Monate lang hat der linke Thinktank an der Idee und einem Buch dazu gearbeitet. Diesen Donnerstag stellt er es der Öffentlichkeit vor und will damit eine Diskussion über eine umfassende Sozialreform lancieren. Und zwar im «ursprünglichen und guten Sinn des Wortes», wie es im Vorwort heisst. «Welche sozialen Leistungen müssen einer Reform unterzogen werden, um die sozialen Probleme der Gesellschaft zu lösen und die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern?»

Vereinfachung und Reform, diese Begriffe sprachen in den letzten Jahrzehnten immer die Neoliberalen aus. Und meinten damit Simplifizierung und Abbau: der sozialen Realität, der sozialen Netze. Klau deinem Gegner die Wörter zurück - der Plan beginnt schon einmal offensiv.

Der Anlass

Die sozialen Sicherungen, das ist der Ausgangspunkt der Überlegungen, orientieren sich an der fiktiv gewordenen «Lebensstelle». Und sie sind auf männliche Vollzeitangestellte ausgerichtet. Doch seit den neunziger Jahren erodieren die Arbeitsverhältnisse: Ein Drittel der Beschäftigten sind in ihrer Biografie bereits von einem unfreiwilligen Ausfall des Erwerbs betroffen. Prekäre Anstellungsbedingungen, die durch die Instabilität des Arbeitsplatzes gekennzeichnet sind, haben zugenommen: Teilzeitjobs, Temporärjobs oder Scheinselbstständigkeit.

Hinzu kommt der politische Druck auf die Sozialwerke: Die Erwerbsrisiken sind zwar weitgehend fremdbestimmt und unberechenbar. Dennoch sollen die einzelnen Betroffenen dafür geradestehen. Eigenverantwortung heisst der Kampfbegriff von rechts, der so wacker klingt und so verheerend wirkt. Die Folgen in den Sozialversicherungen: Leistungskürzungen und ein Anstieg der Sozialhilfe. Die Folgen auf dem Arbeitsmarkt: Der Druck auf Arbeitslose und Ausgesteuerte, jede prekäre Arbeit anzunehmen, erreicht alle Beschäftigten, auch die mit «normaler» Stelle.

Die Ziele der AEV sind demnach ... Aber vielleicht ist es an dieser Stelle am einfachsten, ein Wort an dich zu richten, urbaner Mitmensch: Will die Idee eine Mehrheit gewinnen, so muss sie auch dich gewinnen. Also, beim Telefon: Da gab es einmal den Festnetzanschluss, bis alles mobil wurde: Mails, SMS und so weiter. Um den Durchblick zu bewahren, hast du dir letztes Jahr das iPhone gekauft. Da hast du jetzt alles in einem, und erst noch mit Extras und Eleganz.

Ähnlich verhält es sich auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt die Festanstellung. Aber die Arbeitsverhältnisse werden immer stärker flexibilisiert. Um die Sicherheit zu erhalten, soll es deshalb eine AEV geben. Auch hier gibt es alles in einem. Und, wie wir gleich sehen werden, mit Extras und Eleganz.

Das Modell

Die AEV ist eine obligatorische Versicherung, die alle eingangs aufgezählten Erwerbsrisiken versichert. Sie umfasst sämtliche Personen im erwerbsfähigen Alter, neu auch die vierzehn Prozent der Selbstständigerwerbenden. Bei einem vorübergehenden Erwerbsausfall richtet die AEV Taggelder in der Höhe von achtzig Prozent des letzten Lohnes aus. Wer nicht für Kinder aufkommen muss, erhält siebzig Prozent. Die Bezugsfrist der Taggelder ist zeitlich unbeschränkt. Bei dauerhaftem Erwerbsausfall werden Renten ausgerichtet.

Mit der Zusammenführung kann der administrative Aufwand um ein Fünftel reduziert werden. Vor allem aber werden die einzelnen Versicherungszweige nicht mehr gegeneinander ausgespielt: Zahlreiche Fälle werden heute zwischen den Institutionen hin und her geschoben. Die Menschen müssen jahrelang auf Versicherungsleistungen warten und sind in der Zwischenzeit auf Sozialhilfe angewiesen.

