Palästina/Israel: Alle Welt kann es sehen

Nr. 46 –

Die US-Regierung hat vor Israel kapituliert, die Friedensbemühungen sind gescheitert. Derweil wünschen sich immer mehr PalästinenserInnen wieder eine militantere politische Führung.


Der Sichelmond hinter dem Minarett ist echt, der Rest Kulisse. Auf dem Dorfplatz von Saffa gibt die Wishah-Volkstanztruppe das Musical «Kamar wa Sanabel» (Mond und Ähre). Der Autor hat darin eine wahre Begebenheit verarbeitet, die tragische Geschichte des palästinensischen Widerstandskämpfers Ahmed Katamesch, der siebzehn Jahre im Untergrund lebte und seine Braut mit einem Strohmann vermählte, weil er selbst ständig auf der Flucht war.

Saffa ist ein Kaff im Westjordanland, westlich von Ramallah, nah an der Sperrmauer. Das Spiel über ungestillte Sehnsüchte und die Missgunst rivalisierender Clans geht dem Publikum unter die Haut. Es fiebert mit, lacht und klatscht. «Wenn wir untereinander zerstritten sind, verschlimmern wir nur unsere Lage», mahnt eine Frau auf der Bühne. Alle verstehen, dass das an die Adresse von Hamas und Fatah geht. Der Applaus reisst nicht ab.

«Ja», sagt Rami Hinawi, ein Mitglied der Truppe, «unsere Aufführungen übermitteln auch eine politische Botschaft. Ob die Islamisten in Gaza zum kürzlich angekündigten Urnengang im kommenden Jahr Hand bieten, können wir nicht beeinflussen.» Ob Mahmud Abbas, der Fatah-Vorsitzende und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, zu den nächsten Präsidentschaftswahlen antrete oder – wie er dies kürzlich angekündigt hat – eben nicht, das wisse vielleicht nicht einmal er selbst, sagt Hinawi. «Wir schlagen diesen Leuten aber ein paar unbequeme Wahrheiten um die Ohren. Gleichzeitig bewahren wir die Tradition des palästinensischen Volkstanzes. Alle Welt kann es sehen: Wir tanzen, also existieren wir.»

Hinawi, 28-jährig und Muslim, ist in Nablus aufgewachsen, wohnt jedoch in Ramallah. Die Stadt im Westjordanland ist Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde, der ausländischen Vertretungen und der internationalen Organisationen. Fast jede Woche geht ein neues Internetcafé, Restaurant oder Fitnesscenter auf. Wer es zu etwas bringen will, zieht dorthin. Hinawi studierte in der jordanischen Hauptstadt Amman Fernmeldetechnik, danach nahm ihn Jawwal unter die Fittiche, der bisher einzige palästinensische Provider für Mobiltelefonie.

«Wie konnte er nur?!»

Zur Arbeit trägt der Junggeselle Anzug und Krawatte. Abends mischt er sich in Jeans unters Jungvolk, das die Nächte in Ramallah zum Tag macht. Wie viele in seiner Tanztruppe sympathisiert er mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), einer Linkspartei, die friedenspolitische Ziele mit der Fatah teilt, den Kurs von Abbas allerdings oft als zu weich und wankelmütig kritisiert.

Kritik hagelte es auch Anfang Oktober. Da sickerte durch, dass Abbas auf Druck Israels und der USA einen Vorstoss in der Uno-Vollversammlung zurückgestellt hatte, laut dem mutmassliche Kriegsverbrechen im Gazastreifen vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gebracht werden sollten, wenn die Kriegsparteien nicht von sich aus Untersuchungen einleiteten. Der südafrikanische Richter Richard Goldstone hatte in einem Bericht an die Vereinten Nationen den Verdacht erhoben, dass in der israelischen Winteroffensive 2009 im Küstenstreifen beide Seiten – Israels Armee und die Milizen der Hamas – solche Verbrechen begangen haben. Nach Abbas’ Entscheid ging ein Aufschrei der Empörung durchs Land.

Inzwischen hat sich der Sturm gelegt. Abbas hat den Rückzieher rückgängig gemacht – der Goldstone-Bericht löste am Uno-Sitz in New York eine Debatte aus. Für die Politologin Nivine Sandouka ist die Sache jedoch nicht ausgetragen. «Goldstone ist Jude, ein Freund Israels nach eigenem Bekunden, ein Jurist von weltweitem Ansehen», konstatiert die 27-jährige Palästinenserin, die in Bir Seit Demokratie und Menschenrechte studiert hat. «Ein unverdächtiger Zeuge bot uns Gelegenheit, die Asymmetrie der Macht in dieser Region zu durchleuchten. Wie konnte unser Präsident auch nur daran denken, eine solche Chance zu vergeben?» Wenn man das wüsste, verstünde man wohl besser, weshalb Abbas jetzt den ganzen Bettel hinschmeissen wolle, meint Sandouka.

