Mord oder vorsätzliche Tötung?: Die Herren Richter von der Presse

Nr. 49 –

Beobachtungen eines an der Justiz interessierten Staatsbürgers. Der Filmemacher und Autor Alexander J. Seiler besuchte den Prozess von Angelo M. in Zürich.


«73-jährigen Schwiegervater regelrecht abgeschlachtet», lautet der Titel im «Tages-Anzeiger» (TA). Weniger blutig titelt überraschenderweise der «Blick»: «Ehe kaputt: Mann tötet Schwiegervater». Am ausführlichsten informiert die Überschrift in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ): «Den Schwiegervater auf brutale Weise ermordet. Italiener wegen Mordes am Patron eines Winterthurer Blumengeschäfts verurteilt.»

War es wirklich Mord? Oder war es vorsätzliche Tötung? Da der 45-jährige Angeklagte weder die Tat noch den Tathergang bestritt, ging es im Prozess, der kürzlich vor dem Obergericht des Kantons Zürich stattfand, eigentlich nur um diese Frage. Als Mord qualifiziert das Schweizerische Strafgesetzbuch eine vorsätzliche Tötung dann, wenn «der Täter besonders skrupellos» handelt und «namentlich sein Beweggrund, der Zweck der Tat oder die Art der Ausführung besonders verwerflich» sind. Für vorsätzliche Tötung schreibt das Strafgesetzbuch eine «Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren», für Mord eine «lebenslängliche» oder eine «nicht unter zehn Jahren» vor. Kein kleiner Unterschied.

Staatsanwalt und Journalisten

Dass in allen drei Prozessberichten vom 13. November unter den «besonderen Voraussetzungen» eines Mords die wirklich äusserst brutale «Art der Ausführung» fast formatfüllend im Vordergrund steht, vermittelt ein durchaus zutreffendes Bild dieser beinahe siebenstündigen Verhandlung. Sowohl die suggestive Befragung des Angeklagten durch den Vorsitzenden wie das von Empörung triefende Plädoyer des Staatsanwalts vermittelten das Charakterbild eines gewissenlosen und obendrein uneinsichtigen Gewalttäters. Auf den «Beweggrund» der Tat näher einzugehen, blieb dem Verteidiger vorbehalten, der auf vorsätzliche Tötung plädierte, weil – so die NZZ – «die angebliche Planung der Tötung von vielen Zufälligkeiten bestimmt gewesen sei».

Wie dürftig auch immer dieses Resümee die engagierten, psychologisch wie juristisch solid fundierten Ausführungen des Verteidigers zusammenfasst – der TA erspart es sich gleich vollends, die Verteidigung und ihre Argumente auch nur zu erwähnen. Wohl lässt für den Reporter die «zurückhaltende Sanftheit» des Angeklagten «nur einen Gedanken [zu]: Der kann keiner Fliege etwas zuleide tun.» Aber wenn es um die Frage geht, wie es dazu kommen konnte, dass eines Tages – ja, eines Tages  – diese Sanftheit in eine Handlung von «unglaublicher Brutalität und ausserordentlicher Grausamkeit» umschlug, dann hält der Berichterstatter des TA sich fast durchweg an Darstellung und Vokabular des Staatsanwalts.

Vom Walzenführer zum Ausläufer

Ein Beispiel vorweg: Als Ausläufer und Mädchen für alles im Blumenladen seines Schwiegervaters beziehungsweise seiner Frau erhielt Angelo M. «keine Lohntüte» – so sagte er wörtlich –, sondern musste sich für geschäftliche und private Einkäufe – er kochte täglich für die ganze Familie – wie auch für seine eigenen Bedürfnisse an die Ladenkasse halten. Weil er je länger, je mehr ins Trinken geriet, schreibt der TA: «Den Suff finanziert er aus der Ladenkasse.» Ja, auch so kann man es darstellen.

Warum geriet Angelo M. ins Trinken? Als Teil der Öffentlichkeit, das heisst als nicht akkreditierter, aber an der Justiz interessierter Staatsbürger, sah ich den Angeklagten nur von hinten. (Die akkreditierten Berichterstatter waren, wie beim katholischen Hochamt die nicht zelebrierende Geistlichkeit, zwecks besserer Übersicht seitlich platziert.) Als Einziger stand Angelo M. vor Gericht  – und vor den Augen all der andern, die neben und hinter ihm sassen. Klein und mager stand er da, ein bisschen windschief, hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest und hob nur beim Reden ab und zu beide Unterarme. Dabei presste er, als sei er gefesselt, die Ellbogen dicht an den Körper.