Zu den Extras (oder besser, zu den Lücken im System, die dringend geschlossen werden müssen): Heute gibt es keine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Wer nicht über seinen Arbeitsvertrag in eine kollektive Kasse eingebunden ist, sieht sich mit hohen Prämien konfrontiert. Muss man die Versicherung wechseln, so kann diese bestehende Risiken vom neuen Vertrag ausnehmen. Wer arbeitslos wird, verliert den Versicherungsschutz. Die AEV richtet auch bei Krankheit Taggelder aus und schliesst damit eine Armutsfalle.

Und auch Familienergänzungsleistungen werden eingeführt. Sie decken sowohl den Lebensbedarf der Eltern mit Kindern bis drei Jahren als auch jenen der Kinder bis sechzehn Jahre. Damit wird das «Armutsrisiko Kinder» gemildert. Auch der Wechsel von der Kinderbetreuung oder der Weiterbildung in die Erwerbsarbeit wird erleichtert.

Die Sozialhilfe kommt nur noch subsidiär zum Einsatz, wenn das Existenzminimum durch Taggelder und Ergänzungsleistungen nicht gedeckt ist. Deshalb auch die unbeschränkte Laufzeit der Taggelder. Die Ausgesteuerten machen heute zwanzig Prozent der SozialhilfebezügerInnen aus. Obwohl sie meist innert Jahresfrist wieder einen Job finden. Die Kriterien der Sozialhilfe werden im neuen Modell schweizweit einheitlich festgelegt.

Die Finanzierung

Die Ausgaben für die Altersvorsorge betragen siebzig Milliarden Franken, jene für die Gesundheit knapp dreissig Milliarden, jene für die Erwerbsversicherung - verstreut - ebenfalls knapp dreissig Milliarden Franken. Letztere werden mit der Allgemeinen Erwerbsversicherung in einem einheitlichen Block gebündelt. Damit lässt sich die AEV, so hat es das Denknetz berechnet, kostenneutral finanzieren. Die Mehrausgaben und die Mehreinnahmen gleichen sich aus.

Zu den Ausgaben: Die staatlichen Mehrkosten für die Leistungsverbesserungen liegen bei 2660 Millionen Franken. An anderen Orten spart der Staat wiederum 1830 Millionen. Dies dank Effizienzgewinnen und weil die Sozialhilfe wesentlich entlastet wird, wenn die vorgelagerte Versicherung besser ausgebaut ist. Insgesamt steigen die Ausgaben also um 830 Millionen.

Die heutigen Versicherungszweige werden aus Steuermitteln, aber auch mit Lohnprozenten finanziert. Zu den Einnahmen: Bei der AEV sollen diese für die Beschäftigten und die Unternehmen einheitlich 3,71 Prozent betragen. Die Beiträge der Beschäftigten sinken damit leicht. Weil die Abgabe neu auf alle Lohnanteile erhoben wird, kommt es zu Mehreinnahmen von 900 Millionen Franken. Unter dem Strich ist die AEV damit solide finanziert.

«Die Individuen sind verpflichtet, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu leisten, damit sich die Gesellschaft entwickeln kann», schreibt das Denknetz abschliessend. Die gesellschaftlichen Verhältnisse wiederum müssten so gestaltet werden, dass allen Individuen anständige Arbeit ermöglicht wird. «Decent Work» heisst der Begriff der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hierzu: Niemand darf zu schlecht bezahlter oder demütigender Arbeit verpflichtet werden, auch die Organisationsfreiheit muss gewährleistet sein.

Der Vorschlag einer AEV träumt nicht von einer Gesellschaft, die sich losgelöst von der Arbeitsstelle definiert. Aber der Vorschlag des Denknetzes ist ein wichtiger Schritt weg von diskriminierender Arbeit und hin zu wirkungsvollen Sozialwerken, vielleicht auch ein Schritt in die Utopie.

Übrigens könnte der Vorschlag auch die Chefs interessieren: Welcher Betrieb braucht denn heute keinen Anwalt, um sich im Sozialversicherungsdickicht zurechtzufinden?


RUTH GURNY, BEAT RINGGER: «Die grosse Reform». Die Schaffung einer allgemeinen Erwerbsversicherung AEV. Edition 8. Zürich 2009. 152 Seiten. 26 Franken.

