Klimadiskussion von unten: Und sie bewegt sich doch

Nr. 40 –

Vergangenen Samstag fand ein globales demokratisches Experiment statt. BürgerInnen diskutierten in 38 Ländern gleichzeitig dieselben klimapolitischen Fragen. Das ergab hundert Rezepte zur Rettung der Welt. Eins davon kommt direkt aus Bern.


«Ich würde gerne etwas machen, das keinem Menschen oder der Umwelt schadet.» Urs Sprenger betrachtet seine Fingernägel. Er ist Garagist. Genau genommen verdient er sein Geld damit, Autos am Flughafen zu parkieren. «In jedem Flugzeug, das in Kloten abhebt, sitzt ein Kunde von mir drin.» So hat er sich der Gruppe am runden Tisch am Morgen vorgestellt. Seine dunklen Augen unter den buschigen Brauen haben den Blickkontakt vermieden. Einen ganzen Tag lang würde die Gruppe an diesem Tisch im Hotel Kreuz in Bern sitzen, um über den Klimawandel zu diskutieren.

Was hilft es, wenn ich als Kleiner spare?

Urs Sprenger und die andern rund zwanzig Männer und Frauen, die sich um vier Tische im graugetäferten Saal mit weisser Stuckdecke gruppiert haben, sind Teil einer Weltpremiere: An diesem Samstag machen je hundert BürgerInnen in 38 Ländern rund um den Globus gleichzeitig Klimapolitik. Sie sind von den OrganisatorInnen repräsentativ ausgewählt worden. Sie diskutieren in einem festgelegten Ablauf dieselben Fragen und werden zum Schluss je drei Empfehlungen formulieren – zuhanden des Klimagipfels in Kopenhagen im Dezember 2009. In der Schweiz hat das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung TA-Swiss parallel zu Bern auch in Lausanne und Lugano eine solche Runde organisiert. «Mir ist nicht klar, was es überhaupt hilft, wenn ich als Kleiner Energie spare», sagt Urs Sprenger und fragt unsicher: «Können wir auf globaler Ebene etwas bewegen – und was?»

Die andern am Tisch – ein IT-Berater, eine Jusstudentin, eine Vertriebsleiterin und eine Personalberaterin – teilen seine Skepsis. Der IT-Berater lässt schon zu Beginn seinen Sarkasmus aufblitzen: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», zitiert er Bertolt Brecht. «Arbeitsplatz und Einkommen sind uns näher als hehre Umweltschutzziele – gerade jetzt in der Krise.» Nicken reihum. Einig sind sie sich auch, dass der Klimawandel noch nicht bis in den Alltag vorgedrungen ist. Die Betroffenheit fehlt. «Ein Grad wärmer, zwei Grad wärmer – das sagt mir nichts, das spür ich nicht», sagt die Personalberaterin und Mutter zweier kleiner Kinder. «Weshalb soll ich mich engagieren?» Bis der Klimawandel auch in unsern Breitengraden für alle spürbar wird, dauert es noch lange, wie der Videoclip zur ersten Fragerunde gezeigt hat. Genau das sei ihr eingefahren, sagt sie.

Urs Sprenger ist lange aufrecht und still dagesessen, die Hände auf dem Tisch, den Blick gesenkt. Jetzt kommt auch er ins Erzählen, spricht ruhig und anschaulich von seinen persönlichen Erfahrungen, davon, dass er mal eine «Dreckschleuder» nach Albanien verkauft habe. «Die fährt jetzt dort noch zehn Jahre weiter. Eigentlich hätte ich das Ding wohl besser verschrottet ...» er stockt. Später wird er sagen, dass er sich immer wieder ein Gewissen mache.

Wenn es immer mehr Menschen gibt, die Energie brauchen?

