Medientagebuch: Land unter

Nr. 41 –


Am 26. September verschwanden die lustigen Statusmeldungen auf Facebook. Mein philippinischer Freundeskreis verwandelte sich in ein ausuferndes Notstandskomitee. Zuerst kamen Hilferufe: Die Grossmutter sitzt auf ihrem Dach fest, hat jemand Zugang zu einem Boot? Hat jemand Neuigkeiten von meiner Schwester?

Während in den ersten internationalen Pressemeldungen stand, das philippinische Militär sei mit Gummibooten im Einsatz, war auf Facebook zu lesen, dass in ganz Quezon City – der grössten Teilstadt der 15-Millionen-Metropole Manila – gerade mal zwei staatliche Gummiboote gesichtet worden seien. Ein über YouTube verbreitetes Video von Verteidigungsminister Gilberto Teodoro zeigte propere Notfallunterkünfte und rief die Bevölkerung auf, wichtige Dokumente immer in Plastikbehältern aufzubewahren: «Heute bereiten wir uns vor, morgen bleiben wir heil!» Die Kommentare auf Facebook waren vernichtend.

In der NZZ erschien eine Kurzmeldung zum Sturm in den Philippinen. In der «Tagesschau» war eine überflutete Strasse zu sehen, Menschen flohen bis zum Hals im Wasser. Hauptthema war aber die Verhaftung von Roman Polanski. Die Schweizer Zeitungen berichten aus den Philippinen schon länger nur noch indirekt, zum Beispiel via Hongkong, die Korrespondentennetze werden weiter zusammengestrichen; es bleibt also das Internet. Hier jedoch verwandelt sich das Ausland – je nach Freundeskreis – in eine zweite Realität: Das schöne Herbstwetter erscheint unwirklich – die Aussicht aus dem Fenster ist kaum von einem Poster zu unterscheiden, denn in Wirklichkeit werde ich aufgerufen, mich mit einem Vierradantrieb für Evakuierungen zur Verfügung zu stellen. Und die erste persönliche Bitte um finanzielle Unterstützung trifft ein, via Chat: Einer befreundeten Familie ist der ganze Hausrat kaputt gegangen, als Erstes muss ein neuer Herd gekauft werden. Für mehr Information reichts nicht, in Manila ist die Zeit im Internetcafé abgelaufen.

In den Agenturmeldungen steht, dass achtzig Prozent der Metropole überflutet und 450 000 Menschen betroffen seien. Wer rechnen kann, merkt, dass achtzig Prozent von 15 Millionen Menschen nicht 450 000 ergibt. Als «Betroffene» werden nur die total Obdachlosen gezählt. Die kleinen Betroffenheiten des Mittelstands finden sich auf Facebook: Ein Auto ist davongeschwommen, ein Dach kaputt. Aus einem Zoo seien zwei Krokodile entkommen, sie schwimmen jetzt im Pasig River. Ein Freund, der in einem der seltenen mehrstöckigen Wohnblocks lebt, verfügt auch während des Sturms über einen intakten Stromanschluss und lädt eine Weltkarte auf seine Facebook-Seite. Darauf ist die Ausdehnung der Kontinente ihrem prozentualen Anteil am weltweiten CO2-Ausstoss angepasst. Die Philippinen sind kaum zu sehen, während Japan weit in den Pazifik hinunterreicht, Europa erdrückt Afrika, Asien ist geschrumpft.

Dass Manila schon in der zweiten «Tagesschau» nach dem Taifun nicht mehr vorkam, regte mich auf. Fünfzehn Minuten Polanski-Posse waren jetzt schwer zu ertragen. Aber Hand aufs Herz: Die nachfolgenden Überschwemmungen in Vietnam berührten mich kaum. Es fehlte mir – anders als bei Manila – die persönliche Erinnerung. Etwa daran, dass auch bei normalen Hochwassern immer Kinder starben, die beim Planschen in den Strassen in unbedeckte Abwasserkanäle stürzten. Jedes Jahr erfolgten mediale Aufrufe an die Stadtverwaltung, endlich die fehlenden Dolendeckel zu ersetzen. Doch die Behörden sind «vergesslich», die Armenviertel wachsen weiter im Schwemmland der Flüsse, die Sturmwarnungen kommen bei der Bevölkerung nicht an.

Dass solche Zustände in den internationalen Medien an Sensationswert verlieren, überrascht mich nicht. Es stellt sich nur die Frage, was im Westen überhaupt von der Welt wahrgenommen wird. Die Klimakatastrophe findet nicht in einem grossen Knall statt, sondern in vielen Ereignissen, die sich gleichen. Die Medien haben dafür noch keine Sprache gefunden, und wir müssen uns mit Facebook behelfen.

Annette Hug ist Autorin und Gewerkschaftssekretärin in Zürich.