Bergnamen: Grabsteine für die Ewigkeit

Nr. 46 –

Manche sind von kantiger Gestalt und dominieren die Umgebung, andere haben flache Gipfel und sind kaum auszumachen. Aber alle Berge tragen mittlerweile einen Namen. Das war nicht immer so.


Es gibt diese Stelle im «Heidi», wo Peter sie das erste Mal zu den Alpweiden hinauf mitnimmt. Sie ist komplett hin und weg und gerät, als dann der Abend kommt, so aus dem Häuschen, dass man sich fast ein wenig Sorgen machen muss («Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen und der grosse Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!»). Peter tut abgebrüht (er kennt das alles ja), und Heidi schreit und schwärmt weiter: «O sieh, sieh, auf einmal werden sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen, spitzigen Felsen! Wie heissen sie, Peter?!» Darauf Peter trocken: «Berge heissen nicht.»

Eine schöne kleine Satire hat Johanna Spyri da geschrieben auf namenbesessene Berggänger und diesbezüglich gleichgültige BergbewohnerInnen. Denn tatsächlich, Berge hiessen früher nicht. Oder jedenfalls kaum. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat man sich darangemacht, jede Spitze, jeden Grat und jeden Rücken fein säuberlich mit einem Namen zu versehen.

Natürlich gab es auch schon vorher Namen für markante Berge. Doch kam nur einer kleinen Minderheit diese Ehre zuteil. Zur Zeit der Römer waren einige wenige Bergübergänge der Alpen bekannt und benannt, Gipfelnamen gab es kaum ein Dutzend. Denn Flurnamen werden nicht zum Vergnügen verteilt, sondern aus ganz praktischen Erwägungen. Deshalb wurden in Berggebieten vorwiegend die tieferen Lagen benannt: Siedlungen, Weideplätze, Lawinenhänge. Und auch wenn es mal höher hinaufging, blieb der praktische Nutzen Bedingung bei der Etikettierung. Alpweiden bekamen Namen und immer mehr Übergänge, selten auch mal eine Spitze, die der Orientierung diente. Ansonsten war das Hochgebirge Ödland im wahrsten Sinn, der Mensch hatte da nichts zu suchen, also brauchte er auch keine Namen, die ihm beim Finden hätten helfen können.

Streit ums Weideland

Allmählich siedelten sich immer mehr Menschen auch im Alpenraum an, und im 15. Jahrhundert waren die Schweizer Alpen langsam vergeben. Es kam vermehrt zu Streitigkeiten um Weideland, und so begann man klare Alpgrenzen zu ziehen. Dafür wurden sogenannte Grenzbeschreitungsprotokolle angelegt. In ihnen wird der genaue Verlauf der Grenze beschrieben, und dazu war es hilfreich, auch markante Hügel und Bergspitzen zu nutzen, die dann natürlich einen Namen brauchten. Diese Protokolle sind die ersten Quellen, die Aufschluss über alte Bergnamen geben.

Oft kamen Berge so ganz zwanglos zu einem Namen, indem man sie einer Alpweide zuordnete. Der Berg hinter der Alp Chalbertal im Muotatal beispielsweise heisst ganz einfach Chalbertalstock. Andere Berge waren Zeiger in der alpinen Sonnenuhr: Es gibt eine ganze Menge Berge, die den Mittag anzeigen (weil dann die Sonne über ihnen steht): Mittagshorn, Dents du Midi, Piz Mezdi, Zwölfihora. Und auch das Zweihora beschreibt nicht eine Doppelspitze, sondern eine Uhrzeit. Noch einfacher war die Beschreibung von Aussehen oder Beschaffenheit: beim Weissenstein zum Beispiel, beim Wysshorn oder bei den Rothörnern, von denen es allein in der Schweiz ein gutes halbes Dutzend gibt. Genau gleich auf Französisch, Italienisch oder Rumantsch: Mont-Rouge, Tête-Noire, Pizzo Bianco, Piz Cotschen (rot), Piz Nair (schwarz). (Nur beim Monte Rosa stimmt das nicht so. Nicht das rosarote Licht, das die aufgehende Sonne auf die Ostflanke wirft, hat dem Massiv den Namen gegeben, sondern der Appellativ «rosa» – der bedeutet Gletscher.)