«Das Dogma der Ich-AG ist desavouiert»

WOZ: Ruth Gurny, das Denknetz hat achtzehn Monate am nun vorliegenden Modell einer AEV gearbeitet. Welches waren dabei die überraschendsten Einsichten?

Ruth Gurny: Am meisten hat uns überrascht, dass die AEV mit all ihren wichtigen Leistungsverbesserungen unter dem Strich quasi kostenneutral realisiert werden kann. Die Mehrausgaben und die Mehrerträge halten sich die Waage. Das haben wir am Anfang nicht zu hoffen gewagt.

Liest man sich durch euer Buch, so erscheint die AEV kollektiv erarbeitet und breit abgestützt. Gab es auch Widersprüche unter den Autorinnen und Autoren?

Klar gab es die! Wir mussten uns immer wieder darüber klar werden, dass eine Neukonzeption des Sozialversicherungssystems noch keine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus darstellt und mit den Sozialversicherungen nicht alle negativen Folgen dieses Wirtschaftssystems abgefedert werden können. Die AEV macht den Kampf um gerechte Löhne und den Kampf um Gleichheit zwischen den Geschlechtern nicht überflüssig. Aber die Grundidee war unbestritten.

Und die hiess?

Dem anhaltenden Druck auf die sozialen Sicherungssysteme entgegentreten und das Heft des Handelns wieder zurückgewinnen. Das heutige Sozialversicherungssystem ist löchrig, widersprüchlich und ungerecht. Es führt auch dazu, dass die Versichertengruppen gegeneinander ausgespielt werden, zum Beispiel die IV-BezügerInnen gegen die Arbeitslosen. Die Entsolidarisierung der Betroffenen passt halt in die neoliberale Landschaft.

Wie soll die AEV umgesetzt werden - mit parlamentarischen Vorstössen, mit einer Volksinitiative?

Beides ist möglich. Wir haben jetzt das Modell erarbeitet und lancieren die Diskussion. Dann erst folgt die Umsetzung.

Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht fortschrittlicher?

Natürlich gibt es gewisse Berührungspunkte der AEV mit dem bedingungslosen Grundeinkommen: Beide Ansätze bekämpfen den Druck zur Unterwerfung unter jedwelches Arbeitsregime. Was uns aber beim Grundeinkommen nicht überzeugt, ist die Tatsache, dass man damit die Arbeitswelt sozusagen aufgibt und die Leute einfach abspeist mit einem wahrscheinlich sehr tiefen Grundeinkommen.

Was bringt die Allgemeine Erwerbsversicherung bezüglich weiterer Schwachstellen der Sozialpolitik, etwa der Care Economy, also der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit?

Hier bringt die AEV mit den Ergänzungsleistungen für Familien besonders alleinerziehenden Frauen etwas, die ja dem grössten Verarmungsrisiko ausgesetzt sind. Damit lösen wir erst mal die dringendsten Probleme in Zusammenhang mit der unbezahlten Haus- und Pflegearbeit.

Besteht nicht die Gefahr, dass diese Verbesserungen in der Diskussion gestrichen werden und die AEV nur wegen der verbesserten Administration eingeführt wird?

Das halte ich nicht für ein realistisches Szenario. Entweder man anerkennt, dass alle Risiken des Erwerbsausfalls unter ein Dach gestellt werden müssen, weil das vernünftig ist, oder man lässt es bleiben.

Sie lancieren die «grosse Reform», wie Ihr Buch heisst, mitten in der grössten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Eine Chance oder ein Risiko?

Das ist ganz klar eine Chance! Die Allgemeine Erwerbsversicherung ist ja eigentlich auch ein Konjunkturprogramm für die kleinen Leute. Dazu kommt noch, dass miitlerweile auch dem neoliberalsten Banker klar geworden sein muss, dass das Dogma der Selbstverantwortung und der Forderung, jeder und jede müsse sich halt als Ich-AG begreifen, endgültig desavouiert ist.

Ruth Gurny (60) ist Soziologin. Sie leitete bis Ende 2008 den Forschungsbereich des Departements Soziale Arbeit an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Von 1994 bis 2004 war sie als SP-Vertreterin im Zürcher Kantonsrat. Seit kurzem ist sie Präsidentin des Denknetzes Schweiz.