Arbeitslosigkeit: «Nicht im Gleichgewicht»

Nr. 47 –

Früher war er Gewerkschafter, jetzt verteidigt er den Abbau bei der Arbeitslosenversicherung. Serge Gaillard, Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), im Gespräch.


WOZ: Herr Gaillard, bis vor drei Jahren waren Sie noch Gewerkschafter. Damals hätten Sie gegen die aktuelle Revision der Arbeitslosenversicherung (ALV) gewettert. Eine schizophrene Lage ...

Serge Gaillard: Nein, ich war ja damals in der Expertenkommission, die diese neue Revision vorgeschlagen hat. Der Bundesrat ging mit den Sparvorschlägen allerdings weiter als die Expertenkommission. Und das Parlament hat nochmals nachgeschärft.

Besteht denn Handlungsbedarf?

Zweifellos. Zwar haben wir eine gute Arbeitslosenversicherung. Wir zahlen dieses Jahr fünf Milliarden an Taggeldern und eine Milliarde Franken für Kurzarbeit aus. Das zeigt, wie bedeutsam eine gute und finanziell sichere Arbeitslosenversicherung ist. Aber die ALV ist finanziell nicht im Lot. Wir müssen langfristig eine Milliarde mehr einnehmen oder die Leistungen um eine Milliarde Franken abbauen. Wie wir das Gleichgewicht wieder herstellen, ist eine Frage des politischen Standpunkts.

Linke Politiker sagen, die Revision sei unnötig, weil das bestehende Gesetz bereits eine Beitragserhöhung erlaubt. Damit könnte die Kasse mittelfristig saniert werden – ohne Leistungsabbau.

Das ist eine sehr kreative Interpretation des Gesetzes. Der Bundesrat muss laut Gesetz eine Revision vorschlagen, wenn eine gewisse Schuldengrenze überschritten ist. In der Zeit bis zur Umsetzung der Revision kann er die Beiträge erhöhen. Aber das ist bloss eine Übergangskompetenz.

Bei einer möglichen Beitragserhöhung auf 2,5 Prozent der Lohnsumme plus einem Solidaritätsprozent könnte die Kasse zusätzlich 1,4 Milliarden Franken einnehmen.

Fehlt Geld, kann man entweder die Beiträge erhöhen oder die Leistungen abbauen. Die Gewerkschaften wollen bloss die Beiträge erhöhen, die Bürgerlichen hingegen nur Leistungen abbauen. Deshalb schlägt der Bundesrat in gutschweizerischer Tradition vor, dass jede Seite einen hälftigen Beitrag zur Sanierung der Kasse leistet.

Aber Sie selber haben gesagt, dass die Schulden vor der Krise hätten abgebaut werden müssen ...

Wir wollen die Kasse nicht in der Krise sanieren. Unser Ziel ist, dass wir die Fehlbeträge im nächsten Konjunkturaufschwung abbauen. Das ist nur mit einer Gesetzesänderung möglich. Sie wissen, wie langsam der Gesetzesprozess in der Schweiz ist: Das neue Gesetz wird frühestens 2011 in Kraft treten. Aber wir können nicht mehr lange zuwarten, weil sonst die Finanzlage beunruhigend würde.

Wird die Revision in der Wintersession beschlossen?

Wir können dem Parlament nicht reinreden. Unser Ziel ist aber eine möglichst rasche Umsetzung der Revision ...

... bis 2011, wenn es wieder aufwärts geht?

Wir denken, dass die Arbeitslosigkeit ab 2011 wieder rückläufig sein wird. Aktuell rechnet man mit einer langsamen Erholung der Wirtschaft, für den Arbeitsmarkt wird aber das nächste Jahr schwierig. Das Bruttoinlandsprodukt ist, verglichen mit dem Vorjahr, um zwei Prozent eingebrochen. Das heisst, dass die Zahl der Stellen in den nächsten sechs bis neun Monaten stark abgebaut wird. Wir erwarten deshalb bis Ende 2010 einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf über 200 000.

