Hugo Loetscher (1929–2009): Der Augenöffner

Nr. 35 –

Der Fotograf Daniel Schwartz erinnert sich an seine Begegnungen und Reisen mit einem Schriftsteller, der nach Westen fuhr, um im Osten anzukommen - und doch immer wieder an Sihl und Limmat zurückkehrte.


Die Kaschmirwolle drohte in Brand zu geraten. Aber so wie seine Rechte die Asche von der Schulter wischte, war es eine Nebensächlichkeit. An mehreren Stellen blitzte das Hemd durch das Bordeauxrot. Die Löcher waren eine Indiz für die Intensität der Gespräche, die sein Rauchen begleiteten.

Er verstand zu referieren und zog uns in seinen Bann – uns, sieben Absolventen des zweiten Ausbildungsjahrs der Fotoklasse der Zürcher Kunstgewerbeschule. Das Team der Fachlehrer hatte ihn gerufen als Dozenten für einen Sonderkurs in Fotojournalismus. Der Glücksfall war, dass die Übung nicht in der Theorie stattfand, sondern in der Praxis.


Das war 1979. Einem Kanton sollte die Eisenbahn weggenommen werden. Es regte sich Widerstand gegen Bundesbern oder die Kreisdirektion. Die Fotoklasse hörte davon durch einen Zufall und nahm Verbindung auf. Die Regierung lud ein zum Gespräch, erteilte einen Dokumentationsauftrag und stellte Beglaubigungsschreiben aus. Die sollten Misstrauen bei Bevölkerung, Wirtschaft und Sicherheitsapparat aus dem Weg räumen.

Denn wir wollten in Druckstollen, Archive und Altersheime, in Steinbrüche und in die Hallen, wo Schokolade und scharfer Ziger hergestellt wurden. Wir wollten hinauf zu den «Sennet» und in den «Ring», wenn in direktester Anwendung der Demokratie die Hände erhoben wurden. Wir wollten dabei sein, wenn einer Schlacht gedacht wurde, und auf Türme. Auf jene, die, unter vertikalem Felsgehänge errichtet, nur eine Chance hatten, von Gott gesehen zu werden, wenn man an ihn glaubte. Aber auch auf jene, die für Konkretes standen, für Fleiss und Industriekultur. Türme, die Merkmal der spezifischen Architektur des Tals waren, aber immer weniger zum Trocknen der Baumwolldrucke dienten. Wir wollten in die ehemaligen Kosthäuser. Zu den eingebürgerten Tibetern und mit ihnen an die Vorspinnmaschine. Die Bosse, sagte einer aus dem Stab der Regierung, seien Ausländer. Von dort, woher auch die Baumwolle komme. Daran interessiert, noch herauszuholen, was herauszuholen sei. Richtige Fabrikanten seien sie indessen nicht. Deren Nachfahren wohnten immer noch in den schlösschenhaften Häusern auf der Sonnenseite des Tals. Die Fremden fuhren einmal in der Woche in schwarzen Wagen vor, die ausgerüstet waren mit Schildern des Kantons, der als Sitz von Rohstoffhändlern bekannt ist. Ölkännchen standen griffbereit auf den blank geputzten Dampfmaschinen; diese wiederum unter Denkmalschutz. Selbstverständlich speiste der Gletscher des Tödi-Massivs noch die alten Kanäle. Aber auf dem abends mit langer Belichtungszeit aufgnommenen fotografischen Bild wirkte das Wasser gefroren, wurde zur Metapher für Stagnation.

Topografisch war das Tal schon immer eine Sackgasse gewesen – die nur im Sommer offenen Packtier-Pässe konnte man vergessen. Entweder man verharrte in diesem Land das ganze Leben lang und organisierte sich. Oder man ging die dreissig Kilometer zur Linthebene hinab und bog dort ein auf Achsen mit Anschluss zur äusseren Welt.


