Lebenslanges Lernen: «Ich kann nicht mehr ...»

Nr. 25 –

Die Botschaft der Weiterbildung ist doppeldeutig: Den Lernwilligen verspricht sie Karriere, den Weiterbildungsskeptischen droht sie mit Arbeitslosigkeit.


WOZ: Es ist das Mantra aller Bildungsinstitutionen und ihrer Werbebotschaften: Wer sich weiterbildet, hat Erfolg. Stimmt das tatsächlich?

Daniela Holzer: Eben nicht! Auch wenn das die ursprüngliche Hoffnung war, als die Idee des lebenslangen Lernens in den siebziger Jahren aufkam: Man wollte durch Weiterbildung Anschlussmöglichkeiten für benachteiligte Gruppen schaffen. Doch es hat sich sehr schnell gezeigt, dass Weiterbildung Benachteiligungen nicht kompensieren kann. Das belegen zahlreiche Untersuchungen. Trotzdem wird medial und politisch immer noch vermittelt: Du kannst durch Weiterbildung den beruflichen Ein- und Aufstieg schaffen!

Was sind die Konsequenzen?

Die Marginalisierung der typischen Benachteiligten - wie Frauen, Migranten, Ältere und Geringqualifizierte - wird durch das Diktat des lebenslangen Lernens keinesfalls kompensiert, sondern eher noch verschärft. Die allermeisten Studien zeigen: Menschen, die bereits eine gute Grundausbildung und eine gute berufliche Position haben, bilden sich besonders häufig weiter. Und das sind genau diejenigen, die auch besonders gefördert werden von Unternehmen. Insbesondere Männer werden weit häufiger durch Weiterbildung gefördert als Frauen. Die Tendenz ist klar und deutlich: Wer schon hat, der kriegt noch mehr. Gleichzeitig werden die am unteren Rand immer mehr ausgeschlossen. Die Weiterbildung trägt dazu bei, diese Schere noch weiter zu öffnen.

Das tönt ja, als wäre die Doktrin des lebenslangen Lernens stark im neoliberalen Denken verwurzelt ...

Genau das ist der Fall! Die grosse Änderung hat in den achtziger Jahren stattgefunden: Plötzlich ging es darum, sich weiterbilden zu müssen. Das Weissbuch der EU hat Anfang der neunziger Jahre dann wirtschaftliche Entwicklung in einen eindeutigen, direkten Zusammenhang mit lebenslangem Lernen gestellt. Und hier setze ich als Bildungswissenschaftlerin auch meine Kritik an: Der Bezug lautet immer gleich. Gelernt wird, um beruflich erfolgreich zu sein; gelernt werden soll, weil der Markt das erfordert. Es dreht sich immer um die gleichen stereotypen Schlagworte wie «Standortwettbewerb», «Globalisierung», «Arbeitsplätze erhalten». Eine Botschaft, die sich mit den steigenden Arbeitslosenzahlen besonders gut rüberbringen lässt: «Wenn du bereit bist, dich weiterzubilden, dann wirst du den Einstieg schaffen.»

Und stimmt das denn?

Es stimmt vielleicht für einige wenige, aber de facto ist es so, dass es - selbst wenn wir uns alle weiterbilden würden - trotzdem nicht mehr Arbeitsplätze gibt. Das Diktat des lebenslangen Lernens ist also in jedem Fall im Zusammenhang mit der neoliberalen Doktrin zu sehen. Das wird vor allem mit dem Begriff der «Human Resources», dem Humankapital, deutlich, der ja ebenfalls aus dieser Zeit und diesem Kontext stammt. Höhere Gewinne lassen sich nicht länger durch eine Ausweitung der Märkte oder über Mechanisierungen erwirtschaften, die Rationalisierungsmöglichkeiten sind begrenzt. Aber was man noch ausschöpfen kann, ist der Mensch als Ganzes. Böse gesagt wird aus den Menschen noch das Letzte herausgesaugt: Sie sollen ihre ganzen Kompetenzen und ihr ganzes Wissen in den Beruf einbringen.

Wer überhaupt noch auf dem Arbeitsmarkt bestehen will, braucht also immer mehr Zusatzqualifikationen und Weiterbildungszertifikate?

Genau darum geht es im Kontext der Human Resources: Zertifikate zu sammeln, um nachzuweisen, was man alles kann. Dieser Nachweis wird immer stärker verlangt. Dabei vermögen all die Zertifikate die Kompetenzen von Menschen gar nicht wirklich zu fassen, denn Kompetenzen lassen sich kaum messen. Letztlich geht es dem Markt und dem Kapital vor allem darum, sich die Menschen leistungswillig zu halten. Diejenigen, die noch im Arbeitsprozess sind, müssen zu hundert Prozent ihren Einsatz und ihre Aufopferungsbereitschaft für den Betrieb zeigen. Die Weiterbildung und das lebenslange Lernen sind ein Teil davon. So nach dem Motto: Ich bin lernbereit, ich bin bereit, mich an betriebliche Marktbedürfnisse anzupassen. Hier bekommt der Begriff der Anpassung noch einmal eine neue Relevanz, weil nur jene Kompetenzen gefragt sind, die auch passen. Das heisst, ich muss mich einpassen in das System und genau das anzubieten suchen, was der Markt nachfragt.