Die erste Diskussionsrunde ist vorbei. Jetzt folgt das sogenannte Abstimmungsritual, das sich noch drei Mal wiederholen wird: Die Teilnehmenden bekommen konkrete Fragen vorgelegt, zu denen jeweils eine vorformulierte Antwort angekreuzt werden kann. Die Fragen orientieren sich eng an den Themen, die auch an der Klimakonferenz in Kopenhagen im Zentrum stehen werden und in ein verbindliches Abkommen münden sollen: Was soll das langfristige Ziel bei der Begrenzung des Temperaturanstiegs sein? Um wie viel Prozent sollen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer ihre Emissionen reduzieren? Wer finanziert die Anpassungsmassnahmen? Lanciert hat diese weltweiten BürgerInnendiskussionen das in Kopenhagen ansässige Projekt «WWViews on Global Warming» unter der Leitung des Danish Board of Technology. In Bern erinnert der Tagesmoderator daran, dass es in Taipeh mittlerweile vier Uhr nachmittags sei und dass die Debatten schon bald vorüber seien. In São Paolo hingegen hätten sie noch nicht einmal angefangen, dort schliefen die Leute noch.

«Das mit diesem CO2», sagt Urs Sprenger irgendwann im Verlauf der zweiten Diskussionsrunde, «irgendwie begreife ich das nicht: Da bemüht sich Italien und reduziert CO2 – aber wenn der Ätna zweimal hustet, sind alle Anstrengungen zunichte.» Fragend fügt er an, ob denn die ganze Erderwärmung wirklich menschengemacht sei. Unvermittelt wird die Debatte hitzig. Die Verursacherdiskussion sei doch nicht länger relevant, ereifert sich die Personalberaterin. Handeln sei jetzt gefragt. Urs Sprenger insistiert, er glaube nicht, dass es möglich sei, die Erwärmung zu stoppen. Argumentiert am konkreten Beispiel: Es gibt immer mehr Autos, und auch wenn sie weniger Benzin verbrauchen, der CO2-Ausstoss ist trotzdem gestiegen. «Wie soll man unter dem Strich das CO2 senken, wenn es immer mehr Menschen gibt, die Energie verbrauchen?»

Kurz nach elf greift der Tagesmoderator zum Mikrofon. Aus Australien seien bereits die ersten Ergebnisse eingetroffen. Natürlich dürften die hier nicht bekannt gegeben werden. Die Website von «WWViews on Global Warming» hat einen Newsticker, im Büro in Kopenhagen wird das Team im Verlauf des Samstagabends laufend Ergebnisse aufschalten: Farbige Balkendiagramme widerspiegeln, wo die BürgerInnen eines Landes ihre Kreuzchen im Fragebogen angebracht haben.

Aber was sagen wir dem Mann in Mexiko?

Dass der Energieverbrauch sinken muss, ist auch Urs Sprenger klar. Aber er glaubt nicht, dass Reduktionsziele für den Ausstoss von Treibhausgasen etwas bringen. Seine MitstreiterInnen am runden Tisch sind da anderer Meinung, verlangen eine «Rosskur». Das funktioniere nur übers Portemonnaie, und es müsse wehtun.

Die Wangen der Personalberaterin sind gerötet, die Vertriebsleiterin hat ihren Blazer ausgezogen, Urs Sprenger krempelt die Ärmel seines karierten Hemdes nach hinten. Wiegt die schulterlangen, graumelierten Haare hin und her, als die andern sich gegenseitig darin bestärken, dass auch den Schwellen- und Entwicklungsländern hohe Auflagen gemacht werden müssten. «Ich habe ein Problem damit, einem Mann in Mexiko zu sagen, ‹schau, ich hab einen Fehler gemacht, ich bin zwanzig Jahre lang mit einer Dreckschleuder rumgefahren – du darfst das jetzt nicht mehr›.» Er spricht ruhig, bedächtig, wirft in die Waagschale, dass es zumindest vom Pro-Kopf-Einkommen eines Landes abhängig zu machen wäre, was überhaupt geleistet werden kann. Dann geht es in die letzte Runde: Sollen die Preise für fossile Brennstoffe erhöht werden?

Um vier Uhr meldet sich der Tagesmoderator wieder: Auch Indien und Äthiopien hätten mittlerweile ihre Resultate überliefert ...

Was bringt mehr, Steuern oder Belohnungen?

