Chur: Am Ende der Nacht

Nr. 44 –

Seit einem Jahr ist hier das restriktivste Polizeigesetz der Schweiz in Kraft: Trinken darf man nur noch drinnen, rauchen nur noch draussen. Nun regt sich bei den Jugendlichen Widerstand.


«Chur ist einfach scheisse», sagt der 28-jährige Roman, als sein Freund sich erkundigt, wo heute noch etwas läuft. Es ist 1.20 Uhr an einem Samstag in der Unteren Gasse. Roman und seine beiden Kumpels stehen unschlüssig vor den geschlossenen Lokalen, die eine Hand in der Jackentasche, in der anderen eine Zigarette. Sie sind die Letzten auf der Churer Partymeile. Um 1 Uhr ist Polizeistunde in der Altstadt. Restaurants und Bars sind hier so zahlreich, dass Einheimische gerne erwähnen, dass Chur eine der höchsten Beizendichten der Schweiz aufweise.

Roman ist seit zwölf Jahren in der Unteren Gasse anzutreffen. Es bleibe ihm ja nichts anderes übrig, meint er grantig. Die nächstgrössere Stadt ist Zürich und 120 Kilometer entfernt. Der Churer Ausgang sei nie das Nonplusultra gewesen. Die Clubs liessen sich an einer Hand abzählen, und für grössere Konzerte müsse man ins Unterland fahren. Im Winter sei es etwas besser, dann sorgen die Skiorte für Abwechslung. Trotzdem fand er das Churer Nachtleben bis vor einem Jahr attraktiver: «Die Untere Gasse war immer pumpenvoll und die Stimmung netter als heute», erzählt er. Ein Bekannter aus Zürich habe mal gesagt, die Atmosphäre in der Unteren Gasse erinnere ihn an die spanische Partystadt Lloret de Mar. Eine Menge Leute, Musik und gute Stimmung. Heute hört man nach Mitternacht das Laub über die Pflastersteine wirbeln.

Endlich etwas unternehmen

Die Musik in der Q-Bar und in der «Schickeria» ist längst verstummt, Theken werden geputzt, Lichter gelöscht. Einzig das Street Café darf die Türe heute bis 3 Uhr offen lassen. Vor wenigen Stunden kämpfte zwischen dunkelroten Kunstlederbänken und schwarzer Theke die Junge CVP Bündner Rheintal an einem Informationsanlass für eine Lockerung des Polizei- und Gastronomiegesetzes. Deshalb auch die Verlängerung. Claudio Balzer, Wirt des Street Cafés, kann – wie jeder Wirt in Chur – sechsmal im Jahr eine Einzelbewilligung beantragen, um bis maximal 4 Uhr zu verlängern.

Um 20 Uhr zeigte die Junge CVP mit einer Powerpoint-Präsentation die drei Punkte auf, die sie ändern möchte. Sie wolle etwas gegen die frühzeitige Schliessung der Lokale unternehmen, gegen die Bussen für das Biertrinken auf der Strasse und das Verbot, Kebab über die Gasse zu verkaufen. «Chur wird heute als Stadt der Verbote wahrgenommen», verkündete Remo Decurtins, Präsident der Jungen CVP Bündner Rheintal.

Insgesamt versammelten sich rund achtzig Leute vor der Beamerprojektion, die meisten Mitte zwanzig. Kommuniziert und Leute mobilisiert hatte die Jungpartei im Vorfeld ausschliesslich über Facebook. 2400 Leute sind der Facebook-Gruppe «Wir müssen endlich was gegen das Churer Polizeigesetz unternehmen» beigetreten.

Die JungpolitikerInnen erklärten, dass sie mit dem Stadtrat das Gespräch suchen wollten und sich dieser auch dazu bereit erklärt habe. Der Name des Stadtratspräsidenten Christian Boner fiel. Kurz Unruhe im Publikum. Boner war in den letzten Jahren massgeblich an der Schaffung der neuen Gesetze beteiligt.

