Der Islam in Europa: «Mahmud ist längst Brite»

Nr. 50 –

Der Religionssoziologe Stéphane Lathion über Europas neue Religion, inkompetente Politiker und feministische Auslegungen des Korans.


WOZ: Herr Lathion, was ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Sie das Abstimmungsresultat der Minarettinitiative erfuhren?

Stéphane Lathion: Unverständnis – doch etwas anderes gibt mir noch viel mehr zu denken.

Was?

Die Reaktionen der gegnerischen Parteien: Statt sich zu fragen, warum sie die Bevölkerung nicht von ihren Argumenten überzeugen konnten, giessen sie nun selber Öl ins Feuer. Wenn ich an den Vorschlag von CVP-Präsident Christophe Darbellay denke, die Burka zu verbieten: Zwei Jahre lang hat sich die CVP in einer Kommission mit Fragen zur muslimischen Einwanderung beschäftigt. Wenn die Partei nach zwei Jahren den Schluss zieht, man müsse die Burka verbieten, die in der Schweiz so gut wie nicht existiert, dann zweifle ich am Intellekt solcher Leute.

Nun wird gesagt: Wäre es in anderen europäischen Ländern möglich, über das Minarett abzustimmen, käme dasselbe Resultat heraus.

Das stimmt. In ganz Europa herrscht eine Angst vor dem Islam. Und man sollte diese auch ernst nehmen – das bedeutet nicht, dass man mit den politischen Entscheidungen, die sich daraus ergeben, einverstanden ist. Jemand, der sich nicht gross mit dem Islam beschäftigt und keine Angst vor den Bildern hat, die ihm per TV geliefert werden, der ist entweder stumm, blind oder naiv.

Haben die Schweizer die Islamisten, die sie am Fernsehen sehen, mit den Muslimen verwechselt, die bei ihnen leben?

Sicher. Dazu kamen andere Dinge wie die Affäre mit Libyens Revolutionsführer Muammar Gaddafi oder die EU, die Druck auf die Schweiz ausübt. Seien wir ehrlich: Die Probleme rund um den gemeinsamen Schwimmunterricht in Schulen oder um das Kopftuch sind in der Schweiz wirklich klein. Aber in einem Klima der Angst erhalten sie eine symbolische Kraft. In anderen europäischen Ländern sind die Probleme schon wesentlich ernster.

Gibt es Staaten, denen es gelungen ist, durch eine erfolgreiche Integration das Misstrauen zwischen Muslimen und der übrigen Bevölkerung abzubauen?

Nein. Das Problem ist in ganz Europa dasselbe. In Britannien gibt es vor allem seit den islamistischen Attentaten vom Sommer 2005 grosse soziale Spannungen, der Multikulturalismus wird infrage gestellt. In Holland, einem Land mit einer toleranten Tradition, gilt spätestens seit dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh 2004 dasselbe – auch dort existieren nun grosse Zweifel am eigenen Gesellschaftsmodell.

Was für ein Modell?

Die niederländische Gesellschaft stützt sich auf einzelne geschlossene Gemeinschaften, auf Säulen: Katholiken, Protestanten, Juden, Humanisten – und Muslime. Sie stützen das gemeinsame Dach, die Gesellschaft. Das Modell gleicht dem Multikulturalismus der Briten, bei denen der Staat auch die einzelnen Gemeinschaften als solche anerkennt.

Gibt es zu diesem Modell eine Alternative?

Die republikanische Idee Frankreichs: Man integriert die einzelnen Individuen in die Republik und behandelt sie einzig als Citoyens, als Bürger. Der Islamwissenschaftler Gilles Keppel hat lange für dieses Modell plädiert. Aber wenn man sich die Realität anschaut: Die ersten islamistischen Attentate in Europa ereigneten sich 1995 in Paris. Die Banlieues sind abgetrennte Ghettos, das republikanische Modell wird in Frankreich idealisiert. In der Theorie funktioniert es ausgezeichnet, in der Praxis – na ja.

Wie bekommen die Menschen diese Integrationsstrategien zu spüren?

In Frankreich haben die muslimischen Gemeinschaften auf den Einzelnen weniger Einfluss als in Britannien. Der Muslim hat aber bei seiner Ankunft eine Ohrfeige nach der anderen einfangen müssen, weil er keinen Rückhalt hatte, er musste alleine durch. Die muslimischen Franzosen der zweiten und dritten Generation haben mehr gelitten, sind nun aber eigenständiger und besser für das Leben gewappnet. Die Herausforderung ihrer britischen Glaubensgenossen besteht darin, sich von ihrer Gemeinschaft zu emanzipieren, die ihnen zuerst vielleicht Geborgenheit gibt, sie dann aber auch erdrücken kann.