«Wir verhandeln seit 16 Jahren»

Fest steht, dass sich Abbas mit Ismail Haniya, dem islamistischen De-facto-Premier in Gaza, über eine erneute Zusammenarbeit zu verständigen versucht hatte. In einem wichtigen Punkt hatten sich Fatah und Hamas schon fast geeinigt: Der Juni 2010 zeichnete sich als Datum für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in beiden Palästinensergebieten ab. Doch dann hat Abbas die Wahlen plötzlich auf den Januar vorverlegt, die Brüskierung der Hamas nahm er nach erneuter Konsultation mit Washington in Kauf. Das war vor zwei Wochen. Eine Woche und weitere Treffen mit US-SpitzendiplomatInnen später hatte Abbas jedes Vertrauen verloren, dass US-Präsident Barack Obama sein Versprechen hält und Israel noch vor Beginn neuer Friedensverhandlungen einen vollständigen Siedlungsstopp abverlangen würde. Danach zog sich Abu Masen, wie Abbas von allen genannt wird, selbst aus dem Spiel. «Seit sechzehn Jahren verhandeln wir über eine Zweistaatenlösung, und Monat für Monat werden wir vertröstet und verschaukelt. Unter diesen Umständen stehe ich für eine zweite Amtszeit nicht zur Wahl.»

Seither steht das politische Ramallah kopf. Hinawi, der Ingenieur und Schauspieler aus Ramallah, nimmt die Nachricht dennoch mit Vorsicht auf. Der Präsident habe schon öfter mit dem Rücktritt gedroht. Die jüngste Drohung könnte auch bloss ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, um die USA auf Trab zu bringen. Aufhorchen liess ihn allerdings der Ton der Ankündigung. «Abu Masen klang verzweifelt.» Fünf Jahre lang habe er sich gebückt und gebeugt, doch man habe es ihm schlecht gelohnt, meint Hinawi. 22 Prozent seien den PalästinenserInnen von ihrem ursprünglichen Land geblieben. Eine halbe Million israelischer BürgerInnen siedelt heute völkerrechtswidrig im Westjordanland und in Ostjerusalem. «Nun dämmert es vielleicht auch der PLO, dass die Zweistaatenlösung gar nicht mehr zu verwirklichen ist – vielleicht diskutiert die Organisation nun einen Strategiewechsel, das wäre ein Gewinn», findet Hinawi.

Ein Staat für zwei Völker: Damit liesse sich das historische Palästina in neuer Form erwecken. Zwischen Mittelmeer und Jordan würden die Grenzen fallen, alle lebten nach demokratischen Regeln zusammen. Die Idee geistert in islamistischen Köpfen in Gaza schon lange herum, wird indes auch in linken Kreisen im Westjordanland immer populärer.

Der Bauingenieur Tarik Nsasrah hat eben ein eigenes Haus gebaut. Es steht im alten, steil ansteigenden Teil von Beit Furik, einem Dorf bei Nablus. Von der Terrasse blickt man weit in die Hügel von Samaria. «Es könnte das Paradies sein», seufzt der Mann, «doch nach ein paar Schritten endet das Idyll.» Er zeigt zum Hang, auf dessen Kuppe sich die Ableger von Itamar ausbreiten, einer jüdischen Siedlung, die 28 Kilometer östlich der Grünen Linie liegt, der völkerrechtlichen Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland. Bei seinen Olivenbäumen im Gelände dazwischen war der Palästinenser seit Jahren nicht. Die Bäume liegen in der sogenannten Zone C, die das israelische Militär gemäss den Osloer Verträgen von 1993 allein kontrolliert.

«Die wahren Herren in dieser Zone sind die Siedler», sagt Nsasrah. «Sie haben Kameras in den Hang montiert, und wenn unsere Kinder dort hinaufklettern, schiessen sie auf sie. Stück um Stück ziehen sie den Boden unter unsern Füssen weg.» Die Einstaatenlösung sei bereits Realität, jetzt müssten die PalästinenserInnen nur noch ihre Rechte durchsetzen, meint Nsasrah. Der Anhänger der Kommunistischen Partei (PPP) hofft, dass die Fatah nun Marwan Barghuti zum Präsidentschaftskandidaten erhebt. Barghouti war der Anführer der zweiten Intifada (2000–2005), der von Israel zu fünffach lebenslänglich verurteilt wurde.