Nach der Veranstaltung stand Decurtins vor dem Street Café auf der Unteren Gasse und diskutierte angeregt mit Lukas Horrer, dem Präsidenten der Juso Graubünden. Dieser hatte sich nach dem Referat der Jungen CVP zu Wort gemeldet und seine Enttäuschung kundgetan, dass die Junge CVP sich erst jetzt engagiere. «Wir haben uns bereits vor den Abstimmungen aktiv gegen das neue Polizeigesetz eingesetzt und die Junge CVP um Unterstützung gebeten, aber diese lehnte damals ab», sagte Horrer. Dennoch war er zuversichtlich, dass eine «breite Front» der Jugend viel bewegen kann.

«Wir sind überzeugt, dass wir handeln müssen, wir haben den Rückhalt der Jugendlichen während der Veranstaltung gespürt», sagte Decurtins. Dass nicht schon längst etwas gegen die neuen Gesetze unternommen wurde, müssen sich alle Jugendliche aus Chur und Umgebung vorwerfen, fand der Präsident der Jungen CVP Bündner Rheintal. Für die Sache will man selbst mit den Jungfreisinnigen zusammenspannen. Auch juristische Schritte seien eine mögliche Option, meinte Horrer. Schliesslich seien essenzielle Grundrechte betroffen.

Busse fürs Trinken

Der Widerstand ist noch jung, auch wenn der Unmut über die neuen Gesetze schon lange gärt. Das Churer Polizeigesetz wurde vor eineinhalb Jahren erneuert. Die Mehrheit der StimmbürgerInnen hiess damals gut, dass «suchtmittelfreie Zonen» eingeführt werden und auf der Gasse zwischen 0.30 Uhr und 7 Uhr kein Alkohol mehr getrunken werden darf. Bei Verstössen kann die Polizei auf der Stelle Ordnungsbussen von fünfzig Franken erteilen und Personen von öffentlichem Grund wegweisen. Schliesslich werden Plätze und Pärke «observierend» von Videokameras überwacht. Das heisst, dass die Kameras auf die Überwachung von Strassen und Plätzen abzielen und nicht auf Personen gerichtet sind. Der Gemeinderat hat sich erst vergangene Woche zum zweiten Mal gegen eine Vorlage der Stadtregierung ausgesprochen, die eine Gesetzesgrundlage zur Personenidentifizierung schaffen sollte.

Mit ein Grund für die Änderungen im Polizeigesetz waren randalierende Jugendliche, die sich prügelten und Dreck und Lärm verursachten. Für das Polizeigesetz mit Videoüberwachung wurde das Stadtparlament Chur für den Big Brother Award 2009 nominiert, unterlag aber den Überwachern des Post- und Fernmeldeverkehrs.

Im Street Café ist der Protest der Jugendlichen inzwischen verstummt. Der DJ spielt «Kaltes klares Wasser» von Chicks on Speed, drei Frauen bewegen sich in der hintersten Ecke der Bar zur Musik. Trotz Verlängerung haben die meisten Gäste das Lokal wie gewöhnlich um 1 Uhr verlassen. Wieso? «Weil die Leute das so gewohnt sind und wir die Verlängerung nicht kommuniziert haben», sagt Wirt Claudio Balzer.

Das mit den Jugendlichen sei ein gesellschaftliches Problem, das habe nichts mit den Öffnungszeiten zu tun, sind vier Männer zwischen dreissig und vierzig Jahren überzeugt, die in der Raucherlounge im ersten Stock des Street Cafés sitzen. Die Eltern seien zu wenig zu Hause, würden zu wenig in die Erziehung investieren, keine Wertesysteme vermitteln. Das Übliche halt. «Etwas kaputt machen, damit etwas kaputt geht, das haben wir nicht getan», poltert der eine. Die Männer kommen in Fahrt. «Ein Disziplinproblem», ruft ein anderer. «Wenn einer auffällig wird, sollte man ihn in den Arrest stecken.» Was die Männer am meisten trifft: Während des Churerfests wird die Polizeistunde nicht verlängert. «Da kommen 30 000 Leute, und dann schicken sie dich um 1 Uhr nach Hause», regt sich ein dritter auf.

