«Gott schütze Amerika»: Die Viecher hinter den Mainstreamkulissen

Nr. 33 –

Der Brite Warren Ellis, einer der wildesten ComicautorInnen der Gegenwart, hat einen durchgeknallten Roman geschrieben. Er erweist sich dabei als brillanter Pathologe der Popkultur.


Es war 1997, und die Comicindustrie lag darnieder: Marvel Comics, Erfinder von «Spider-Man», «Unglaublicher Hulk», «X-Men» und weltweit das grösste Verlagshaus der Branche, hatte sich selber in ein Konkursverfahren manövriert. Es war das Ende des sogenannten Bronzenen Zeitalters, einer Ära, in der sich die Comicindustrie, geblendet von Rekordzahlen, weniger dafür interessierte, gute Geschichten zu erzählen, und mehr dafür, jedes Heft mit siebzehn verschiedenen Covers auf den Markt zu werfen, um so den Sammelwert zu erhöhen.

Es war die Zeit, in der Comics zu Recht als künstlerisch wertloses, pubertäres Medium galten. Und es war ausgerechnet zu jener Zeit, als europäische Autoren und Zeichnerinnen in den damals komplett US-amerikanisch dominierten Markt strömten und Experimente wagten, die bis dahin undenkbar gewesen waren und die Welt der Comics umkrempelten: Einer von ihnen war der wenig bekannte Brite Warren Ellis, der mit «Transmetropolitan» – derzeit leider nur noch in Restposten auf Deutsch erhältlich – eine der durchgeknalltesten und temporeichsten Science-Fiction-Serien erschuf.

Stuhlbein der Wahrheit

Die Geschichte handelt von Spider Jerusalem, einem – verdächtig nahe an Hunter S. Thompson angelehnten – drogensüchtigen, waffenfetischistischen und generell liebevoll-bösartig veranlagten Journalisten, der in einer amerikanischen Grossstadt der Zukunft den amerikanischen Präsidenten zu Fall bringt – bewaffnet nur (abgesehen vom «Stuhlbein der Wahrheit» und einer Darmentleerungspistole) mit jenem Instrument, das in einer Zeit der globalisierten und kurzlebigen Gratismedien kein anderer Journalist mehr beherrscht – der Wahrheit: «Wenn irgendjemandem in diesem Scheissloch von Stadt die Wahrheit auch nur zweimal Zupfen am Schwanz eines toten Hundes wert wäre, würde all das nicht geschehen.»

Dass die Serie fünf Jahre überleben würde, hätte damals niemand geglaubt. Am allerwenigsten Ellis selber, der das Werk mit eigenem Geld finanzierte: «Wir sind verloren! Dies sind die Endzeiten! Das schwarze Eichhörnchen wurde in Luton gesichtet!», wird er im Vorwort zum ersten Sammelband zitiert. «Transmetropolitan» packte all die Dinge in einen Comic, die in der Branche bisher als Tabu gegolten hatten: Drogen, Sex, Politik – weite Teile der Handlung entstanden parallel zu George W. Bushs erstem Wahlkampf und -betrug, mit erstaunlich präzisen und entsprechend bösartigen Abbildern und Zitaten. Und mit Gewalt: aber nicht der konsequenzlosen «Zing, pow, boom»-Gewalt, die man aus Comics gewohnt ist, wo an der Schwelle zum Jenseits Drehtüren eingebaut sind und der Bösewicht, selbst wenn der Held ihm den Kopf mit einem Breitschwert abgehackt hat, spätestens fünfzehn Hefte später wieder aufersteht – nein, mit echter, brutaler Gewalt in einer Welt, die nicht einfach nur schwarz-weiss gemalt ist, sondern unter die Haut geht und Angst macht.

Die Serie katapultierte Ellis zu Starweihen. Ab diesem Zeitpunkt schien es, als würde alles, was seine Feder berührt, zu Gold werden, auch oder gerade weil er seinen Fetischen immer treu geblieben ist: Ellis ist ein Pathologe der Popkultur, der es als Lebenswerk versteht, die Kulissen der Mainstreamkultur niederzureissen und nachzuschauen, welche dreckigen Viecher ihre Fratzen dahinter verstecken: Am Schönsten verkörpert dies wohl sein anderes Meisterwerk, «The Authority», das die Frage aufwirft, was denn geschehen würde, wenn sich eine Gruppe dieser Übermenschen (an deren Spitze eine Persiflage auf Batman und Superman als schwules Paar steht) mit monströsen Kräften aufmachen würde, die Welt wirklich zu verändern – und zum Beispiel die russischen Panzer aus Tschetschenien trüge. Von Hand.

