«Havanna im Spiegel»: Einfach nur sein, das reicht nicht

Nr. 43 –

In ihrem bemerkenswerten Buch erinnert sich die in den USA lebende Journalistin Alma Guillermoprieto an ihre Zeit als Tanzlehrerin 1970 in Kuba.


Es ist der bedrückende Bericht einer Augenzeugin über Kuba im Jahr 1970, den die in Mexiko aufgewachsene, in den USA lebende Journalistin Alma Guillermoprieto Jahrzehnte nach ihrem Aufenthalt auf der Insel geschrieben hat. Bedrückend nicht nur der nachgestellten Einschätzung wegen, derzufolge das heutige Kuba zur touristischen Kuriosität verkommen sei, sondern weil es in ihrem Buch um mehr als um «eine Erinnerung an die Revolution» geht. Guillermoprieto erinnert sich auch an die unglückliche junge Frau, die sie war, als sie für sieben Monate von New York nach Havanna wechselte, um an der Nationalen Kunstschule Modernen Tanz zu lehren.

So kommt es, dass ihre Selbstzweifel, ihre schwierige Mutterbeziehung und ihr Empfinden, nicht hinreichend begabt zu sein, den Blick auf die kritikwürdigen Vorgänge an und ausserhalb der staatlichen Kunstschule zusätzlich verdüstern. Manchmal stellt sich der Verdacht ein, dass die Ereignisse allzu sehr aus heutiger Sicht wahrgenommen werden, weniger mit den Augen der 21-Jährigen als mit dem Wissen der knapp 60-Jährigen, die sich revolutionäre Hoffnungen aus Erfahrung verbietet.

Anspruch und Verdienst

«Havanna im Spiegel» ist trotzdem ein bemerkenswertes Buch. Einmal, weil es der Nostalgie keinen Platz einräumt; zum andern, weil seine Protagonistin keine Erwartungen mitbringt und die kubanische Wirklichkeit nicht an eigenen Vorurteilen misst. Europäische LeserInnen mag überraschen, wie stark Guillermoprieto von der US-amerikanischen Einstellung geprägt ist, derzufolge Gesundheit eine Privatsache sei. Als sie gleich nach ihrer Ankunft wegen einer belanglosen Infektion in einem Krankenhaus gepflegt wird, reagiert sie eher unwillig, fast verstört darauf, dass ihr die Fürsorge nicht als einfache Dienstleistung, sondern als Belohnung für moralisch hochstehendes Verhalten zuteil wird.

«In Mexiko war meine Lungenentzündung vom Freund einer Freundin behandelt worden, der zufällig Mediziner war. Auch in New York hatte ich normalerweise karitativ eingestellte Ärzte oder kommunale Gesundheitszentren aufgesucht. In Havanna jedoch hatte ich gerade die erste vollständige Untersuchung meines Lebens über mich ergehen lassen, inklusive Röntgenaufnahmen, Tests und drei Tage Krankenhausaufenthalt. Und das alles sollte mich keinen Cent kosten. Oder besser gesagt: Man hatte mich gerade davon in Kenntnis gesetzt, dass diese Behandlung so etwas wie eine Prämie für ein bestimmtes Verhalten sei, für eine Einstellung zur Welt, die von meinem Mut und meinem sozialen Engagement zeuge. Dabei war mir diese Art von Zahlungsmittel überhaupt nicht gegeben.»

Für Guillermoprieto ist die Wechselwirkung von Anspruch und Verdienst eine Falle, nicht eine Errungenschaft der Revolution: Wenn Menschen etwas schaffen oder fordern, das scheinbar oder tatsächlich dieses moralischen Verdienstes entbehrt, verlieren sie jeden Anspruch auf Zuwendung: KünstlerInnen etwa, die sich einer Disziplin verschrieben haben, für die sich ein gesellschaftlicher Nutzen nicht nachweisen lässt.