Sie stellen die Situation der ALV dramatisch dar. Aber in den Neunzigern hatten wir eine Arbeitslosenquote von über fünf Prozent. Der Beitragssatz lag damals bei drei Prozent, und die Gutverdienenden mussten zwei Solidaritätsprozente beitragen.

Rückblickend muss ich sagen: Man hat den Beitragssatz zu stark gesenkt, als man 2003 von drei wieder auf zwei Prozent zurückging. Das Rechnungsmodell für die Finanzierung beruhte auf einer zu optimistischen Annahme. Die ALV ist von den Kosten her stabil, wir haben nicht mehr Arbeitslose als in den neunziger Jahren, wir geben auch nicht mehr Taggelder pro Erwerbslosen aus. Aber Einnahmen und Ausgaben sind nicht im Gleichgewicht.

Demnach müsste man nicht mit Leistungsabbau reagieren, sondern jetzt in einer heftigen Krise mit Unterstützung brillieren.

Wir suchen einen Mittelweg. Unbestritten ist der Sanierungsbedarf: Wir hatten vor der Krise vier Milliarden Franken Schulden, jedes Jahr kommt strukturell eine weitere Milliarde dazu. Wir können nicht ewig warten. Zudem schreibt das Gesetz vor, dass wir handeln müssen. Der Bundesrat muss eine Revision vorschlagen, wenn die Schulden die Grenze von 6,5 Milliarden übersteigen – das ist im nächsten Frühling der Fall.

Nochmals: Lässt sich das wirklich nicht über die Einnahmenseite und ohne Leistungsabbau machen?

Nein, das hat politisch keine Chance. Genauso wenig wie Vorschläge, die nur eine ausgabenseitige Sanierung wollen. Darum haben wir einen Mittelweg gesucht und hoffen, dass wir so durchkommen.

Mit dem dritten Konjunkturpaket hat man die Leistungen ausgebaut. Eine Hand gibt Geld, die andere nimmt es wieder – ein seltsames Vorgehen.

Wir haben während der Krise absolut nicht abgebaut, im Gegenteil: In der Krise soll die Arbeitslosenversicherung grosszügig sein. Der Bundesrat hat im März die mögliche Dauer für Kurzarbeit verlängert. Wir haben für einige Kantone mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit die Bezugsdauer auf 520 Taggelder erhöht. Aber wir müssen im Hinblick auf den nächsten Aufschwung das Gleichgewicht wiederherstellen. In der Hochkonjunktur kann die Arbeitslosenversicherung restriktiver sein.

Die Zeche für diese Revision bezahlen die Arbeitslosen, namentlich die Jungen und die Langzeitarbeitslosen. Warum ausgerechnet die Jungen?

Wir setzen alles daran, den Jungen den Einstieg ins Erwerbsleben zu erleichtern. Bundesrätin Doris Leuthard hat gemeinsam mit den Sozialpartnern im Frühjahr dazu aufgerufen, Lehrlinge weiter zu beschäftigen – mit einigem Erfolg. Wir hatten im Juli und August weit über 50 000 Lehrabgänger, die Zahl der direkt arbeitslosen Lehrabgänger hat aber nur um 2000 zugenommen. Da ist einiges passiert.

Auch die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) legen grosses Gewicht auf die Unterstützung der Jungen. Jeder Fünfte verlässt nach einem Monat die Arbeitslosigkeit. Wir haben für die, die keine Lehrstelle finden, Motivationssemester geschaffen, obwohl wir ja nicht für die Berufsbildung zuständig sind.

Gerade die Leistungen für die Jungen will man aber kürzen ...

