«Du stirbst nicht»: Aus den Falten der Wörter gelockt

Nr. 41 –

In ihrer autobiografischen Krankheitsgeschichte «Du stirbst nicht» beschreibt Kathrin Schmidt das (wieder) «zur Sprache kommen» nach einem Hirnschlag. Auch die meisten LeserInnen betreten damit wohl Sprachneuland.


Schwere Krankheit ist Grenzerfahrung. Das gilt für den individuellen Fall ebenso wie für das kollektive Gedächtnis, und wo sich die damit befassten Aufräumarbeiten nicht medizinisch und sozialhygienisch, sondern symbolisch niederschlagen, wird in glücklichen Fällen daraus sogar Weltliteratur. Susan Sontag verdanken wir die Einsicht, dass jedes Zeitalter seine eigenen Phantasmagorien über die Krankheit entwickelt und bestimmte Krankheitsmetaphern in den Verkehr bringt, gegen die sich zu wappnen ein Akt des politischen Widerstands ist.

Was die Schwindsüchtigen für das neurasthenische Zeitalter um die Jahrhundertwende waren und die Krebskranken für den zerstörerischen Frass der Überflusszivilisation, hat nun, wie unlängst das Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) entdeckte, einen neuen Handlungsort gefunden: Die Krankheit, schreibt Felicitas von Lovenberg, sitze nun nicht mehr in den Körpern, sondern in den Köpfen – mit bemerkenswerter Verneigung vor René Descartes und seiner Körper-Geist-Trennung, die man sich in den Fürsorgestätten der Hochkultur eben noch leistet.

Nach dem Koma

Eine beiläufige Erwähnung zwischen kleineren und grösseren Kult- und PopautorInnen wie Philip Roth, Stieg Larsson, Wilhelm Genazino oder Sarah Kuttner findet im FAZ-Beitrag auch der Roman der aus Ostdeutschland stammenden Kathrin Schmidt, der als Beispiel für die abgegriffene Formel «Krankheit als Chance» angeführt wird – eine Wortwendung, die in der heutigen Krise wieder auferstanden ist als politische Tröstung angesichts des blamierten Kapitalismus. Dabei fällt Schmidts Roman mit dem programmatischen Titel «Du stirbst nicht» schon deshalb aus der Reihe, weil er eine tief greifende autobiografische Erfahrung verarbeitet: Vor einigen Jahren platzte ein Blutgefäss im Gehirn der Autorin, das ein lebensgefährliches Hämatom bildete und sie lange Zeit ausser Gefecht setzte.

Dieses sogenannte Aneurysma, das auch Schmidts Protagonistin, die 44-jährige Helene Wesendahl, niederstreckt, ist Krankheit und Zeichen zugleich. Denn der infolge eines Herzfehlers entstandene Riss im Gehirn zieht nicht nur eine einseitige Lähmung der Gliedmassen nach sich, sondern katapultiert die Patientin, als sie aus dem künstlichen Koma erwacht, in eine Orientierungs- und Sprachlosigkeit, die auch metaphorisch gelesen werden kann.

Zunächst kämpft Helene Wesendahl mit ihrer Angst: vor dem nahen Tod und vor dem Ausgeliefertsein an eine fremdbestimmte Intensivversorgung, die sie nicht beeinflussen kann. Dazu kommt eine retrograde Amnesie, sie kann sich an nichts mehr erinnern, was vor dem Platzen des Aneurysmas passiert ist. Nur mühsam ordnet sie Matthes, der sie täglich besucht und liebevoll umsorgt, als Ehemann ein, die fünf Kinder bleiben zunächst nur Schemen aus einem früheren Leben. Sie spürt, dass Matthes ihr etwas verheimlicht, doch sie kann sich nicht mit ihm verständigen.

Vorsichtig sucht Helene nun Haltelinien in den abhanden gekommenen Worten. Immer wieder führt eine Situation zu einem Zipfelchen ihres früheren Lebens, das sie fassen will, sie «übt erinnern». Doch was sie fühlt, fällt über sie her, sie kann sich nicht ausdrücken, «es» hat ihr im wahrsten Sinn des Wortes «die Sprache verschlagen», es bleiben nur Fratzen, «Spuckefallen» und Situationen, die sie beschämen bei jeder Mahlzeit, jedem Toilettengang und jedem Missverständnis im klinischen Ablauf. Als nicht kooperativ und unbequem gilt die Patientin, weil sie sich den Routinen entzieht, Diagnosen infrage stellt, trotz allem auf ihrer Autonomie besteht.

Während sich Helene motorisch langsam und von Rückfällen begleitet erholt und das Leben sie wieder einholt, «gräbt sie Kanäle in die Vergangenheit», nähert sich dem Ungesagten, dem ihr Vorenthaltenen: Dass es da eine Trennung gab von Matthes – und eine Viola, in der «ein Kerl» wohnt, der sie nicht sein will. Was die intersexuelle Viola an Zurichtung am Körper und als Identitätskrise erlebt hat, wiederholt sich noch einmal angesichts von Helenes Krankheit: «Ich wollte», sagt Viola einmal prophetisch zu ihr, «den Riss spüren, den das in dir auslöst, und hineinfallen». Es ist dann der Riss im Gehirn, durch den Helene fast aus dem Leben fällt.

«Auf dem Kopf»

In einem genau ausbalancierten Zeit- und Szenenwechsel zeichnet Schmidt das (wieder) «zur Sprache kommen» nach – das wieder zur Sprache Kommen der Rekonvaleszentin ebenso wie das einer Vergangenheit, die aus den Falten der Wörter gelockt werden muss. Formal funktioniert der Roman spannend wie ein analytisches Drama, sprachlich wirkt er assoziativ, aus jedem erinnernden Schritt gewinnt Helene wortsensibles Neuland und öffnet die Ventile von Schmidts lyrischer Sprachvirtuosität, die mit ihrer psychologischen Genauigkeit eine fruchtbare Allianz eingeht.

Manchmal, hat man das Gefühl, reisst die Fabulierlust sie zu sehr mit. Manches Thema, das Viola umkreist, wirkt etwas klischeehaft ausgewalzt, und ihrer aus früheren Arbeiten bekannten Neigung zu Abschweifungen ist die Autorin auch diesmal nicht Herr geworden. Was beispielsweise eine Geschichte über Wladimir Putin im Buch soll, weiss nur die Schöpferin allein. Ein am Ende eingefügtes Lenz-Essay dagegen wirkt zumindest als literaturhistorischer Verweis stimmig: Wie der unglückliche Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz geht auch Schmidt «auf dem Kopf», bis sie wieder auf die Beine kommt. Keine Zu-früh-Geborene. Eine Wiedergeborene mit offenen Wegen.

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2009. 347 Seiten. Fr. 34.40