Ellis’ Talent blieb auch ausserhalb der Industrie nicht unbemerkt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Frage stellen würde, ob dieser Mann denn auch «richtige» Bücher schreiben könne. Er selber verneinte die Frage lange: Noch vor zwei Jahren antwortete er einem Interviewer, er hätte keinen Grund, Romane zu schreiben, schliesslich habe er eine Familie zu ernähren und sehe nicht ein, weshalb er sich mit brotloser Kunst in den zwangsläufigen Selbstmord treiben lassen solle. Das glaubt man ihm sofort: Immerhin produziert er gleichzeitig regelmässige Serien für drei amerikanische Verlage, macht Webcomics, die gratis auf dem Netz erhältlich sind, schreibt eine Kolumne für Reuters über Second Life und betreibt einen Blog, den er mehrfach täglich aktualisiert. Man fragt sich, wann der Mann schläft.

«Undruckbarstes Stück Scheisse»

Schuld daran, dass nun sein Erstling «Gott schütze Amerika» erschienen ist, ist Gerüchten zufolge nur seine Agentin: Diese habe ihm so lange in den Ohren gelegen, bis er ihr das «undruckbarste, dreckigste Stück Scheisse», eine Kurzgeschichte auf zwanzig Seiten, zuschickte, in der Hoffnung, sie damit für immer ruhig zu stellen. Diese Kurzgeschichte bildet, fast unverändert, das erste Kapitel von «Gott schütze Amerika».

Die Geschichte handelt von Mike McGill, dem erfolglosesten Privatdetektiv Amerikas – erfolglos nicht etwa aufgrund mangelnder Fähigkeiten, sondern vielmehr aufgrund seines Talents, ein «Pechmagnet» zu sein. Sein erster und einziger Auftrag als Privatdetektiv endet mit tantrischem Sex auf der Straussenfarm, und sein vergammeltes Büro, das ihm gleichzeitig auch als Wohnung dient, teilt er sich mit einer mutierten Ratte, welche sich einen Spass daraus macht, ihm in die Kaffeetasse zu pinkeln oder mit liegen gebliebenen Sandwiches zu kopulieren.

Ausgerechnet dieser Mike McGill wird vom Stabschef des US-Präsidenten, einem heroinsüchtigen alten Mann, aufgesucht, dessen Hobby es ist, sich in teuren Hotels Affenkot in die Venen zu spritzen, nackt durch die Lobby zu tanzen und dabei zu singen: «Ich bin der mächtigste Mann Amerikas! Ich verfüge über Atombomben!» Der Auftrag, den er McGill übergibt: Die wahre, verloren gegangene Verfassung der Vereinigten Staaten wiederzufinden – ein geheimes Dokument, gebunden mit der Haut eines Ausserirdischen, der Gründervater Benjamin Franklin entführt und in seinem Ufo mit Rektaluntersuchungen gefoltert hatte.

Ejakulationen und Riesensteaks

Wer glaubt, skurriler könne die Handlung nicht mehr werden, hat weit gefehlt. Warren Ellis führt seine ProtagonistInnen – getreu seiner Arbeit in den Comics – hinter die Kulissen des modernen Amerikas, auf eine atemlose Odyssee mit Massenejakulationen, Riesensteaks, Botox, Präsidentschaftswahlkämpfen, mit Salzwasser aufgespritzten Genitalien, Godzillafetischisten – und natürlich nach Texas, in die Heimat alles Bösen. Immer auf den Spuren jenes «wahren» Amerikas, das sich jenseits der Oberfläche von MTV und CNN präsentiert, «wenn man unter den Laken nachsieht, die es zu seinem kleinen zitternden Kinn heraufzieht in der Nacht», wie es ein Serienkiller formuliert, dem McGill im Flugzeug nach Las Vegas begegnet.

Jugendfrei ist das nicht, auch nicht in der stellenweise eher mutlosen deutschen Übersetzung, aber eine der unterhaltsamsten und ehrlichsten Beschreibungen des kollektiven heterogenen Wahnsinns, der bei uns pauschal unter dem Begriff «Amerika» zusammengefasst wird. Klassische KrimileserInnen mögen ihm ankreiden, dass er sich dabei zu sehr ans Tempo eines Comics hält. Wobei sich damit weniger die Frage stellt, ob Ellis der «klassischen», unbebilderten Literatur gewachsen ist, sondern vielmehr, ob der Roman als Medium überhaupt noch zeitgemäss sein kann.

Warren Ellis: Gott schütze Amerika. Heyne. München 2009. 320 Seiten. Fr. 14.90

Zudem auf Deutsch erhältlich: «Global Frequency», «Thunderbolts 1-3», «Ocean», «Desolation Jones», «X-Men 102/103», alle bei Panini Comics.