Sie sprechen von Briten und Franzosen. Fühlen sich die Muslime auch als solche?

Aber sicher. Wir haben Untersuchungen darüber gemacht. Sie fühlen sich als Briten und bezeichnen sich auch als solche – vor allem die heutige dritte Generation, die dort geboren ist. Und das ist auch die, die mir Sorgen macht: Die Botschaft, die Mahmud oder Safia, die in Europa geboren sind, tagtäglich erhalten, ist: Du bist nicht von hier. Ihr Problem ist, dass sie nicht Hans, René oder Steven heissen. Wenn sie einen Job oder eine Wohnung suchen, bekommen sie diese Botschaft mit aller Wucht ins Gesicht geschleudert. Die Frustration, die daraus entsteht, kann junge Menschen auf radikale Abwege bringen.

Mahmud und Safia sind immer öfter auch Franzosen, Briten?

Ja. Das Schema Herkunftsland-Einwanderungsland ist überholt. Die Muslime sind oft keine Ausländer – es sind Franzosen, Briten, Schweizer.

Immer öfter reduziert man aber in Europa Muslime nicht auf das Herkunftsland ihrer Eltern, sondern auf ihre Religion.

Das stimmt. Wir müssen aufhören, sie als Muslime zu stigmatisieren. Die Individuen muslimischen Glaubens müssen aber auch selbst ihre spezifischen Forderungen als Frauen, als Jugendliche oder Angestellte stellen. Aber was sagen ihnen die Politiker und Medien täglich? Ihr seid Muslime, also sprecht im Namen der Muslime. Auch wenn man gleichzeitig nicht will, dass sie sich als separate Gemeinschaft verstehen. Ein Beispiel: Ahmed ist Vater zweier Kinder, Sozialarbeiter, liebt den Fussball und so weiter – und ja, ab und zu geht er in die Moschee. «Aha, Sie sind also Muslim», wird er zu hören bekommen. «Aber hören Sie doch», wird er vergeblich zu erklären versuchen, «ich habe Ihnen sechs Dinge davor aufgezählt, die mir im Alltag wichtiger sind.» Das ist so seit dem 11. September 2001.

Dem 11. September?

Ja, seither ist der Ausländer nicht mehr Türke, Tunesier oder Senegalese, er ist Muslim. Das ist in ganz Europa so.

Daran sind nicht nur Politiker schuld: Ich befrage Sie über Muslime, Sie forschen über Muslime – damit drängen auch wir jeden, der beiläufig Muslim ist, in diese Rolle.

Das stimmt. Ich versuche aber, die Muslime nicht zu verallgemeinern – auch wenn das nicht immer gelingt. Ich gebe mir Mühe, von Individuen muslimischen Glaubens zu sprechen, zu nuancieren – aber das geht nicht immer. Andererseits liegt es auch an den Muslimen selbst, sich der Welt nicht nur als Muslime zu präsentieren – sondern als Frau, als Bürgerin oder als Angestellte.

Das Problem ist beidseitig?

Ja, auch der Staat spricht die Muslime als Muslime an, und diese haben dann wiederum Mühe, sich dieser Logik zu entziehen.

Sie plädieren also für den französischen Republikanismus? Frankreich spricht die Muslime als Bürger an und ignoriert ihre Religion.

Prinzipiell ja. Das französische Modell verleugnet jedoch gleichzeitig die Realität. Es will, dass man die Religiosität des Individuums nicht sieht. Laizismus bedeutet die Neutralität des Staates in Bezug auf die Religion, nicht mehr – und diese Idee ist gut. Konfessionelle Neutralität bedeutet nicht Ablehnung.

Welches Modell haben wir in der Schweiz?

Wir befinden uns näher am französischen. Doch die Schweiz anerkennt die Werte und die Eigenschaften der Individuen, die hierherkommen. Sie verlangt von niemandem aufzuhören, Muslim zu sein. Die Schweiz sagt: Komm mit deinen Werten, und wir suchen eine Lösung. Nach der Abstimmung hab ich jedoch Angst, dass wir daran sind, diese Einstellung zu verlieren.

Selbst ein Schweizer Imam hat mir mal gesagt: Hört auf, uns als Muslime anzusprechen, die Mehrheit der Muslime hat keine religiösen Forderungen, wir wollen eine gute Ausbildung, Arbeitsplätze ...

... das ist die stille Mehrheit.

Die stille Mehrheit?

Ja, jene achtzig Prozent der Muslime in der Schweiz, die sich hier integriert fühlen, die – wenn überhaupt – materielle Nöte haben.

Welche Rolle spielt die Herkunft der muslimischen Einwanderer nach Europa für die Integration?

