«Die hässlichste Frau der Welt»: Der Schöne und das Biest

Nr. 40 –

Margrit Schriber erzählt die Geschichte eines Verdingkinds aus der Innerschweiz, das als Rosie la Belle in einem Londoner Horrorkabinett landet. Ein virtuoser Klagegesang auf die Erbarmungslosigkeit des aufsteigenden Kapitalismus.


Die wartenden Kunden im Salon des Coiffeurs Betschart im innerschweizerischen Morschach tippten sich an die Stirn: Eine «Schlampe» mit lilafarbenen Beinen und Schlangenpumps ist aus der Zahnradbahn gestiegen und hat sich in der Silberstrasse im Armenhaus einquartiert. Rosie la Belle, einst in diesem von allen guten Geistern verlassenen Dorf als Verdingkind aufgewachsen, kehrt nach einem abenteuerlichen Leben zurück an den Ort ihrer Geburt. Damals als Kind wurde sie mausbeinallein in die Berge geschickt, um die Ziegen zu hüten, ausgeschlossen von allen familiären und sozialen Ereignissen blieb ihr nichts übrig, als mit den störrischen Tieren zu sprechen. In einer Landschaft, die grausam ihre Katastrophen über die Menschen niedergehen liess: Lawinen, Hochwasser und die Bartfrau vom Dorni, die in den nächtlichen Nebelschwaden über die Felsklötze gelaufen war.

Neben der Affenfrau

Margrit Schriber erzählt in ihrem neuen Roman «Die hässlichste Frau der Welt» die Geschichte des Verdingkinds Rosie, das von seinen Waiseneltern fortgeschickt wurde.

Im 19. Jahrhundert hat es Heerscharen aus der Armut in den Schweizer Bergtälern nach Amerika getrieben, und Rosie reiste in einem Tross solcher EmigrantInnen mit nach London, wo sie wochenlang darauf warteten, endlich von einem Schiff mitgenommen zu werden. Die Visa fehlten, und der Botschafter lachte sich krumm angesichts der Lümmel, die nicht wussten, wie ihnen geschah. Nicht so Rosie, die sich neugierig am Hafen herumtrieb und prompt die bärtige Frau vom Dorni wiederfand, in einer Freakshow, mit der ein skrupelloser Abenteurer Namens Theodor Fairchild Lent ein Vermögen scheffelte: der schönste Mann, den Rosie je gesehen hatte.

Julia Pastrana, die bärtige Sensation in Lents Horrorkabinett, wurde tatsächlich 1834 in Mexiko als extrem behaarte «Affenfrau» geboren, von ihrer Mutter verkauft und in Boston an den Meistbietenden verschachert. Nach einer langen Schiffsreise in einem Käfig endlich in London angekommen, traf sie da auf Rosi. Eine lebenslange Verbindung nahm ihren Anfang. Denn der gewiefte Lent entdeckte das hübsche, frische Mädel im Publikum und engagierte es auf der Stelle, damit es mit seiner Schönheit die wahre Hässlichkeit der Affenfrau erst richtig zur Geltung bringe.

Die Freakshows stiessen im ausgehenden 19. Jahrhundert auf eine sensationsgeile Neugier, Wissenschaftler und Publikum rissen sich um die erbärmlichen Kreaturen. So musste Julia Pastrana nicht nur für ihren Meister auf der Bühne tanzen, fauchen und sich von ihm ins Maul fassen lassen, um ihre angeblichen Lefzen herzuzeigen, tagsüber liess er die Forscher und Aristokraten gegen Geld auch noch in ihr Zimmer, wo sie untersucht, ausgemessen und auf allerlei Art gequält wurde. Gedemütigt, blutend und weinend blieb die junge Frau zurück.

Ist es eine Strafe Gottes, die über Julia hereinbrach, ist sie ein Tier oder gar der Mensch der Zukunft, fragte man sich. Charles Darwin konstatierte erfreut die Intelligenz, die Feinheit, die das seltsame Wesen auszeichnete. Für ihn, der sich von Gott verabschiedet hatte und also auch der Strafe keine Macht mehr zugestehen mochte, war Julia eine durchaus bemerkenswerte Auslese der Art.

Schriber spielt in ihrer Geschichte mit Motiven, die an heutige Zeiten erinnern. So versprach der mitleidlose Theodor Fairchild Lent dem erfolgssüchtigen Girl aus den Bergen den grossen Erfolg im Showbusiness, was sie eifrig ihren Waiseneltern per Post berichtete, unendlich stolz und in Vorfreude, endlich deren Anerkennung zu gewinnen. Derweil der Meister sie sexuell ausbeutete und für einen Hungerlohn arbeiten liess. Längst war sie zur Dienerin der Julia Pastrana abgestiegen, der Aufstieg in den Olymp blieb aus.

Das grosse Versprechen

Das Publikum aber hatte bald genug von den immergleichen Freaks und begehrte Neues, noch Extremeres zu sehen. Lent heiratete also sein Affenwesen und versuchte, die selbstlose, romantische Liebe zu seinem besten Stück zu vermarkten, zeugte mit ihr ein ebenfalls haariges Kind, in der Hoffnung, mit dem Familienzuwachs sein Vermögen zu retten.

Schliesslich kehrt Rosie la Belle, die sich im weiteren Verlauf ihres Lebens als Prostituierte durchgeschlagen hat, nur ins Dorf zurück, um am Felsen des Dorni, wo einst die bärtige Frau sich in Luft aufgelöst hatte, ein Versprechen einzulösen, das ihr Julia Pastrana auf dem Totenbett abgenommen hatte.

Es ist eine hochemotionale Geschichte, die Margrit Schriber in kühlem Ton und distanzierter Haltung erzählt. Wiederholungen beschwören den Zustand der Trauer, in der sich Julia Pastrana befunden hat, als wolle uns die Autorin nahelegen, genau dies nie aus den Augen zu verlieren. Ein Klagegesang auf die Erbarmungslosigkeit des aufsteigenden Kapitalismus, der auf der unendlichen Verfügbarkeit der Ressource Mensch aufbaut. Zwar ist es zuweilen anstrengend, der Geschichte zu folgen, dafür wird man aber immer wieder mit stupenden Sprachbildern belohnt. Schüsse in die Seele, die stecken bleiben.

Margrit Schriber: Die hässlichste Frau der Welt. Verlag Nagel & Kimche. Zürich 2009. 190 Seiten. Fr. 34.50