Durch den Monat mit Ilona Stamm (Teil 4): War ihr Vater streng?

Nr. 35 –

Ilona Stamm: «Als ich zum ersten Mal alleine am Abend weggehen durfte, war ich über zwanzig.»

WOZ: Frau Stamm, der Stamm-Filmverleih ist ja ein Familienbetrieb. Hat Ihre Mutter auch im Verleih mitgearbeitet?
Ilona Stamm: Nein, die hat nur Hausfrau gespielt. Und der Papa wollte das ja auch nicht. Eine Frau muss man ernähren können, sagte er, die muss für den Haushalt und die Familie da sein, nicht für das Geschäft.

Aber Sie sind ja auch eine Frau, und Ihr Vater hat Sie in den Betrieb eingearbeitet.
Dass ich kein Junge bin, das Thema hat sich bei mir durch das ganze Leben gezogen. Meine Schwester ist vier Jahre älter, und sie war voll akzeptiert, eine herzige Meite, dachte man, der Sohn kommt dann schon noch. Doch dann ist der halt nicht gekommen, dafür eine zweite Meite. Und ich habe das immer wieder zu spüren bekommen, dass ich kein Sohn bin ...

Und Ihre Schwester, hat sie im Verleih mitgeholfen?
Oh nein, meine Schwester hat meistens Mamihilfe gespielt. Dadurch lernte sie gut kochen und haushalten, und das konnte sie brauchen, als sie geheiratet hat. Sie hat übrigens einen Mann aus der Filmbranche geheiratet, den Geschäftsführer eines Kinos.

Und Sie, haben Sie auch geheiratet?
Ich bin mit dem Geschäft verheiratet.

Sie sind also in die Fussstapfen Ihres Vaters getreten und Ihre Schwester in die Ihrer Mutter.
Ja, so quasi. Das hat schon als Kind angefangen, als mein Vater noch die Künstleragentur hatte. Da kamen manchmal Telefonate, wenn die Eltern weg waren. Und meine Schwester nahm nie das Telefon ab.

Sie wollte gar nichts mit 
dem Geschäft des Vaters zu tun 
haben?
Oh nein, Hände weg! Und, ich gebe es zu, ich war da ein bisschen egoistisch und wollte da was für mich rausholen. Wenn ich das Telefon abnahm, musste sie dafür meine Schicht des Schuhputzens oder des Küchemachens übernehmen.

Haben Sie sich nie überlegt, in einem anderen Bereich zu arbeiten?
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, zu sagen, ich möchte woanders hin. Das hat man sich früher nicht getraut. Wenn es geheissen hat, du arbeitest jetzt hier, dann hat man das auch gemacht, egal ob es einem gefallen hat oder nicht. Aber mir hat es ja auch gefallen.

Sie haben stets mit Ihrem Vater gearbeitet. Haben Sie auch immer mit ihm gewohnt?
«Du gehörst in die Familie, du gehörst ins Geschäft, du bleibst da.» Da hat man halt gefolgt. Ich habe bis zu seinem Tod mit ihm gewohnt.

Ihr Vater war ein strenger Mann ...
Ja, aber es hat einem ja auch nicht geschadet, man ist ja trotzdem ein bisschen was geworden ... Ich wuchs allerdings sehr isoliert auf und hatte keine Freundinnen. Es hiess, ich hätte zu arbeiten. Als ich zum ersten Mal -lleine am Abend weggehen durfte, war ich über zwanzig. «Aber ja um zehn zu Hause sein», sagte er.

Und sind Sie pünktlich nach Hause gekommen?
Oh ja, oh ja! Eher noch fünf Minuten früher.

Wie nehmen Sie denn die heutige Jugend wahr?
Vieles ist ja total anders. Doch gewisse Freiheiten gehen heute etwas zu weit. Ich finde, Kinder unter zwölf oder vierzehn Jahren gehören ab zehn Uhr nach Hause und nicht noch, auf Deutsch gesagt, auf Sauftour. Alles ist irgendwie extrem heutzutage. Bei uns war es jedoch zu streng.

Die Filme haben sich ja auch verändert in den siebzig Jahren, in denen Sie in der Branche arbeiten. Wie nehmen Sie diese Veränderung wahr?
Die erste grosse Veränderung war ja der Farbfilm, der hat natürlich total revolutionär gewirkt. Der erste Einbruch, den wir in der Filmbranche hatten, war, als die VHS-Kassetten aufkamen. Mit dem Aufkommen der DVDs spürte man es noch stärker: Viele Familien blieben zu Hause und schauten sich den Film gemeinsam an. Doch jetzt geht der Trend wieder mehr in Richtung Erlebniskino, wie zum Beispiel dreidimensionale Filme.

Was halten Sie davon?
Die Branche bezweifelt, dass sich die 3D-Filme durchsetzen werden. Ich persönlich finde es grässlich, wenn man Fotos aus den Kinos sieht, und jeder hat so eine idiotische Brille an. Also ehrlich gesagt, ich würde gar nie ins Kino gehen, wenn ich so ein Biest aufsetzen müsste.

Ilona Stamm (85) ist die älteste aktive Schweizer Filmverleiherin. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2006 leitet sie die Stamm Film AG, die ihr Vater 1935 gegründet hat, mit Andreas Bernatschek und Pascal Ulli.