Revolutionäre Kunstfeinde

Die junge Alma, von der die ältere schreibt, sie sei nicht nur keine Revolutionärin, sondern habe auch keine Ahnung von Politik, merkt dies erst während ihrer Bemühungen, den StudentInnen die Prinzipien des Choreografen Merce Cunningham beizubringen. «Wie sollte man einem Jungen, der während der Revolution aufgewachsen war, erklären, dass das wichtigste Wort in Merces Vokabular ‹still› war? Diese Silbe brachte Cunninghams ganze Haltung gegenüber dem Leben und dem Tanz auf den Punkt, und sie liess sich nicht einmal ins Spanische übersetzen. ‹Stillness› ist jene Ruhe, die die Dinge und die Menschen erlangen, wenn sie kein Bewusstsein von sich haben, wenn sie einfach nur sind, ohne Zweck und Ziel. ‹Bewusstsein› war dagegen Fidels Schlüsselwort – Selbstbewusstsein, Klassenbewusstsein, revolutionäres Bewusstsein –, und auf Kuba war ein Mensch ohne Zweck und Ziel schlicht und einfach undenkbar – ausser natürlich, es handelte sich um einen Faulpelz, der, wie Fidel zu jener Zeit immer häufiger zu fordern begann, ins Gefängnis gehörte.»

Es war nicht nur dieser Widerspruch, der sich während Guillermoprietos Aufenthalt in Havanna zum offenen Konflikt zwischen Schulleitung und StudentInnen zuspitzte. Dazu kam auch das Misstrauen der Funktionäre gegenüber jeder Art von Kunst, die sich der ökonomistischen Logik entzieht – und ihre latente Furcht vor Homosexualität, die in offene Aggressivität umschlug: Der Direktor der Schule, der einst mit Fidel Castro in der Sierra Maestra gekämpft hatte, wischte das Plädoyer eines Studenten für bessere Ausbildung mit dem Argument vom Tisch, einer Schwuchtel brauche man nicht zuzuhören. Dabei war die Schule Mitte der sechziger Jahre gerade deshalb eingerichtet worden, weil man Modernen Tanz für weniger effeminiert hielt als das Ballett, «so dass die Jungen, die Tanz studieren wollten, nicht so grossen Gefahren ausgesetzt waren».

Alles für die Rekordernte

1970 war nicht nur das Jahr, das dem «Quinquenio gris» vorausging, dem «Grauen Jahrfünft», in dem viele KünstlerInnen und Intellektuelle verfolgt, Theater geschlossen, Filme und Zeitschriften verboten wurden; es war auch die Zeit, in der das gigantische Unternehmen endete, das Land mit einer Zuckerrohr-Rekordernte aus der Abhängigkeit von der Sowjetunion zu befreien.

Für dieses Ziel waren alle anderen Wirtschaftszweige vernachlässigt worden, sodass beim Scheitern der Rekordernte Kuba schlimmer dastand als zuvor. Auch darüber berichtet Guillermoprieto in ihrem verhaltenen Tonfall, nicht ohne Sympathie für Fidel («das einzige echte kulturelle Phänomen, das diese Gesellschaft je hervorgebracht hat», einem ihrer kubanischen Freunde zufolge), aber doch mit einigem Erstaunen über sein volkswirtschaftliches Credo, dass alles «nur eine Frage von Willensstärke und richtigem Handwerkszeug» sei.

Der Titel der deutschen Ausgabe ist der Tatsache geschuldet, dass alle Spiegel aus den Räumen der Kunstschule entfernt worden waren, im Glauben, der Spiegel sei lediglich ein Symbol bourgeoiser Dekadenz, nicht ein unerlässliches Medium, mit dem die TänzerInnen ihre Arbeit verbessern können. So gesehen sind die abmontierten Spiegel auch Sinnbilder einer Gesellschaft, in der die Herrschenden darauf verzichten, sich und ihre Handlungen zu überprüfen. Tun sie es doch, kann es ihnen wie der jungen Alma ergehen, die sich nach Monaten wieder im Spiegel einer Krankenhaustoilette betrachtete. «Aber ich sah niemanden darin, mit dem ich mich hätte anfreunden können.»

Alma Guillermoprieto: Havanna im Spiegel. Eine Erinnerung an die Revolution. Aus dem Spanischen und Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag. Berlin 2009. 296 Seiten. Fr. 42.90