Bauernfussball: Ausflüge in die Unschuld

Nr. 25 –

Der St. Galler Kolumnist Daniel Kehl begleitete aufgrund einer verlorenen Wette den FC St. Gallen ein Jahr lang bei dessen Ausflügen in die unterklassige Provinz. Ein halbwegs wehmütiger Abschied.


In meinem Kinderzimmer hing Anfang der siebziger Jahre ein Mannschaftsfoto des FC La Chaux-de-Fonds. Wie wurde ich zum Fan der Bergler? Wegen Daniel Jeandupeux’ langer Haare oder wegen der Sentimentalität meines Vaters, der als Pöstler ein Jahr lang im Jura gearbeitet hatte? Was ich wohl spürte: Der traditionsreiche FC La Chaux-de-Fonds strahlte damals noch immer grossen Stolz aus, die zahlreichen Meistertitel und Cupsiege der Gelbblauen lagen nur ein knappes Jahrzehnt zurück, und als Kind war für mich klar, dass in der Westschweiz der elegantere Fussball gespielt wurde als in St. Gallen.

Die Vorfreude auf das Gastspiel des FCSG auf der Charrière auf meiner Tour durch die Stadien der Challenge League war entsprechend gross, die Ernüchterung am Spieltag ebenso: In La Chaux-de-Fonds räumte niemand den Schnee vom Feld, das Leichtathletikstadion in Colombier unten am Neuenburgersee wurde als Ersatz nicht bewilligt, und so sahen wir uns schliesslich auf der zu 93 Prozent leeren Neuenburger Maladière fast ein Geisterspiel an. Von den 708 ZuschauerInnen kamen gut 500 aus St. Gallen, der Rest waren Angehörige und FreundInnen der Chaux-de-Fonds-Spieler. Die Eltern des 18-jährigen Ermin Alic hielten mit der Videokamera jede Bewegung des Sohnes fest. Auf dessen Trikot war der Name des Vorgängers nur flüchtig mit Klebband überdeckt worden. Was die Episode beweist: Ein Ausflug in die Challenge League ist wohl nur ein Jahr lang lustig. Dort begegnen sich Fussballwelten, die einst ebenbürtig waren, heute aber sportlich und finanziell nichts mehr miteinander zu tun haben. Der FC St. Gallen hat sich seit 1970 immer mehr zum sportlichen Aushängeschild der Ostschweiz entwickelt und dabei alle anderen Vereine der Region überrollt. Der FC La Chaux-de-Fonds ging genau den umgekehrten Weg, jenen in die Bedeutungslosigkeit.

Gern gesehene Gäste

Wir wurden als Gäste in der Provinz meist äusserst generös und freundlich empfangen, anders als in der Super League. Die Klubverantwortlichen von Stade Nyonnais fragten die St. Galler Fanvertreter an, ob sie Interesse an einer Stadtführung mit Weissweindegustation und anschliessender Besichtigung des Uefa-Hauptsitzes hätten. Der Fandachverband 1879 bedankte sich herzlich, gab aber zu bedenken, dass das Programm für 500 Personen wohl nicht ganz geeignet sei.

Nach Jahren der Zerknirschung und der Demütigungen waren selbst eingefleischte Fussballfans Ende letzter Saison nicht unglücklich über den Abstieg des FCSG. In der Ruhe der Provinz sollte sich der Klub sportlich erholen und nach einem Jahr gestärkt ins A zurückkehren. Seltsam daran war nur, dass alle anderen Vereine der Liga dieses Drehbuch auch verinnerlicht hatten und uns ehrfürchtig empfingen, als wären wir das Barcelona der Challenge League. Eine verkehrte Welt: Spielte Grün-Weiss früher beim FCB, so wurden wir mit gebastelten Kühen und Bauernchoreographien («Fühlt euch wie zu Hause!») begrüsst; machte die grün-weisse Fankarawane dagegen nun in der Provinz der Challenge League Station, so rieb sich der Klubkassier freudig die Hände, in der Buvette wurden eilig die Biervorräte aufgefüllt und vor dem Eingang ein zweites Kassahäuschen geöffnet. Volksfest! Die lautstarken Fans aus der Ostschweiz vertrieben die Stille aus den nostalgischen Stadien, weckten bei den letzten unbeugsamen einheimischen Pensionären Erinnerungen an früher und reizten das spärliche Publikum auf der gegnerischen Haupttribüne zu lange ungehörtem Support!