Die Spitzen der Unterwelt

Es geht aber auch fantasievoller: Der Chratzerengrat bei Braunwald beispielsweise heisst so, weil er stark zerklüftet, also «zerkratzt» ist. Und der Diesrut bei Vrin ist wörtlich ein «gebrochener Rücken». Sehr schön ist auch der Bös Fulen, der höchste Berg im Kanton Schwyz. Bös ist er deshalb, weil er nicht leicht zu besteigen ist und oft für Steinschlag sorgt: Er ist nicht aus solidem Gneis, sondern aus brüchigem, im Grunde also «faulem» Fels. Noch etwas expliziter ist die Etymologie des Schiesshorns. Auch dieses Massiv hat öfter mal etwas abgelassen. Die BewohnerInnen unten im Tal fanden also ganz unverhohlen, dass sie es mit einem Scheiss-Berg zu tun hatten. Und auch die Rigi ist geologisch zu ihrem Namen gekommen: «Riginen» hat man die auffälligen Schichtungen auf der Rigi-Nordseite genannt, das Wort ist seit dem 14. Jahrhundert bezeugt.

Sehr oft wird im Namen auch deutlich darauf verwiesen, wie menschenfeindlich das Hochgebirge ist, da wimmelt es von Teufeln und Höllenpforten: Les Diablerets, Piz Uffiern (von lat. infernum, Unterwelt), Unghürhörner (bei Klosters).

Bis ins 19. Jahrhundert wurden die Berge also eher zufällig und anekdotisch mit Namen versehen – es kam auch nicht selten vor, dass für denselben Gipfel verschiedene Namen in Gebrauch waren. Und noch immer gab es haufenweise namenlose Berge.

Das änderte sich erst durch zwei Entwicklungen, die direkt nicht viel miteinander zu tun haben: der einsetzende Tourismus und die exakte Landesvermessung. Als es immer populärer wurde, aus reinem Vergnügen auf jeden möglichen (und unmöglichen) Berg zu steigen, gab es bald keine Erhebung mehr, die nicht das Interesse auf sich zog. Jeder Berg verlangte nach einer Erstbesteigung, und jede Erstbesteigung nach einem Namen für das Erreichte. So wurden Berge reihenweise mit Personennamen versehen, meist kam der Expeditionsleiter der Erstbesteigung zu solchen Ehren. Beispiele dafür sind das Ulrichshorn bei Saas Fee (nach Melchior Ulrich) oder der Parrotspitz, der Pic Tyndall oder die Vincentpyramide, alle nahe der Grenze in den Walliser Alpen. Auch einer der ganz wenigen «weiblichen» Berge kam so zu seinem Namen: Die Gertrudspitze in den Berner Alpen war 1901 von der britischen Abenteurerin und Historikerin Gertrude Bell erklommen worden.

Gleichzeitig mit den ersten Kletterern zogen die Geometer in die Alpen hinauf. Und stiessen dabei nicht nur auf vermessungstechnische Probleme, wie Andrea Schorta im Buch «Wie der Berg zu seinem Namen kam» schreibt: «Die aufgrund der Landesvermessung gezeichneten exakten Karten sollten auch eine ebenso exakte Nomenklatur erhalten. Dabei mussten die Fachleute erfahren, dass wichtige Geländeteile, insbesondere im unproduktiven Hochgebirge, vielfach namenlos waren.» Erste Karten gab es zwar schon seit dem 16. Jahrhundert, doch waren sie (gerade für das Hochgebirge) meist lückenhaft und ungenau. Auf ihnen waren erst sehr wenige Gipfelnamen angegeben. Das sollte sich nun ändern.

Die Vermesser kommen

Die Kartografen berieten sich mit der Lokalbevölkerung, sie sammelten, verglichen, ergänzten. Und sie erfanden, wo es keine Hinweise gab, wohl auch einfach irgendetwas. Wie genau das vonstattenging, ist zumeist nicht überliefert. «Über diese Tätigkeit der Geometer als Namensschöpfer bestehen keine systematischen Untersuchungen», schreibt Schorta. Zumindest über eine solche Benennungsaktion ist aber ein wenig mehr bekannt: 1840 zogen ein paar Naturforscher ins Grimselgebiet, um den Unteraargletscher zu erforschen. Dabei stellten sie fest, dass die meisten dortigen Gipfel keine Namen trugen, die Lokalbevölkerung hatte sich nie um diese entlegenen Berge gekümmert. Der Beschluss war schnell (handstreichartig, wie es der Historiker Hans Fässler ausdrückt) gefasst: Die Gipfel sollten fortan die Namen der anwesenden Forscher tragen. Und so finden sich beim Grimsel heute das Desorhorn, das Escherhorn, das Grunderhorn, das Hugihorn, das Scheuchzerhorn, das Studerhorn – und das Agassizhorn (vgl. «Aufstieg zum Rentyhorn» weiter unten).

