Eine Stadt voller Risse: Wenn man den Riesen weckt, bläht er sich auf

Nr. 36 –

Im süddeutschen Staufen unweit von Basel hebt sich die Erde. Die historische Altstadt droht zu zerbröckeln. Dabei hatte es der Gemeinderat doch nur gut gemeint.


Nachts, sagt Elmar Bernauer, sei es am schlimmsten. Dann, wenn alles still ist, könne man den Druck förmlich hören, der den Häusern zusetzt. Es knackt im Gebälk, unablässig. Manchmal reisst es Bernauer sogar aus dem Schlaf, «wenn es kracht, als hätte jemand mit einer Pistole geschossen».

Bernauer, 53 Jahre alt, grauweisses Haar, Vermessungsingenieur, sitzt in seinem Büro im ersten Stock des Hauses, das er mit seiner Familie bewohnt. Auch seine Eltern lebten schon hier, in diesem weissgetünchten, 200 Jahre alten Haus mit dem grossen Garten davor, Kirchstrasse 12, Staufen im Breisgau. Eine gute Adresse. Gelegen im historischen Ortskern der Stadt, deren einzige Sorge lange Zeit der hohe Durchgangsverkehr war, den seit zwanzig Jahren eine Bürgerinitiative beseitigen möchte.

Die Stadt versinkt? Im Gegenteil!

Staufen, 7779 EinwohnerInnen, zwanzig Kilometer südlich von Freiburg, ganz links unten auf der Deutsch landkarte, wo der Wetterbericht immer drei oder vier Grad mehr anzeigt als im Rest der Republik. Umgeben von Weinbergen, auf denen der Gutedel gedeiht, ein Weisswein, lieblich wie die Landschaft des Breisgaus. Es gibt 220 Sonnentage im Jahr, eine Innenstadt, die als ganzes Ensemble denkmalgeschützt ist, und deshalb statt Leuchtreklame dekorative Schriftzüge an den Fassaden der Geschäfte.

Unter den BewohnerInnen und in der kommunalen Politik ist das ökologische Bewusstsein gross, die Umweltliste ist mit achtzehn Prozent drittstärkste Kraft im Gemeinderat. Dort kam man im September 2007 auch auf die Idee, das historische Rathaus, nach eineinhalb Jahren Renovierung gerade frisch generalsaniert, fortan mit Erdwärme zu beheizen, weil Sonnenkollektoren der Optik wegen nicht erlaubt waren. Man stiess hinter dem Gebäude sieben Sonden 142 Meter tief in den Garten, und oben wurde es warm. Doch man hatte einen schlafenden Riesen geweckt. Es begann das, was Bürgermeister Michael Benitz in späteren Interviews «eine schleichende Katastrophe» nannte. Zeitungen titelten damals: «Staufen versinkt».

Dabei war genau das Gegenteil der Fall. Denn kurz nach der Bohrung begann sich die Erde unter der Altstadt von Staufen zu heben, sie quillt seitdem auf wie ein Hefeteig. Um einen Zentimeter pro Monat hebt sich der Boden, geologisch gesehen sind das gigantische Dimensionen. Neunzehn Zentimeter sind es schon unter dem Rathaus und dem anliegenden Stadtbauamt. Neunzehn Zentimeter, die aus Staufen eine bundesweite Sensation machen. Erst recht wenn es schon bald zwanzig sein werden. «Es gibt keinerlei Hinweise, dass sich in absehbarer Zeit an der Hebung von Staufen etwas ändert», sagt Elmar Bernauer und zeigt auf einen der drei fingerdicken Risse in seinem Büro, der sich von der Decke bis zum Boden zieht. Folge davon, dass die Statik buchstäblich aus den Fugen geraten ist. «Rein technisch können sie dem Druck nichts entgegensetzen», sagt Bernauer. Er sagt das sehr sachlich, obwohl er zu den 220 HauseigentümerInnen gehört, die bereits von Schäden betroffen sind. Aber er ist als Vermessungsingenieur eben auch vom Fach und lässt sich somit nicht von falschen Hoffnungen leiten. Obwohl er in weisser Hose, weissen Gesundheitsschuhen und weissem Polohemd eher einem Arzt ähnelt, der eine Diagnose stellt: «Diese Ohnmacht, die macht uns fertig hier.»