Es geht im Wesentlichen um zwei Punkte: Kann jüngeren Erwerbslosen eine kürzere Bezugsdauer zugemutet werden als älteren? Jugendliche finden schneller eine Stelle als ältere Arbeitslose. Nur jeder Zwanzigste der Jungen ist mehr als ein Jahr arbeitslos. Zweitens ist es nicht selbstverständlich, dass Personen, die noch nie Beiträge in die Arbeitslosenversicherung bezahlt haben, sofort Unterstützung erhalten. Gewisse Wartezeiten halte ich deshalb für vertretbar. Es ist niemandem gedient, wenn man mit sechzehn die Schule verlässt, keine Lehre absolviert und von Sozialversicherungsgeldern lebt. Hier ist eine Teilnahme an einem Programm das Richtige, nicht aber Taggelder.

Verschiebt man mit dem ständigen Leistungsabbau nicht einfach die Probleme in die Sozialhilfe?

Die Leistungen werden nicht ständig abgebaut. Wir haben heute viel bessere Leistungen als in den Achtzigern oder zu Beginn der neunziger Jahre. Und vergessen Sie nicht: Die Arbeitslosenkasse ist eine Versicherung. Jede Versicherung muss sich die Frage stellen, was sie versichern kann und was nicht. Die ALV ist keine individuelle Versicherung, man kann das Menü nicht selber wählen. Sie ist obligatorisch, alle zahlen mit. Ich bin ein Anhänger solcher Sozialversicherungen. Sie kombinieren die individuelle Vorsorge – wer arbeitet, sorgt vor – mit einem Sozialausgleich. Wie weit dieser Ausgleich geht, ist eine politische Frage. Das bestimmt das Parlament.

In der Tendenz wird der Druck an die Jungen weitergegeben. Ein richtiges Signal?

Für uns ist es wichtig, dass die Jungen den Einstieg in die Arbeitswelt schaffen – trotz Rezession. Ich denke, man hat viele Lehren gezogen aus den Erfahrungen der neunziger Jahre.

Inwiefern?

Damals ist die Zahl der Lehrstellen total eingebrochen. Und dann sagte man: Das wird wegen der Demografie bald besser. Darauf hat man sich in den letzten zehn Jahren nicht mehr verlassen. Behörden und Sozialpartner haben eine riesige Arbeit geleistet, um die Zahl der Lehrstellen zu erhöhen. Wir hatten im letzten Jahr einen absoluten Höchststand: 87 000 Lehrstellen. In diesem Jahr hatten wir trotz Krise nur tausend weniger.

Tatsache ist doch: Der Druck auf die Sozialversicherungen steigt ...

Im letzten Konjunkturaufschwung wurden einige Probleme leider nicht gelöst. Die Invalidenversicherung wurde erst spät saniert, und die Kosten im Gesundheitswesen steigen ungebremst und schneller als das Wirtschaftswachstum. Solche Ungleichgewichte erhöhen den Druck auf die Leistungen.

Ist die Arbeitslosenversicherung in dieser Form zukunftsfähig?

Unsere Versicherung hat sich bewährt und ist im internationalen Vergleich in zweierlei Hinsicht vorbildlich: Sie bietet gute Leistungen, dafür gelten für die Stellensuchenden strenge Regeln. Es ist eine Versicherung für unfreiwillig Arbeitslose. Wer selber kündigt, muss eine gewisse Zeit warten, ehe er oder sie Taggelder erhält. Und wir haben eine Finanzierung, die uns erlaubt, in der Krise ohne Beitragserhöhungen die Leistungen zu bezahlen und die arbeitsmarktlichen Massnahmen auszubauen. Beides ist zukunftsträchtig, solange es uns gelingt, die Versicherung langfristig im finanziellen Gleichgewicht zu halten. Dafür braucht es jetzt aber eine Revision.


Serge Gaillard

Seit 2007 ist Serge Gaillard (54) Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Zuvor arbeitete er als Sekretär und Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), wo er für die Wirtschaftspolitik zuständig war. Von 1998 bis 2006 war er ausserdem Bankrat der Schweizerischen Nationalbank.