Das, machte er uns klar, war im Kern die Aussage des Kollektivporträts des Kantons, das wir zu liefern hatten. Er sensibilisierte uns für gegenseitige Ergänzung und Wechselwirkungen von Text und Bild. Damit konnten wir dem Bild das Schicksal der Illustration ersparen. Wir begannen uns aber auch bewusst zu werden, was es heisst, Verantwortung zu übernehmen als Autoren, wenn dem Bild einmal kein Text zu Hilfe käme. In der Summe mussten unsere Bilder zeigen, was auf einem einzigen Bild niemals sichtbar wäre. Was indessen eine sprachliche Formel zum Ausdruck bringen konnte. Diese hatte bald festgestanden – der Untertitel des Projekts zur Zentenarfeier der Erschliessung des Kantons Glarus durch die Eisenbahn: «Die Schiene öffnet ein Tal».

Einmal war er in dieses Tal heraufgekommen. Sah den projektleitenden Fachlehrer einen Stein wegtragen, bevor er die Aufnahme machte. Der Vorgang schien ihn zu verwundern. Weil er anders wahrnahm?, fragten wir uns. Bedeutete fotografisches Sehen, vergleichbar dem Lehrsatz der Mengenlehre, die Herstellung eines Abbilds, das die möchlichst exakte Wiedergabe des Urbilds ermöglicht, dann müsste er aufgrund seiner «Aufnahme» mittels Gedächtnis in der Lage sein, das Memorierte später in vielen unterschiedlichen Erinnerungsbildern zu reproduzieren.


Als journalistischer und textlicher Begleiter wirkte er also mit an der Konzeption von Ausstellung und Katalog, wie auch an der Ausgabe vom Juni 1979 von «Schweiz. Suisse. Svizzera. Switzerland» – gemäss Impressum die «Offizielle Monatszeitschrift der Schweizerischen Bundesbahnen, der konzessionierten Bahnen, der Schiffahrtsunternehmungen, der Post-, Telegraf- und Telefonbetriebe, der Automobilverbände, des Schweizerischen Luftverkehrs und des Schweizerischen Hotelier-Verbands». Die achtzig Seiten starke Monatsschrift hing damals in den Eisenbahnwaggons, an einer Schnur am Kleiderhaken. Sie war gestalterisch alles andere als innovativ, doch ein Gefäss sachgerecht dargestellter verbindlicher Information. Dies in einer Zeit, als die Züge zwar noch nicht im Takt verkehrten, sich die Türen aber immer öffnen liessen, als die Post ihre Arbeit machte und aus der «Gazette», welche die Swissair ihren Passagieren verteilte, einiges zu erfahren war – gerade weil darin immer wieder er zum Wort kam. Über Alexander von Humboldt schrieb oder über die Kartoffel und damit über zwei Wege, die, sich kreuzend, die Welt erschlossen.

Die Formel «Die Schiene öffnet ein Tal» verstanden wir bald, bezeichnete präzis sein Verhältnis zu dieser Welt. Nur dass einem bei ihm das Wasser hinaustrug. Zuerst Sihl und Limmat. Vom lusitanischen Rand des Kontinents dann der südliche Atlantik, hinüber in das Becken des Amazonas.


Eben hatte er, der auf so ganz selbstverständliche Weise von Fremdem als Eigenem berichten konnte, weil er dabei verglich, was Menschen an voneinander weit entfernten Orten zu gleichen Dingen einfiel, «Wunderwelt» herausgebracht. Gleich im ersten Satz dieser brasilianischen Begegnung kommt ein Fotograf zu Wort, sagt: «Der Sarg liegt zu flach.» So sei Fatima, das tote Mädchen, in der Aufnahme nicht zu sehen! Blecherne Keksschachteln mussten her anstelle des zuvor unter das einfache Kistchen geschobenen Steins.

Wie der Fachlehrer hatte auch der Dorffotograf eine klare Vorstellung dessen, was die Aufnahme zeigen musste.

