Eisschnelllauf: Die Eiskasachen

Nr. 50 –

Alles, was sie brauchten, um 2010 an den Olympischen Spielen in Vancouver teilnehmen zu können, war ein kasachischer Pass. Für vier niederländische Schlittschuhläufer könnte die Geschichte mit der Abschiebung aus dem eigenen Land enden.


Diesen migrantischen Reflex, den Grad der eigenen Integration zu demonstrieren, hat sich Rob Hadders verblüffend schnell angeeignet: «Ich wohne hier, ich habe niederländische Eltern, studiere in den Niederlanden und gucke jeden Samstag ‹Ik hou van Holland›» – «Ich liebe Holland», eine Samstagabendshow mit Quiz, Prominenten und einheimischer Musik. Folglich kann sich Hadders auch nicht vorstellen, dass er abgeschoben wird.

Genau das aber droht dem 25-jährigen Schlittschuhläufer, für den die Geschichte angesichts seiner Biografie nur absurd scheint: Geboren wurde Hadders in Kraggenburg, einem Dorf in der Einöde der Neulandgemeinde Noordoostpolder. Er studiert in Groningen, ist Mitglied der dortigen studentischen Schlittschuhvereinigung, und im Winter betreibt er die holländischste aller Sportarten, den Marathoneislauf. Und nun soll er abgeschoben werden, noch dazu nach Kasachstan, und alles wegen dieser Idee mit den Winterspielen?

Zweitpass als Olympiaticket

«Dabei sein ist alles» – just mit dem olympischen Motto fingen die Probleme von Hadders an. Als aufstrebender Eismarathonläufer wird ihm im Schlittschuhland Niederlande eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil. An internationalen Ruhm war jedoch nicht zu denken, zumal bei den grossen Wettbewerben wie Olympia und Weltmeisterschaften nur die kurzen Distanzen auf dem Programm stehen – und für diese bilden die einheimischen Spezialisten einen guten Teil der Weltspitze. Was also lag näher, als dem Schlittschuhverband KNSB den Rücken zu kehren und den Traum von Olympia 2010 in einem anderen Land zu verwirklichen?

Dass dieses Land Kasachstan wurde, war so zufällig wie naheliegend. Der Vizepräsident des kasachischen Schlittschuhverbands, Sergej Tsybenko, ging früher für das niederländische Spitzenteam Spaar Select aufs Eis. Der Verband hat einen ehrgeizigen Plan: Kasachstan, früher eines der Eislaufzentren der UdSSR und Standort der legendären Freiluftbahn Medeo bei Alma-Ata, will an die Weltspitze. «Das Niveau des Schlittschuhlaufens muss nach oben», sagt Tsybenko. «Darum wollen wir Erfahrung mit Talent bündeln. Dafür haben wir Geld locker gemacht. Wir haben ein Budget, jetzt brauchen wir noch Medaillen.»

Um diese zu erreichen, setzt man auf niederländische Expertise. Seit anderthalb Jahren steht der renommierte Coach Jillert Anema, der neben dem Marathonteam auch die kasachische Auswahl bei Olympia trainieren soll, in Kontakt mit dem dortigen Verband. Seine Mission ist klar: ambitionierte LäuferInnen finden, um in Zentralasien aktive Aufbauhilfe zu betreiben. Mindestens bis zu den Winterspielen 2014 in Russland soll die Kooperation dauern. Aus dem eigenen Rennstall konnte er Arjan Stroetinga für den Deal gewinnen. Dazu kamen mit Hadders, Christijn Groeneveld, Jorrit Bergsma und zunächst Robert Bovenhuis vier Sportler der Equipe Renault Eco2. «Wir bieten diesen Jungs die Chance, auf Topniveau zu laufen», so Tsybenko. Lukrativ sollte das Ganze auch noch sein: Für olympisches Gold will Kasachstan 250 000 US-Dollar zahlen. Ein WM-Titel brächte ein Jahr lang monatlich 7000 Dollar.

Zunächst ging alles nach Plan. Die Einbürgerung in Kasachstan verlief problemlos. Rechtzeitig zur aktuellen Saison erhielt der niederländische Verband ein Fax aus Astana mit den neuen Pässen der Läufer. Ende Oktober traten sie dann bei den nationalen Meisterschaften an, wo die Startplätze für die Weltcuprennen (und damit zur Olympiaqualifikation) vergeben werden. Vor allem den spektakulären Wettbewerb der Mannschaftsverfolgung, 2006 ins olympische Programm aufgenommen, hatten sie im Visier. Es wurde ein erfolgversprechender Auftakt: Hadders belegte Platz drei hinter seinen alten und neuen Landsleuten Bergsma und Stroetinga. Nicht dabei war damals schon Bovenhuis, der Fünfte im Bunde, der im letzten Moment absagte: «Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Ich hatte Angst, dass ich durch eine fünfjährige Prozedur muss, um nach einer Einbürgerung als Kasache meinen niederländischen Pass zurückzubekommen. Dann muss ich als Ausländer in den Niederlanden wie der nächstbeste Asylbewerber eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen!»