Seilbahn auf den Sambutin

Die Forscher brauchten für diese Aktion kein offizielles Mandat – die Kartografen waren froh um jede Hilfe bei der Namensvergabe. Anders sah das natürlich aus, wenn ein Berg umgetauft werden sollte. In der Schweiz ist das überhaupt erst einmal geschehen, als nämlich das Gornerhorn (von den WalserInnen ganz richtig als «starker oder grosser» Berg benannt) in Dufourspitze umbenannt wurde. Entschieden wurde das 1863 von höchster Warte, nämlich direkt vom Bundesrat. Schliesslich ging es ja auch nicht um irgendeinen Berg (sondern den höchsten der Schweiz) und nicht um irgendeinen Namensgeber – sondern um den General, Kartografen, Politiker und IKRK-Mitbegründer Guillaume-Henri Dufour.

Dass man Bergen Personennamen gibt (beziehungsweise dass man Personen mit einem Berg verewigt, ihnen gewissermassen einen riesigen Grabstein errichtet), war immer wieder Anlass zu Kritik. Tatsächlich gibt es da so etwas wie eine Disproportion. Berge (und überhaupt geografische Orte) kommen und gehen in ganz anderen Zyklen als Menschenleben. Anders sieht das aus, wenn man Strassen oder Plätze nach Personen benennt – beide gehören, könnte man sagen, derselben Domäne an.

Allerdings tragen eine Vielzahl von Bergen Personennamen, ohne dass es uns auffallen würde. Oft sind ja in der Nähe gelegene Flurnamen auf den Berg übergegangen. Und diese Flurnamen zeigen sehr oft Besitzverhältnisse an: der ehemalige Alpbesitzer findet sich dann auch noch im Bergnamen. Der frühmittelalterliche Älpler Sambutin (ursprünglich ein römischer Name: «der am Samstag Geborene») hätte sich wohl nie träumen lassen, dass sein Name heute noch den Säntis ziert. Ebenso wenig hatte ein gewisser Bernin ob Samedan damit zu schaffen, dass die Nachwelt über Jahrhunderte seinen Namen zitieren würde. Und sogar der Name der Jungfrau lässt sich über den ehemaligen Alpbesitzer erklären: An der Bergflanke liegt die Alp Jungfrauenberg, und diese war lange im Besitz des Frauenklosters Interlaken.


Aufstieg zum Rentyhorn

Ein besonderes Namensdenkmal steht im Berner Oberland – das Agassizhorn. Der 3935 Meter hohe Berg neben dem Finsteraarhorn erinnert an den Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873), der zwar ein bedeutender Wissenschaftler war, aber auch ein grosser Rassist. Die «Neger» seien «unterwürfig, kriecherisch, nachahmerisch», schrieb er, als er sich in den USA aufhielt; kurzum: eine «verderbte und entartete Rasse».

Gebührt so einem ein solch mächtiges Grabmal? Nein, argumentiert seit Jahren die Kampagne Démonter Agassiz unter Federführung des St. Galler Historikers Hans Fässler – und schlägt eine Umbenennung vor. Statt Agassiz solle Renty Namenspatron werden. Renty hiess ein Sklave aus dem Kongo, den Agassiz hatte ablichten lassen, um die von ihm behauptete Minderwertigkeit der Schwarzen zu dokumentieren. Ein Rentyhorn wäre auch Signal dafür, dass in der Schweiz ein Umdenken begonnen habe, sagt die wachsende Zahl der Agassiz-KritikerInnen; jedenfalls würde es die Mitschuld des Landes an Sklaverei, Sklavenhandel und Rassismus dokumentieren.

Doch die Behörden tun sich schwer damit. Sie sehen entweder keine Notwendigkeit für eine Umbenennung – oder schieben die Zuständigkeit auf andere. Zuletzt taten das alt Bundesrat Adolf Ogi, Präsident des Patronatskomitees, und Benedikt Weibel, Präsident der Stiftung Unesco-Welterbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch. Es sei nicht ihre Aufgabe, «die öffentliche Wahrnehmung eines Wissenschaftlers aufzuarbeiten und zu korrigieren», schrieben sie Anfang Oktober in fast gleichlautenden Briefen dem Komitee Démonter Agassiz, das ihnen die Petition Rentyhorn zugestellt hatte: «Dafür gibt es andere kompetente Stellen.» Das Komitee wird also weiterarbeiten müssen.

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