Frau Engel schläft gut in der Unteren Gasse, ihre drei kleinen Kinder auch. Die seien noch nie aufgewacht wegen Lärm am Wochenende. Sie selbst höre manchmal die Gäste vor dem gegenüberliegenden Lokal, wenn diese die lauen Sommerabende geniessen. Während der Fussball-EM vor einem Jahr habe sie nie etwas gehört – es war ein regnerischer Sommer. Frau Engel lebt seit neun Jahren in der Altstadt und sagt, man gewöhne sich an die Geräuschkulisse, so wie sich andere an den Fluglärm gewöhnen. «Und wenn es mir mal zu laut ist, schlafe ich mit Ohrenpfropfen», fügt sie an. Einen Unterschied seit dem Inkrafttreten des neuen Polizeigesetzes bemerke sie nicht. Aber sie fände es dennoch gut, dass die Leute die Altstadt um 1 Uhr verlassen müssen.

In die Nachbardörfer

Auch Roman, der Bankangestellte, gehorcht – wie all die anderen Partygänger vor ihm – und zieht mit seinen Kumpels von der Unteren Gasse weiter ins Rotlichtviertel Welschdörfli, wo die Bars zwei Stunden länger, bis um 3 Uhr, offen sein dürfen. Früher waren sie sogar bis um 6 Uhr geöffnet. Das Rotlichtviertel liegt nur wenige Fussminuten von der Altstadt entfernt, auf der anderen Seite des Flusses Plessur. Im Welschdörfli ist ein wenig Lloret de Mar übrig geblieben. Auch wenn die Temperaturen die Nullgradgrenze berühren und der Alkohol von der Strasse verbannt wurde. Am Wochenende hat es geschneit, die Berge rund um Chur tragen weisse Mützen. Trotzdem hängen Menschentrauben am Strassenrand. Lachend, rauchend, Händchen haltend. In Chur sind die Lokale seit März 2008 rauchfrei. Wer rauchen will, muss auf die Gasse, wer trinken will, ins Lokal. Beides zusammen geht in Chur nicht mehr – jedenfalls nicht ohne separate Raucherlounge.

Ismail Sheko, der im Welschdörfli einen Kebabstand betreibt, fühlt sich durch die Verschärfungen doppelt bestraft. Sechzig Prozent des Umsatzes macht er nach 24 Uhr. Er musste einer Person kündigen und arbeitet heute an sieben statt fünf Tagen die Woche. Das grösste Problem für ihn aber ist, dass er gebüsst wird, wenn sich die Leute mit Nahrung in der Hand vor seinem Lokal aufhalten. «Wenn die Leute ihren Kebab mit nach Hause nehmen, müssen sie ihn verstecken», bedauert Sheko. Nach Mitternacht ist nicht nur Alkohol auf der Gasse verboten, es darf auch nichts mehr gegessen werden.

Ein Jugendlicher mit Krücken versteckt seine Wodkaflasche unter dem grauen Kapuzenpullover. Das funktioniert nicht recht, deshalb muss er immer wieder innehalten und seine Flasche zurechtrücken. In einer Seitenstrasse stolpert ein Mann über eine Bierflasche, und auf der Obertorbrücke steht ein halb leerer Café-de-Paris-Sekt. Ansonsten liegen im Welschdörfli keine Scherben, keine Plastikbecher, kein Papier auf der Strasse. Am Wochenende ist der Strassenabschnitt Welschdörfli für die Autos nachts gesperrt. Nur Taxis rollen um diese Zeit vorbei. Und Polizeiautos patrouillieren im Schritttempo alle zehn Minuten.

Es ist 2.30 Uhr. Eine halbe Stunde Vergnügen bleibt. In den Kebabbuden des Welschdörfli stehen die Menschen Schlange. Einige nehmen Grossbestellungen auf und fahren mit ihren griechischen Salaten, Pommes frites und Megadürüms – mit doppeltem Inhalt – im Taxi nach Hause. Die meisten schlingen ihre Bestellung im Lokal runter und stehen vor 3 Uhr wieder auf der Strasse. Um 3.03 Uhr schalten die Angestellten die ersten Lichter aus. Das Partyvolk macht sich auf den Heimweg oder zieht weiter in eines der Nachbardörfer. Diese werben jetzt nämlich damit, dass bei ihnen die Bars bis um 7 Uhr geöffnet haben.

Weil alle auf einmal gehen, erinnert das Ende des Ausgangs an das Ende eines Fussballspiels. Die Leute wissen: Für heute ist es vorbei. Aber noch ist nicht entschieden, wie weit es die eigene Mannschaft bringt und welches Team als Sieger triumphiert.