Ewiger Schwiegersohn

«Kleiner Mann, was nun?» fragte einst Hans Fallada ... «Kleiner Mann, warum?» – an dieser Frage schien nur gerade der Verteidiger interessiert. Weil Angelo M. in Süditalien samt Eltern und Geschwistern in einem einzigen Zimmer wohnte und gerade fünf Jahre zur Schule ging? Weil er mit neunzehn Jahren in die Schweiz kam, schon am ersten Tag auf eine Strassenbauwalze gesetzt wurde und diese Arbeit während siebzehn Jahren «zur vollen Zufriedenheit» seiner Chefs und offenbar auch seiner eigenen verrichtete? Weil er mit fünfundzwanzig Jahren die Tochter des Opfers heiratete und mit ihr zwei Kinder zeugte und grosszog? Oder weil die Schwiegereltern, als sie der Tochter das Blumengeschäft übergaben, darauf bestanden, es müsse auch «ein Mann im Geschäft sein», sodass Angelo M. schliesslich seine gut bezahlte Stelle als Walzenführer aufgab? Weil sich der Schwiegervater dann vom Geschäft doch nicht lösen konnte, sondern weiterhin den «Patron» (so die NZZ) spielte, dem Schwiegersohn durch ständige Bevormundung verunmöglichend, der Mann im Geschäft zu sein, als der er doch von der Familie aus dem Sattel seiner Walze gehoben worden war? Sodass Angelo M., nach früheren alkoholischen Episoden dank einer Therapie jahrelang trocken, erneut ins Trinken geriet? Sodass seine Frau, die Tochter ihres Vaters, sich von ihm scheiden liess, sodass er, der «integrierte» Emigrant, aus Familie, Geschäft und Wohnung ausgeschlossen, aus seiner gesamten Schweizer Existenz gleichsam ausgewiesen wurde?

Dritte und vierte Gewalt

Beantworten lässt sich mit Sicherheit keine dieser Fragen – stellen müsste sie in einem demokratischen Rechtsstaat nicht nur der Verteidiger (der es tat), sondern ebenso eine Gerichtsberichterstattung, die sich als «vierte Gewalt» auch gegenüber der dritten, nämlich der Justiz, versteht. Dieses Selbstverständnis war seit der Affäre Dreyfus und Emile Zolas «J’accuse!», also seit einem guten Jahrhundert, allen wichtigen GerichtsreporterInnen eigen – in jüngerer und jüngster Zeit nicht nur Gerhard Mauz vom «Spiegel» und Peggy Parnass von «konkret», sondern hierzulande – zum Beispiel – auch Ernst von Schenck von der Basler «National-Zeitung» in den fünfziger und sechziger, Fritz H. Dinkelmann von der «Solothurner AZ» in den siebziger und Margrit Sprecher von der «Weltwoche» noch in den achtziger Jahren.

Dinkelmann, heute Berliner Korrespondent von Schweizer Radio DRS, hat seine Gerichtsreportagen in einem Band «Nach eigener Aussage» gesammelt, der 1987 als Suhrkamp-Taschenbuch erschienen ist. Im Nachwort schreibt er: «Der Verbrecher ist ein Verbrecher: eine grausame Methode, die Identität eines Menschen auszulöschen. Es war deshalb immer auch meine Aufgabe als Gerichtsreporter, jene Menschen zu erfinden, die vor Gericht stehen, und ihnen ihre Identität zurückzugeben, die ihnen die strafende Gesellschaft verweigert.»

Angelo M., als Mörder verurteilt, liess sich seine Identität in einem Punkt nicht nehmen. Er gab zu, «einen Fehler gemacht» zu haben, der ihm «leidtue», aber er hielt daran fest, dass «das alles nicht passiert» wäre, hätten Schwiegervater und Ehefrau sich ihm gegenüber anders verhalten. Auch dafür haben ihn nicht nur zwei Oberrichter und eine Oberrichterin bestraft, sondern auch ein zweites Gericht aus drei Journalisten. Dass einer von ihnen in seinem Bericht als Strafmass nicht die vom Obergericht verhängten zwölf Jahre Freiheitsentzug angibt, sondern die vom Staatsanwalt beantragten vierzehn Jahre – dieser «Verschreiber» bestätigt einmal mehr die Erkenntnisse Sigmund Freuds vom Durchsetzungsvermögen geheimer Wünsche.

Der Filmemacher und Autor Alexander J. Seiler feierte im letzten Jahr seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass erschien das Buch «Daneben geschrieben 1959–2008». Eine Würdigung von Peter Bichsel erschien in WOZ Nr. 32/08. Momentan arbeitet Seiler an einem Film über den Bildhauer Karl Geiser (1898–1957).