Er wiederum, der im Rücken beider stand als stiller Beobachter, hatte sich von beiden Szenen sein eigenes Bild gemacht – Stein hin oder her.

Unsere auf Film latent vorhandenen Bilder liessen sich durch den Prozess der fotografischen Entwicklung hervorrufen. Kam bei ihm, auf dem Feld der Sprache, die Archäologie zum Zuge – nicht um Steine zu heben, sondern um Erinnerung zu bergen? Durch den Prozess komplizierter Metamorphosen, welche die im Kopf angelegten Bilder in Komponenten seiner Stoffe verwandelten? So dass er in «Wunderwelt» jene Dinge, denen er in Fatimas trockener Heimat begegnet war, der kleinen Toten erzählen konnte als das Leben, welches zu leben ihr versagt geblieben war.

Hinten im engen Tal konnten die Glarner ihre Eisenbahn behalten. Vielleicht auch infolge unserer Dokumentation. Wir beendeten die Ausbildung, zusätzlich bereichert durch die Erfahrung des Arbeitens mit ihm, und wurden Fotografen. Nahmen seine Bücher und Texte wahr, unter denen es regelmässig solche gab, die sich mit der Fotografie beschäftigten. Seine Sprache rotierte nie um das Bild an sich. Nein, dieses stand immer im Zusammenhang mit Denken.


Dann erschienen «Die Papiere des Immunen».

In diesem Buch stiess einer aus der ehemaligen Fotografenklasse bei der Lektüre auf sich selbst. Zwei Jahre nach der Eisenbahngeschichte waren sie zusammen durch Arkadien gefahren. Hatten das oft besungene griechische Traumland tatsächlich bereist. Waren im Nebel zum hochgelegenen Apollo-Tempel von Bassai gelangt. Hatten vom Theater von Megalopolis aus die Silhouette des Braunkohlekraftwerks betrachtet und mit Heiterkeit eine nunmehr erfüllte antike Prophetie festgestellt. Im Buch nun trug er, der auf der gemeinsamen Reportage der Textautor gewesen war, den Namen Lukas. Der Fotograf erkannte sich in der Begleiterin namens Marianne. Ihr war die Schildkröte in die Hände gelegt, die in Wirklichkeit ihn, den Fotografen, hatte anhalten lassen zur Rettung der Kreatur vor dem schändlichen Sport der Lkw-Chauffeure. Er aber war just in dem Moment aufgewacht, als der Fotograf die Schildkröte auf die andere Strassenseite getragen hatte. Möglich, dass ihm der Vorgang wie eine Vision vorgekommen war. Man war ja im Traumland Arkadien. Möglich, dass die Szene das Traumland als real existierend hatte wirken lassen. Jedenfalls pflanzte er das Bild der Begebenheit in noch weiter zurückliegende Erinnerungsbilder seiner ersten griechischen Reise als Student. Diese hatte ihn konfrontiert mit der überraschenden Information, dass man mehr als eine Antike besitzen konnte. Damit hatte sich ihm, lang bevor er schliesslich hinreiste, bereits der Osten eröffnet als Ziel.


An den Mekong kam er vor dem Fotografen.

Weil er im Lauf seiner Welterfahrung so lange nach Westen gegangen war, bis er im Osten ankam – das aber, wie er später einmal anfügen sollte, «auf der Suche nach einer runden Sprache». Der Fotograf wiederum suchte in Asien eine Wurzel seiner Herkunft, nebst Anzeichen der Gefährdung küstennaher Regionen durch den Klimawandel. Unterschiedlicher hätten ihre Programme nicht sein können. Entsprechend weit spannte sich der Fächer der Gespräche auf den neuen gemeinsame Reportagen. Die Verhältnisse der Zeit hatten die aufgeregte Thesen in Umlauf gebracht, es komme zum Zusammenprall der Zivilisationen. Am Beispiel von Toledo – seine persönliche literarische Geografie verortete die Stadt der Mancha auf einer Karte des Mythos und der Illusionen, aber auch der gebrochenen Hoffnungen –, am Beispiel eines «Besuchs bei der Toleranz» also wollte er an frühere Koexistenz der drei Buchreligionen erinnern, an die kultursoziologische und stilistische Durchdringung, aber auch an das Übersetzen als erstrangigen Kulturauftrag.