Um zumindest nicht ganz tatenlos zuzuschauen, gründete Bernauer zusammen mit anderen Betroffenen im November 2008 die Interessengemeinschaft der Rissgeschädigten. Vor allem will man, dass die Verwaltung die tatsächliche Gefahr nicht kleinredet; die Situation könnte nämlich noch weit dramatischer werden. Vor Bernauer liegen verschiedene Gutachten von Geologen. Er zieht eines hervor, legt ein Blatt quer, auf dem verschiedenfarbige Gesteinsschichten zu sehen sind. Ein harmloses Blatt Papier, das doch Brisantes belegt.

Unter der Oberfläche von Staufen liegt eine vierzig Meter dicke Schicht aus Keuper, einem Gestein, das zusammen mit Wasser zu Gips wird. Dabei nimmt das Volumen bis zu sechzig Prozent zu. Bei der Bohrung stiess man auf Grundwasser unter der Keuperschicht, das in dieser Tiefe mit gewaltigem Druck nach oben schiesst. In den Sonden entstand ein Leck, sodass es mit dem Keuper in Kontakt kam. Seitdem ist die Erde unter Staufen in Aufruhr.

«Tou-riss-mus»

Neben dem Rathaus steht der Gasthof Löwen, das älteste Haus der Stadt, erbaut 1407. Der Legende nach soll dort ein Doktor Faust gewohnt, sich an «dunklen Künsten» ergangen haben und vom Teufel geholt worden sein – die literarische Vorlage Goethes. Deswegen gibt es im Erdgeschoss eine Fauststube, an deren Wand das Leben des Faust in einer Bilderfolge festgehalten ist. In der Chronik des «Löwen» wird davon berichtet, wie das Gebäude unbeschädigt durch die Jahrhunderte kam, den Dreissigjährigen Krieg überstand und sogar den grossen Luftangriff vom 8. Februar 1945, bei dem weite Teile der Altstadt in Schutt gelegt wurden. Nun aber scheint es mit der Unzerstörbarkeit vorbei. In der Fauststube sieht man einen Riss genau durch das letzte Bild laufen, das den Titel trägt: «Dr. Fausts erschreckliches Ende». Und in den Hotelzimmern in den oberen Etagen hört man immer wieder den Putz von der Wand rieseln. Einige Gäste sind deswegen sogar wieder abgereist, um ein Hotel ausserhalb der Altstadt zu suchen. Obwohl die WirtInnen zumindest den Ausfall verängstigter Kundschaft fast kompensieren können. Denn seit die Vorgänge in Staufen Ende letzten Jahres medial bekannt wurden, kommen Neugierige in Scharen, und für geologische Fakultäten aus ganz Deutschland ist der Ort Exkursionsziel. «Tourismus», sagt eine Wirtin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, «schreibt man bei uns mittlerweile mit zwei ‹s›, ‹Tou-riss-mus›.»

Reporter wie Touristinnen kommen schnell und sind schnell wieder weg. Die Stadt aber bleibt zurück mit ihren Rissen. Kaum irgendwo ist es deutlicher sichtbar als im Stadtbauamt. Jenem Gebäude auf der anderen Seite der Bohrung, das auch mit der Wärme aus der Tiefe versorgt werden sollte. Und in dem man genauso kalt erwischt wurde.

Auf dem Fussboden sieht man gesprungene Fliesen, die Decken werden gestützt von eingezogenen Holzbalken. Das Grundbucharchiv unter dem Dach wurde schon ausgelagert ins nahe Bad Krozingen, zu schwer die Akten für die versehrte Architektur.

Im ersten Stock liegt das Büro von Martina Schlatter, einer Frau von 43 Jahren, wohnhaft in einem Nachbarort von Staufen, seit Januar neue Leiterin des Bauamtes. Seit ihrem Antritt verwaltet sie den Notstand und verkündet Zuversicht. «Eigentlich komme ich zu nichts anderem mehr.» Runde Tische mit Betroffenen, Pressekonferenzen, Diskussionen mit den VertreterInnen des Landes, das ja am Ende einen Grossteil der enormen Kosten aufbringen muss. 41 Millionen Euro Schäden sollen bislang entstanden sein. «Allein an der Bausubstanz». Auf einer Fläche von 300 mal 300 Metern rund um die Bohrungsstelle sind 221 Häuser mit tausend BewohnerInnen betroffen.