Die Menschen, die aus der Türkei und dem Balkan kommen, sind mit dem Laizismus vertraut – in der Schweiz sind das neunzig Prozent. Wir haben ideale Voraussetzungen für eine gute Integration. In Frankreich leben aber vor allem Muslime, die aus Nordafrika oder aus dem Nahen Osten stammen. Ihnen ist der Laizismus weniger vertraut.

Mit Frankreichs striktem Laizismus verbunden müsste das eine besonders explosive Mischung ergeben.

Das ist in den Banlieues auch so – und nicht nur dort. Kürzlich hielt ich in Paris einen Vortrag, in dem ich versuchte, die Integrationsprobleme in Europa etwas weniger aufgeregt darzustellen. Da hat eine junge Frau – die einzige im Saal ohne Kopftuch – dazwischengerufen: Sie glauben, wir sind paranoid?! Die sozialen Spannungen in Frankreich sind gross. Seit zwanzig Jahren streiten sie sich um das Kopftuch. Und die Franzosen haben noch immer nicht eingesehen, dass es Frauen gibt, die freiwillig ein Kopftuch tragen wollen – Frauen, die emanzipiert und gebildet sind, die Lippenstift tragen und mit nichtmuslimischen Freunden verkehren, sich aber aufgrund ihres religiösen Verständnisses etwas auf den Kopf legen wollen.

Rundum wird kritisiert: Die muslimische Frau ist ihrem Mann untergeordnet.

Die Frauen waren auch in christlichen Gesellschaften lange Zeit eindeutig untergeordnet und sind es in vielen nichtmuslimischen Regionen dieser Welt auch heute noch. Und: Es gibt heute feministische Lektüren des Korans, die hervorheben, dass das heilige Buch des Islam zu seiner Zeit befreiend und progressiv war.

Progressiv?

Diese Feministinnen sagen: Der Islam hat der Polygamie, die schon zuvor existierte, Grenzen gesetzt. Er reduzierte die Anzahl der Frauen auf vier und gab der ersten Frau ein Mitspracherecht, was weitere Frauen betrifft. Es gab also einen Fortschritt. Und genau diesen fortschrittlichen Geist rücken die Feministinnen nun bei der religiösen Auslegung in den Vordergrund, um für ihre Gleichberechtigung zu plädieren. Religion kann für die Integration von Muslimen in Europa auch ein positiver Faktor sein.

Für diesen Weg plädiert Europas islamischer Vordenker Tarik Ramadan: für eine Neuinterpretation des Islam, um ihn an die europäische Moderne anzupassen.

Richtig. Gleichzeitig fordert Ramadan eine theologische Ausbildung, die letztlich nur wenige Muslime besitzen, um den Islam neu zu interpretieren. Das läuft darauf hinaus, dass er als Gelehrter vorgibt, wie Muslime in Europa zu leben haben. Es gibt andere zeitgenössische muslimische Denker, die nicht diesen Anspruch haben, die sagen: Jedes Individuum kann mit seinem Verstand und seinem Herz an die religiösen Quellen herangehen, um die Antworten zu finden, wie er in Europa zu leben hat – ohne den Mitmenschen seine religiöse Sicht auferlegen zu wollen.

Eine Demokratisierung der Religion?

Ja, genau. Damit meine ich eine Demokratisierung des Zugangs zum religiösen Wissen. Europas Individualismus fördert diesen Weg. Die meisten europäischen Muslime haben aber Mühe, sich einzugestehen, dass ihr Leben als Muslime genau die gleiche religiöse Gültigkeit besitzt wie das, was Tarik Ramadan oder irgendein Scheich aus Kairo erzählt.

Existiert nicht noch eine dritte Strategie der Integration, die darin besteht, gewisse Lebensbereiche den religiösen Vorgaben zu entziehen?

Ja, diese Strömung wird unter anderem vom Forum für einen Fortschrittlichen Islam in Zürich repräsentiert. Es bildet einen Gegenpol zu jenen, die glauben, die Religion müsse alles regeln. So kann jeder Muslim entscheiden, wo er sich selbst positionieren will. Den europäischen Muslimen stehen damit also gewissermassen zwei grosse Säcke zur Verfügung. In dem einen Sack liegt die Moschee, im zweiten Sack das Ratshaus mit den europäischen Werten. So kann sich der Muslim eine eigene Identität konstruieren, indem er aus beiden Säcken herauspickt, was er für richtig hält.

Es braucht eine Debatte über den Islam, fordern seit der Minarettabstimmung alle. Zu Recht?

Nein. Überlassen wir diese Debatte den Muslimen. Es braucht dort eine politische Debatte, wo die Ausübung einer Religion mit anderen Grundrechten oder Gesetzen kollidiert – um welche Religion es sich auch immer handelt. Mehr nicht. Und hören wir endlich auf, den Islam auch als Ursache jener Probleme zu sehen, die nichts mit ihm zu tun haben.