Mehr Militanz könnte einem künftigen Präsidenten nicht schaden, meinen viele, die auf Barghuti schwören. Noch deutlicher sagen es jene, die Mohammed Dahlan aus der Versenkung holen wollen. Jassir Arafats ehemals starker Mann wollte die Hamas in die Knie zwingen, war dann aber ausser Landes, als die Islamisten im Gazastreifen die Alleinherrschaft an sich rissen. Seit jener gewalttätigen Machtübernahme im Juni 2007 hängen keine Parteiflaggen mehr im Küstenstreifen. Dahlan freilich hat immer noch eine Hausmacht in Khan Yunis, im südlichen Teil des Gazastreifens.

Widerstandsparolen aus Gaza

In einem Gemischtwarenladen in Gaza-Stadt haben sich ein paar alte Kumpel versammelt. Es sind arbeitslose Polizisten, die meisten sind eher jung. Seit zweieinhalb Jahren beziehen sie von der Autonomiebehörde in Ramallah ein Salär einzig dafür, dass sie nicht zur Hamas überlaufen. Bei einem saudischen Mangosaft aus einer Büchse, der man den Transport durch einen sandigen Schmuggeltunnel ansieht, lassen diese Leute Abu Fadi, wie Dahlans Kampfname lautet, hochleben.

Gleich um die Ecke, im Flüchtlingslager am Meer, sitzen zwei Fischer an einem Strand, der wegen der ungefilterten Abwässer zum Himmel stinkt. Die hageren Männer finden, Ismail Haniya wäre der beste Präsident. «Er wohnt hier in diesem Lager und teilt mit uns das Elend.»

Auch Politologin Sandouka wählte 2006 Haniyas Hamas. Sie entstammt einer Familie, die in Ostjerusalem während des Ramadans traditionell die Kanone zum Fastenbrechen entzündet. Religiöse Eiferer sind ihr indes ein Gräuel, an Israels Existenzrecht will sie nicht rütteln, die Einstaatenlösung hält sie für unrealistisch. Für die Hamas stimmte sie vor drei Jahren, weil sie nach der Pfründenwirtschaft der Fatah jenen eine Chance geben wollte, die sich um die Armen kümmerten. «Ich war stolz nach dem Urnengang: Erstmals hatte eine arabische Bevölkerung einen Machtwechsel auf demokratische Weise vollzogen.» Umso schockierter sei sie dann über den Handstreich in Gaza gewesen, sagt Sandouka. «Es widerstrebt mir zudem, dass ein Politbüro in Damaskus oder Teheran über unser Schicksal bestimmt, obwohl diese Leute von unserer Situation keine Ahnung haben. Die Hamas ist für mich abgeschrieben.»

Partys und Besuche

Doch guter Rat ist teuer, auch für Sandouka. Barghuti sieht sie nicht an der Spitze der Autonomiebehörde, solange er in einem israelischen Gefängnis sitzt. Salam Fayyad? «Vielleicht», meint Sandouka. Der palästinensische Premier leitete im Westjordanland wirtschaftliche und soziale Reformen ein, die sich allmählich auszahlen. Die Erfolge im Bereich der öffentlichen Sicherheit beeindruckten auch die israelischen Militärs. Bei einigen grossen Checkpoints vor den Städten räumten die Israeli mittlerweile die Betonquader fort. Nablus, das einstige Wirtschaftszentrum, pflastert jetzt seine Zufahrtsstrassen neu. Zwischen der Stadt und Dörfern wie Beit Furik finden wieder Verwandtenbesuche statt. In so mancher Nacht gibts Disco: Wir existieren, also tanzen wir! «Fayyad könnte staatsmännisches Format entwickeln, wenn er so weitermacht», schätzt Sandouka. Nur ist dieser Ökonom in keiner der grossen Parteien verankert, eine Präsidentschaftskandidatur kann er darum kaum erwägen.

«Format hin oder her, unsere Politiker beschliessen heute das, und Israel stürzt es morgen wieder um. Darum werde ich wahrscheinlich gar nicht wählen», sagt der Architekt Ibrahim Erheem. Auch er hat keine Arbeit. Mit seinen acht Töchtern lebt er vom Lehrerinnenlohn seiner Frau und vom Erlös aus Land, das er verkauft hat, um seiner Familie ein Heim in einem halbwegs sicheren Quartier in Gaza-Stadt zu ermöglichen.

«Die Blockade, die innere Zerrissenheit und der Krieg, alle drei Faktoren schlagen den Menschen hier so stark aufs Gemüt, dass das Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit bald das Letzte ist, was uns eint», sagt Hassan Zeyada, Psychologe am Zentrum für seelische Gesundheit in Gaza. Viele Junge im Küstenstreifen wollen einfach weg, hinaus ins volle Leben. Doch gerade diese Wahl haben sie nicht.