Und wenn jemand dem Diktat des lebenslangen Lernens nicht nachkommen kann oder will?

Wer seine Weiterbildungswilligkeit nicht nachweist, läuft Gefahr, ausgeschlossen zu werden. Das wird so natürlich nicht offensichtlich gemacht. Es ist eher selten, dass jemand seinen Arbeitsplatz verliert, weil er sich geweigert hat, eine Weiterbildung zu machen. Implizit funktionierts aber schon so: Wenns drauf ankommt, sind solche Personen oft die Ersten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Ausserdem kommt hinzu, dass unabhängig vom Arbeitsmarkt auch das gesellschaftliche Klima in die Richtung geht: «Wenn du dich nicht mal mehr weiterbildest, wer bist du dann eigentlich noch, bist du es noch wert, an der Gesellschaft teilzunehmen?» Da kommen auch gesellschaftliche Ausschlusskriterien zum Tragen.

Wie gehen die Menschen mit diesem Zwang zur Weiterbildung um?

In Interviews stösst man häufig auf Aussagen wie: «Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.» Viele Menschen haben bereits viel in die Weiterbildung investiert, ohne dass sich je ein Erfolg eingestellt hätte. Und die sagen sich dann irgendwann: «Wieso sollte ich noch einmal?» Zumal überhaupt nicht gesichert ist, dass man mit Weiterbildung beruflich aufsteigen oder mehr verdienen kann. Das zeigen die Daten deutlich: In den seltensten Fällen führt Weiterbildung zu Aufstiegsmöglichkeiten, zu einer Karriere. Grundsätzlich erreicht man mit Weiterbildung vor allem, den eigenen Status auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten. Es besteht nicht einmal die Garantie, dass dadurch der eigene Arbeitsplatz längerfristig gesichert wird.

Gibt es auch Widerstand gegen die Doktrin des lebenslangen Lernens?

Es gibt durchaus Menschen, die nicht einfach der Weiterbildung nachhecheln, sondern sich ganz bewusst dagegen entscheiden. Zum Beispiel, weil sie eine persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung gemacht haben. Dazu gehören Fragen wie: «Was bringts mir? Welchen Aufwand habe ich?» Die Kosten sind also keinesfalls nur finanzieller Art. Es geht auch um den emotionalen Aufwand, um Freizeit, die aufgebraucht wird, um fehlende Zeit für Familie, Freunde, Hobbys. Viele Menschen kommen nach einer solchen Abwägung zum Schluss, dass der Nutzen einer Weiterbildung zu diesen Kosten in keinem Verhältnis steht. Das hat vor kurzem auch eine Studie aus der Schweiz gezeigt: Die Menschen sind nicht länger bereit, sich um jeden Preis weiterbilden zu lassen.

Wer sich einer Weiterbildung verweigert, tut dies also aus durchaus rationalen Gründen ...

Oft geht es weniger um eine aktive Verweigerungshaltung als um eine Mischung aus verschiedenen Gründen, zu denen auch konkrete Barrieren gehören: keine passenden Weiterbildungsangebote in der Umgebung, familiäre Verpflichtungen, finanzielle Ressourcen. Gerade bei Frauen hat sich auch gezeigt, dass sie sich weniger weiterbilden, wenn sie in einer Partnerschaft mit einer traditionellen Rollenteilung leben. Bei vielen Menschen sind überdies auch Ängste vorhanden - Ängste etwa, die in der Schule produziert worden sind, oder überhaupt die Angst, sich wieder in eine Lernsituation zu begeben. Da sind sehr viele ungute Gefühle vorhanden.

Wären solche Menschen zu einer Weiterbildung bereit, wenn die Voraussetzungen andere wären?

Ich persönlich bin davon überzeugt, dass man Benachteiligte unbedingt unterstützen sollte, dass man Barrieren abbaut, damit sie an einer Weiterbildung teilnehmen können. Und zwar im ganzen Weiterbildungsspektrum, also auch im allgemeinen und im politischen Bereich. Mein Credo ist aber auch, dass man akzeptieren muss, wenn sich Menschen nicht weiterbilden wollen. Denn es geht nicht generell darum, dass sie sich nicht weiterentwickeln, dass sie nicht lernen wollten. Sie wollen sich einfach nicht unter dem Diktat vom lebenslangen Lernen für Beruf und Markt weiterbilden. Und sie haben gute Gründe, zu sagen, dass sie zumindest diese Weiterbildung nicht wollen. Denn sie lernen ja durchaus - es geht aber um andere Inhalte, und es geht auch um andere Bedingungen des Lernens, wo der Druck wegfällt.


Daniela Holzer

Daniela Holzer arbeitet am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft der Universität Graz. Sie lehrt und forscht zu lebenslangem Lernen, Weiterbildung und Bildungswiderstand im gesellschaftlichen Kontext.