Die Vertriebsleiterin plädiert für hohe Steuern auf fossile Brennstoffe, letzthin habe sie in der Migros Ananas für drei Franken das Stück gesehen, das sei doch Unsinn. Die Grossverteiler müssten in die Pflicht genommen werden, damit sie schon gar nicht mehr auf die Idee kämen, im November Erdbeeren einfliegen zu lassen. «Vielleicht mit einer Verzichtserklärung?», schlägt die Personalberaterin vor.

Urs Sprenger hat bereits mehrmals eingewandt, dass er nichts von Sanktionen hält, auch Bussen seien Gewalt. Belohnungen hingegen schafften positive Anreize. «Gutmenschideen», spottet der IT-Berater. Urs Sprenger nimmt erneut Anlauf: Fossile Brennstoffe sollten überall dort massiv verteuert werden, wo sie nicht für den Transport lebensnotwendiger Güter eingesetzt werden, sondern nur dem Spass oder Luxus dienen. Und er ist der Meinung, dass dazu nicht die Länder, sondern die Firmen in die Pflicht genommen werden sollten. Damit allerdings dringt er nicht durch.

Zum Schluss wird seine Gruppe empfehlen, eine «Ökoländerliste» zu schaffen, analog zur OECD-Liste für Banken. Nach weiteren Diskussionen und mehreren Abstimmungen unter allen TeilnehmerInnen ist kurz vor sechs schliesslich klar, welche Empfehlung die Deutschschweiz ihrem Delegierten nach Kopenhagen mitgeben wird: «Klimaschutz vor Wirtschaftsinteressen».

TA-Swiss-MitarbeiterInnen haben im Hintergrund inzwischen die Fragebogen ausgewertet und beamen grosse Kuchendiagramme an die Wand. Damit wird auch eine grosse Diskrepanz augenfällig: Wo ist der Zusammenhang zwischen diesen standardisierten Antworten auf vorformulierte Fragen und dem, was inhaltlich und konkret in der Tischrunde diskutiert worden ist?

Nach neun Stunden intensiver Debatten sind die Teilnehmenden erschöpft. Die Stimmung im Saal ist heiter, gelöst: Schulterklopfen, Hände drücken. Urs Sprenger geht reihum, verabschiedet sich – auch von den AssistentInnen des Anlasses. Fragt beinahe schüchtern nach einem zweiten der Biskuitbären, die zum Abschied verteilt werden. Schliesslich habe er zwei Kinder. Was er aus der Veranstaltung mitnimmt? Antworten auf seine persönlichen Fragen, darauf, was er selbst konkret machen könnte, habe er keine bekommen, sagt er.

Am Sonntagmittag um 11.53 Uhr kommt die letzte Meldung über den Newsticker auf wwviews.org: «Die Resultate sind jetzt vollständig.»


«WWViews on Global Warming»

Welche klimapolitischen Prioritäten setzen BürgerInnen aus so unterschiedlichen Nationen wie Brasilien, Schweden, Kamerun oder Australien? Was meinen China und die USA, die zusammen für vierzig Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich sind? Vordergründiges Resultat: Es gibt kaum Unterschiede. Neun von zehn BürgerInnen weltweit erachten ein Klimaabkommen als dringend notwendig und finden, Industrieländer sollten ihre Emissionen bis 2020 um mindestens 25 bis 40 Prozent verringern. Insgesamt betrachtet weichen die Meinungen und ihre Verteilung auch in der Gegenüberstellung von Industriestaaten und den am wenigsten entwickelten Ländern meist nur unwesentlich voneinander ab. Das widerspiegelt wohl vor allem eines: die normierten Fragen und extrem eng gefasste Antwortmöglichkeiten.

Erst die individuell formulierten Empfehlungen bringen die Unterschiede zwischen den Ländern deutlich zutage und werfen auch die Frage auf, ob es sich bei den fast identischen Resultaten aus den Fragebogen überhaupt um mehr als Lippenbekenntnisse handeln kann. China fordert öffentliche Aufklärung über Umweltschutz, die USA, Russland und eine Reihe weiterer Länder setzen vor allem auf technologische Entwicklung und Technologietransfer. Am innovativsten zeigt sich Bangladesch: Seine BürgerInnen wollen ein internationales Klimagericht, das Klimasünder verurteilen kann und Klimaopfern eine Chance gibt, Reparationsforderungen zu stellen.

www.results.wwviews.org