Halbschuh-Pleiteliga

Doch uns allen wurde auch bewusst: Hätte der FCSG seine Saison verpatzt, so hätte sich die St. Galler Sportöffentlichkeit, oder zumindest das Partyvolk auf den Rängen, wohl spätestens im dritten Jahr der Zweitklassigkeit vom Verliererklub FCSG abgewandt - hin zu einem erfreulicheren, modischeren Hobby. Denn die wahre Erkenntnis nach einem Jahr zweite Liga geht über Fanfolklore und Bruchbudenromantik hinaus: In der Challenge League spielen die Verlierer, die niemand sehen will. Die Dosenbach-«Halbschuhliga», wie sie von Fans scherzhaft treffend betitelt wurde, zeigt die Kehrseite des Hochglanzfussballs. Das angeschlagene Servette im immer noch faszinierenden Weinrot im gähnend leeren Stade de Genève verlieren zu sehen, schmerzt selbst das Herz gegnerischer Fussballgeniesser. Wehe dem, der in der B-Liga landet und dort nicht mehr herausfindet! Doch ganz gefeit ist die zweite Liga nicht vor den Problemen der «Grossen»: Auf die ungemütlichen Schlägertypen in Schwarz-Weiss, die im Bahnhof Lugano Steine und brennende Fackeln durch die geöffneten Fenster in den Extrazug schleuderten, hätte ich ohne Bedauern verzichten können. Wäre das bei einem Super-League-Spiel passiert, hätten es diese Bilder wohl auf die Titelseite des «Blicks» geschafft, so war das Ereignis keiner grossen Zeitung eine Zeile wert.

Woodstockatmosphäre

Trotzdem gibt es vor allem Erfreuliches zu berichten über die Ausflüge ins Niemandsland des Fussballs. Fünfzehn Spiele lang lernte ich neue Menschen kennen, verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Das mag mir den Vorwurf der Sozialromantik eintragen, doch dahinter steckt mehr: Ich glaube nun besser zu verstehen, was oft mehr als tausend Menschen jedes zweite Wochenende von St. Gallen aufbrechen liess zu einer Reise quer durch die Schweiz. Die reinen Liebhaber des Ballsports waren dabei klar in der Minderheit. Für den Rest war es ein grün-weisses Happening: Ein Lehrling aus meiner Berufsschulklasse, den ich bei jedem Auswärtsmatch traf, sagte mir, er hasse die Winterpause und sei scharf auf die Frühlingsspiele. Er meinte wohl das Gruppenerlebnis, den ritualisierten Support, die Einführung in Männerwelten.

Was bleibt von den Eindrücken, was wird es so in der nächsten Saison definitiv nicht mehr geben? Wasserduschen während des Hitzematchs, die dank grosszügiger Hilfe der Locarneser Wasserwerke vom Spielfeldrand her über die Fankurve niedergehen. Den Sack mit Bierbüchsen, der in Yverdon an einem Ast über der Mauer des Stade Municipal hängt und darauf wartet, dass er gepflückt wird. Und natürlich der wegen Baufälligkeit gesperrte Tribünenabschnitt in Biel. Die provisorischen Zäune auf dem Rankhof, die nur mit Plastikbändern festgemacht waren und die unter dem Aufstiegsjubel der Fans einknickten wie Schilfrohr. Ganz sicher Nyons Blumenwiesen und seine friedliche Woodstockatmosphäre. All das machte meine Fussballausflüge reizvoll und exotisch. Für das Geschäft mit dem Fussball sind diese Mängel tödlich. Aber nun dürfen wir ja wieder bei den Grossen mitspielen und verändern über die Sommerpause unsere Identität. Wir geben ab August im Super-League-Fussballtheater wieder den sympathischen Aussenseiter, der verbissen und unerschrocken gegen den Abstieg kämpft.

Daniel Kehl (47) verpflichtete sich während der Barragespiele 2008, entweder zu Fuss nach Genf zu laufen (im Fall des Liga-Erhalts) oder in der B-Liga-Saison 2008/09 alle Auswärtsspiele des FC St. Gallen zu besuchen.

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