«Das letzte Bild»: Ein Waldschrat kommt sich abhanden

Nr. 40 –

Ursula Fricker beschwört in ihrem zweiten Roman eine dichte Atmosphäre in düsterer Landschaft: Wirklichkeit und Fantasie stürzen zusammen, Perspektiven verrücken – so spannend erzählt, dass man sich seiner selbst nicht mehr gewiss ist.


Es ist nicht weit nach Berlin, und doch kann man in diesen Wäldern verloren gehen, die bis zur Oder reichen, dem Fluss an der deutsch-polnischen Grenze. Die Landschaft ist von der Vergangenheit gezeichnet; hier hat bis 1989 die sowjetische Armee rücksichtslos mit ihren Panzern die Erde aufgewühlt und Schrottwaffen entsorgt. Es ist eine Landschaft, in der ein Mann wie der britische Fotograf Floyd sich zu Hause fühlt.

Floyd, Protagonist von Ursula Frickers zweitem Roman «Das letzte Bild», verliess in den neunziger Jahren seine Frau und seine fünfjährige Tochter, ohne Vorwarnung bestieg er eines Tages die Fähre. Es war eine Flucht aus einem Leben, in dem er sich fremd geworden war. Er wollte nicht Ehemann, nicht Vater sein, keinen Alltag bewältigen. So folgte er seinem Freund Robert, der als Landschaftsgärtner einen Park um das einstige Schloss wiederherstellen wollte, von dem nur noch wenige Ruinen stehen. Als Robert nach England zurückkehrt, bleibt Floyd allein mit zwei Hunden in dem Gelände mitten im Wald. Wie Heinrich von Kleist, der ebenfalls aus Brandenburg stammte, lebt er in dem Gefühl, dass er nicht unter die Menschen passt.

Nur scheinbar ein Krimi

Auch die Autorin Ursula Fricker lebt in Brandenburg, diesem Zufluchtsort für KünstlerInnen, denen Berlin zu hektisch geworden ist. Sie ist 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Soziale Arbeit, spielte Theater und zog 1993 nach Berlin. Ihr erster Roman «Fliehende Wasser» erschien 2004 bei Pendo und brachte ihr den Einzelpreis der Schweizer Schillerstiftung ein. Er spielt noch in der Schweiz und handelt von einem Mann, der seine eigenen Wünsche und seine sexuellen Neigungen unterdrückt, dafür aber seine Familie terrorisiert.

Der Held ihres zweiten Romans macht genau das Gegenteil, er folgt seinen Bedürfnissen ohne Rücksicht auf die Umgebung – und verbreitet genauso viel Unglück. Zehn Jahre nach Floyds Verschwinden besucht ihn seine Tochter Jo, sie ist jetzt 15 Jahre alt und will ihren Vater kennenlernen. Es ist kein ergötzlicher Besuch, das Mädchen hängt nur vor dem Fernseher, und als er mit ihm im Wald, am Ufer des nahen Sees, Weihnachten feiern will, ist es seiner so überdrüssig, dass es abhaut. Zwei Tage lang wartet Floyd wie gelähmt, ob Jo wieder auftaucht, dann meldet er die Vermisste bei der Polizei. Als seine Exfrau Emma aus London anreist, verhält er sich so abweisend, dass er selbst verdächtig wird. Alles scheint auf einen Krimi zuzulaufen, aber der Roman schlägt eine andere Richtung ein.

Herr und Knecht spielen

Floyd klammert sich an seinen Alltag und an die Einsamkeit, aber sein Leben wird brüchig. Schon länger fotografiert er keine Menschen mehr, er konnte es nicht mehr ertragen, wie seine Bilder von sozialen Outcasts in schicken Galerien von eleganten Menschen mit Sektgläsern begafft wurden. Nun aber streift er ohne Fotoapparat durch den Wald, ob auf der Suche nach seiner Tochter oder auf der Flucht, ist unklar.

So findet er Wladimir, halb erfroren und mit einer Wunde anstelle des linken Ohrs. Er nimmt ihn nach Hause, pflegt ihn. Verstehen kann er den Flüchtling aus dem Osten nicht, klar ist nur, dass dieser Angst vor der Polizei hat. Aber Wladimir hilft ihm bei allen Arbeiten, sie spielen Herr und Knecht und hausen in grosser Vertrautheit, zwei Waldschrate auf der Flucht vor den Menschen.

Aber Floyd kommt sich langsam abhanden. Erinnerungen an seine Kindheit, an Emma und an Jo überfallen ihn. Sie zeigen ihm, wie untauglich er als soziales Wesen geworden ist. Manchmal hat er Visionen – von Jo, die ihn besucht und ganz vernünftig mit ihm spricht. Erinnerungen, Wirklichkeit und Träume fallen zunehmend ineinander, auch im Text gehen Zusammenhänge verloren, Perspektiven verschieben sich. Ursula Fricker beschwört eine dichte Atmosphäre herauf in diesem düsteren Roman, der so spannend erzählt ist, dass man nach der Lektüre sich seiner selbst nicht mehr ganz gewiss ist.

Ursula Fricker: Das letzte Bild. Roman. Rotpunkt Verlag. Zürich 2009. 192 Seiten. 30 Franken