Im Becken des Mekong waren zwischenzeitlich die letzten Gewehre der Nachfolgekriege um die Macht in Indochina verstummt und um Angkor die Minenfelder geräumt. Der Fotograf führte ihn zu einem der entlegeneren Tempel. Dort nahm sich ihrer ein kleines Mädchen an. Die Sätze, mit denen es zum Haushalt der Familie beitrug, sprach es nicht nur in Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch, sondern auch in Japanisch. An einem Portikus fuhr es auf dem grob behauenen, porösen, dunkelroten Stein mit dem Zeigefinger zuerst den Umrissen einer Gestalt nach, dann ernsthaft denen einer darüber eingeritzten zweiten. Eines Tages muss der Buddha aus der Mode gekommen sein aufgrund der Wirkungskraft des Shiva. Oder andersherum.

Den Fotografen erinnerte das an die Säulen griechischer Tempel, die unter den Byzantinern mit Kreuzen versehen wurden, bevor sich später Moscheen an sie lehnten. Er wiederum wusste, dass im Herzen von Mexiko-Stadt der christliche Altar der Vergebung praktisch an der Stelle errichtet worden war, wo die Statue der Mondgöttin Coyolxauhqui stand. Neues, oftmals Fremdes, orientierte sich offensichtlich gern an lokalem Alten, auch wenn es mit dem Vorgefundenen dabei oft schlimm verfuhr.

Im Kriegsmuseum ausserhalb Angkors schien es dem Fotografen, er sehe im fehlenden Bein des Opfers nicht nur das Schicksal des Jungen, sondern lese in der Versehrung auch das, was Kambodscha entglitten war, während es sich zu fremdem Nutzen zerstören liess.


Genau dreissig Jahre nach der Erkundung des Eisenbahntals begegneten sie sich zum letzten Mal im Mai dieses Jahres in der Aarestadt, die um die Zeit jeweils Gastgeber der Literatur ist. Beim Frühstück sprach er vom Plural. Um den gehe es in «War meine Zeit meine Zeit», seinem jüngsten Buch, das in Kürze erscheinen sollte. Die Wahrheiten. Die Identitäten. Auch wenn die Welt als Ganzes zuweilen den Anschein von Sinnlosigkeit mache, betonte er, biete sie dem Einzelnen immense Möglichkeiten, Sinnvolles zu tun. Nur mit der Rechthaberei müsse es ein Ende haben. Wollte er auf eine Stelle gegen Ende des nun vorliegenden Buches hinweisen, hinter dessen Titel er kein Fragezeichen gesetzt hat und das nun zu seinem Vermächtnis geworden ist?

«Wenn es also darum geht, den Menschen in all seinen Möglichkeiten zu kennen, wird der andere nicht jemand, den ich toleriere, sondern jemand, den ich unerlässlich und unverzichtbar im Zeichen eines umfassenden Menschseins brauche. Ich bin erst dank seiner und aller anderer ein kompletter Mensch.»

Hugo Loetscher hat den Weg aufgezeigt in das Toledo, das zum Besseren der Welt nicht auf der Karte des Mythos liegen sollte.


Daniel Schwarz

Der in Zürich lebende Fotograf Daniel Schwartz war mehrmals mit Hugo Loetscher auf Reportage. Zuletzt erschienen sind von ihm «Schnee in Samarkand» bei Eichborn Berlin und «Travelling through the Eye of History» bei Thames & Hudson. In WOZ Nr. 17/09 waren auf einer Doppelseite fotografische Arbeiten von Daniel Schwartz anlässlich seiner Ausstellung im Zürcher Helmhaus zu sehen.