Am Vormittag hatte Schlatter wieder einen runden Tisch. Wo es, wie oft, um Schadenersatzansprüche ging. Wer zahlt den Schaden? Die Versicherungen verweigern bislang die Zahlung, weil es sich nicht um einen Elementarschaden handle. Sondern um etwas von Menschenhand Verursachtes. «Aber da sitzen ja viele Verantwortliche im Boot», sagt Schlatter. Die Bohrfirma, die Genehmigungsbehörden und natürlich auch die Stadt. Dann sagt sie einen Satz, den schon Bürgermeister Benitz benutzte: «Der Weg zur Hölle ist eben mit guten Absichten gepflastert.»

Tatsächlich war die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering, dass sich Derartiges ereignen würde. Allein in Staufen sind zwölf Erdwärmeanlagen in reibungslosem Betrieb. 14 000 sind es in ganz Baden-Württemberg. «Aber wir wollen uns deswegen nicht unserem Schicksal ergeben», sagt Schlatter. Man tue nun alles, um die Hebung so schnell wie möglich zu stoppen. Erkundungsbohrungen laufen rund um die Uhr. «Wir wollen dadurch an das Wasser kommen, um es abzusperren.» Dazu soll versucht werden, die Sonden mit Zement abzudichten. Die Frage sei nur, ob der neue Zement nicht vom Wasserdruck, der von unten komme, gleich wieder weggespült werde.

Von ihrem Schreibtisch schaut Martina Schlatter durch einen Spalt in der Wand auf die Erkundungsbohrungen. Dann sagt sie: «Ich hoffe, dass wir schnell eine Lösung finden.» Weil das Geld für die Schäden doch das kleinere Problem sei. Schlimmer sei, dass Leute ihre Häuser verlieren könnten, in denen sie seit einer Ewigkeit wohnen.

Einer von denen wohnt keine fünfzig Meter Luftlinie von der Bauamtsleiterin entfernt, im Jägergässle. Claus Hermann, ein hagerer Mann mit scharfen Gesichtszügen, im Ort nur der «Laule» genannt, früher mal ein begabter Fussballer. Fast zeitgleich mit der ersten Bohrung vor knapp zwei Jahren hatte er «seinen Traum für das Alter» fertig gestellt. Er hatte das Elternhaus, in dem er vor 59 Jahren zur Welt kam, nach seinen Vorstellungen renoviert. Geld ist ja einiges da, er ist Verkaufsleiter einer KMU, die Laborgeräte herstellt. Das alte Fachwerk aus dem 17. Jahrhundert legte er wieder frei, Marmorfliesen ins Erdgeschoss, Fussbodenheizung, Jacuzzi im Nebenraum, offener Kamin.

Jetzt ziehen sich zehn Risse durch das Haus wie die Falten durch Hermanns Gesicht. Erst schleppte er «34 Container Schutt zur Tür raus», dann kam die Katastrophe mit dem steigenden Boden. Am Anfang war er der Erste und Einzige, der Klage erhob gegen die Stadt. Mittlerweile sei er etwas milder geworden. «Oder vielleicht eher resigniert.» Wenn es so weitergehe mit der Hebung, «dann ist mein Haus kaputt». In höchstens einem Jahr sei es so weit, da sei er Realist. «Und andere werden bestimmt folgen.» Aber das eine Jahr wolle er noch geniessen, so gut es gehe. Die Fussbodenheizung ist schon kaputt, der Jacuzzi undicht, und Schimmel macht sich im Haus breit, weil die Feuchtigkeit durch die Spalten zieht.

Bei Elmar Bernauer in der Kirchstrasse ist es noch nicht so weit. Trotzdem ist auch er Realist, wie er sagt. Keiner, der Ängste schüren wolle. Aber die Keuperschicht unter Staufen könnte sich rein rechnerisch noch um viele Meter aufblähen, nicht nur ein paar Zentimeter. «Dann», sagt Bernauer, «läuft hier die Scheisse rückwärts.»