Meeresspiegelanstieg: «Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren»

Nr. 26 –

Der aktuelle Klimabericht der Uno ist bereits überholt, sagt der Paläoklimatologe Stefan Rahmstorf. Denn das Eis schmilzt immer schneller.


Vor der Küste der antarktischen Halbinsel bricht derzeit das Wilkins-Eisschelf auseinander. Ein natürlicher Vorgang oder Vorbote des Klimawandels?

Stefan Rahmstorf: Dort sind in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe Schelfeisflächen zerborsten. Am spektakulärsten war das Larsen-B-Eisschelf im Februar 2002. Sedimentsbohrungen zeigen, dass diese Eisschelfe mindestens seit der letzten Eiszeit existieren. Es handelt sich also nicht um natürliche Schwankungen, sondern um eine Folge der globalen Erwärmung, die auch vor der Antarktis nicht haltmacht. Es ist ein Warnsignal. Die grossen Gletscher, die das Kontinentaleis ins Meer tragen, fliessen nach dem Wegbrechen des vorgelagerten Schelfs schneller, wodurch der Meeresspiegel steigt.

Sie waren letztes Jahr Mitglied der sogenannten Delta-Kommission, die die niederländische Regierung beraten hat. Mit welchem Anstieg des mittleren Meeresspiegels müssen Küstenschützer dort rechnen?

Die Regierung wollte von uns eine sogenannte High-End-Abschätzung, nicht den «worst case», aber doch ein Szenario mit pessimistischen Annahmen, damit die Deiche auch dann halten. Die Delta-Kommission kam für das Jahr 2100 auf einen globalen Anstieg von 55 bis 110 Zentimetern und für das Jahr 2200 auf 150 bis 350 Zentimeter. Danach hört der Anstieg nicht etwa auf. Der Meeresspiegel reagiert nur sehr langsam auf die globalen Veränderungen und wird daher noch viele Jahrhunderte ansteigen. Auch wenn wir die Temperatur stabilisieren, was ich sehr hoffe.

Welche Annahmen stecken in diesem Szenario?

Das eine ist die thermische Ausdehnung des Wassers, und hier war sich die Kommission mit dem IPCC einig (vgl. «Das IPCC» weiter unten). Hinzu kommt aber noch Schmelzwasser vom Kontinentaleis, vor allem der Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis. Das Verhalten des Eises war ein Grund, weshalb die niederländische Regierung die Kommission eingerichtet hatte, denn die Behandlung dieses Themas im letzten IPCC-Bericht wird in Fachkreisen als überholt angesehen. Der Bericht ging davon aus, dass der Meeresspiegel bis 2100 zwischen 18 und 59 Zentimeter ansteigen wird - zuzüglich eines Beitrags durch Abrutschen von Kontinentaleis, der als nicht berechenbar galt. Für den Küstenschutz ist das unbefriedigend - zumal wir, wie oben erwähnt, bereits allenthalben beobachten, dass das Eis immer schneller fliesst.

Das Meer steigt also schneller, als vom IPCC angenommen?

In den für 2100 projektierten Zahlen des IPCC hebt sich der Beitrag der Eismassen auf Grönland und in der Antarktis gegenseitig auf. Der IPCC geht davon aus, dass der Eisverlust auf Grönland durch vermehrten Schneefall in der Antarktis kompensiert wird, dass also der Eisschild dort wächst. Das ist jedoch unrealistisch. Schon heute zeigen Satellitendaten, dass die Antarktis an Masse verliert, und dieser Trend wird sich wahrscheinlich fortsetzen. Das entspräche auch meiner Erfahrung als Paläoklimatologe und meinen Erkenntnissen bei den Klimaveränderungen in der Erdgeschichte. In der Vergangenheit sind in warmen Klimaten die Kontinentaleismassen wesentlich kleiner und der Meeresspiegel um bis zu 70 Meter höher als heute gewesen, und in kalten Klimaten waren die Eismassen wesentlich grösser und der Meeresspiegel zum Beispiel während der letzten Eiszeit um bis zu 120 Meter niedriger.

Wie real ist die Gefahr, dass sich der westantarktische Eisschild plötzlich auflöst?

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist bekannt, dass es eine physikalisch begründete Instabilität gibt, weil das Eis unter dem Meeresspiegel gründet. Vereinfacht ausgedrückt dringt das Meerwasser unter das Eis vor, wenn dieses schmilzt, was eine Art Teufelskreis in Gang setzt, der den Schild destabilisiert. Wie hoch dass Risiko ist, dass wir das noch in diesem Jahrhundert auslösen, und wie schnell die Auflösung dann gehen würde, kann heute keiner mit Sicherheit sagen. Aber angesichts der gravierenden Folgen sollten wir auf jeden Fall versuchen, solche noch nicht voll verstandenen Risiken zu minimieren, indem wir die globale Erwärmung auf maximal zwei Grad Celsius begrenzen. Das ist das Vorsorgeprinzip.

Wie dringend ist das Problem?

Wir haben einfach keine Zeit mehr zu verlieren. Wenn wir dieses Ziel noch erreichen wollen, müssen die globalen Treibhausgasemissionen innerhalb von etwa fünf Jahren ihr Maximum erreichen, danach stark abfallen und zur Mitte des Jahrhunderts um achtzig Prozent gesunken sein. Wenn wir hingegen noch einmal zehn Jahre warten, ob die Wissenschaft dann vielleicht die Risiken besser quantifizieren kann, dann wird es zu spät sein für eine Begrenzung der Erwärmung auf zwei Grad. Man kann Banken mit einigen Hundert Milliarden Euro retten, aber der Meeresspiegelanstieg wird sich selbst mit Billionen Euro nicht anhalten lassen.



Stefan Rahmstorf forscht am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und lehrt an der Universität Potsdam Physik der Ozeane. Er ist Mitglied des von der deutschen Bundesregierung eingerichteten Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen und war einer der AutorInnen des letzten IPCC-Berichts. Gemeinsam mit der in Kopenhagen lehrenden Meeresbiologin Katherine Richardson hat er 2007 das Buch «Wie bedroht sind die Ozeane?» veröffentlicht.

Das IPCC

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist ein vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP und der Weltmeteorologieorganisation WMO eingesetztes Gremium, in dem mehrere Tausend WissenschaftlerInnen alle paar Jahre den jeweiligen globalen Kenntnisstand zusammenfassen.

www.ipcc.ch