Bovenhuis sollte recht behalten. Bereits Anfang November geriet Sand ins Getriebe des «kasachischen Abenteuers», wie niederländische Medien den Fall inzwischen getauft haben. Die niederländische Immigrationsbehörde IND bekam Wind von der Sache, die Ausländerpolizei forderte beim Schlittschuhverband die kasachischen Papiere an, und plötzlich erwies sich die in Aussicht gestellte doppelte Staatsbürgerschaft als Luftschloss: Offensichtlich hatte man in der Planung einen Paragrafen übersehen. Demnach verliert seine niederländische Nationalität, wer freiwillig eine andere annimmt. Pieter Boeles, emeritierter Professor für Immigrationsrecht an der Universität Leiden, hält fest: «Ihre niederländischen Pässe sind momentan wertlos. Wenn sie keine Aufenthaltserlaubnis beantragen, sind sie hier illegal. Das heisst: entweder für Kasachstan laufen oder wieder Niederländer werden.» (Vgl. Interview «Wie Tomaten im Supermarkt» weiter unten.)

Pass weg, Starterlaubnis weg

Für die Läufer, die sich mit den rechtlichen Aspekten kaum befasst hatten, kam diese Wendung völlig unerwartet: «Jemand in Kasachstan sagte uns, dass alles in Ordnung sei. Darauf vertraue ich», so ein verdutzter Hadders Anfang November. Seither liegt das Unternehmen Olympia auf Eis. Tsybenko beruhigt sein niederländisches Personal weiterhin, auf Trainer Anema macht das ambitionierte Projekt allerdings «keinen vertrauenswürdigen Eindruck» mehr. Eine Entscheidung der niederländischen Behörden steht noch aus.

Hadders und seine Kollegen sind derweil zum Zuschauen verurteilt. Die Weltcuprennen in der alten Heimat im friesischen Schlittschuhmekka Heerenveen fanden im November ohne die Neukasachen statt, und auch bei den im Dezember anstehenden Terminen in Nordamerika ist ihre Teilnahme ungewiss. Der Weltverband International Skating Union (ISU) verweigert die Starterlaubnis, offiziell weil nicht alle erforderlichen Dokumente vorliegen. In den Niederlanden kursieren derweil Gerüchte, von kasachischer Seite seien die Ausstellungsdaten der Pässe fingiert worden, um die Teilnahmebedingungen zu erfüllen. Während Vancouver immer näher rückt, drohen die Marathonläufer ihr Ziel aus den Augen zu verlieren.

Sesam-öffne-Dich mit Medaille

Kurios ist die Geschichte insbesondere, weil Nationalitätenwechsel im Spitzensport oft unproblematisch abgewickelt werden und ein neuer Pass für erfolgreiche AthletInnen leichter zu bekommen ist als für Normalsterbliche. Der internationale Ruhm aus olympischen Medaillen oder Weltmeistertiteln, in dem sich so manche Regierung gerne sonnt, wirkte schon auf viele klemmende Türen wie ein magisches Sesam-öffne-Dich. In den Niederlanden fällt jedoch auch dieser Bereich in den letzten Jahren unter die allgemeine Tendenz, staatsbürgerschaftliche Schlupflöcher zu stopfen. Ausnahmen, so die Logik, werden selbst im vermeintlich nationalen Interesse des Spitzensports nicht mehr gemacht, um die ansonsten angewandte harte Linie nicht zu unterminieren. Deutlich wurde das im Vorfeld der Fussball-WM 2006: Das Ausländerministerium statuierte am ivorianischen Weltklassestürmer Salomon Kalou ein Exempel, indem es ihm den beantragten niederländischen Pass verwehrte.

Nun zeigt sich – unter umgekehrten Vorzeichen freilich – diese Linie auch im Eisschnelllauf, wo angesichts der hohen Qualitätsdichte Nationalitätenwechsel bislang keine Seltenheit waren. Der Begriff «Schlittschuhbelgier» ist ein geflügeltes Wort, seit Bart Veldkamp, 1992 Olympiasieger, in den letzten Jahren seiner Karriere für das Nachbarland antrat. Andere folgten ihm. Auch für Tschechien, die Schweiz, Deutschland und Österreich gingen niederländische Eisläufer an den Start, ohne dass das für Probleme sorgte. Kasachstan als Nicht-EU-Land erweist sich dagegen als weniger geeignet. «Natürlich hätte ich das gerne früher gewusst», sagt Hadders heute lapidar.


«Wie Tomaten im Supermarkt»

WOZ: Pieter Boeles, Sie sind ehemaliger Juraprofessor der Universität Leiden und Spezialist für Einwanderungsrecht. Was ist das besondere am Fall der «Schlittschuhkasachen»?

Pieter Boeles: Im Kern geht es um den freiwilligen Charakter, mit dem die Sportler die kasachische Nationalität angenommen haben. Das «Reichsgesetz zur Niederländerschaft» besagt, dass jemand, der aus freien Stücken und ohne Notwendigkeit eine andere Staatsbürgerschaft annimmt, seine niederländische dadurch automatisch verliert.

Ist es dabei von Bedeutung, ob das neue Land in der EU liegt oder nicht?

Nein, das macht keinen Unterschied. Den niederländischen Pass verliert man so oder so, nur, dass man als EU-Bürger natürlich ungleich mehr Rechte geniesst als jemand aus einem Land wie Kasachstan.

Gibt es keine Ausnahmen?

Doch, die gibt es, aber sie treffen hier nicht zu. Eine solche wäre zum Beispiel, wenn sie die kasachische Staatsbürgerschaft durch eine Heirat erworben hätten.

Die Läufer sind in Besitz von gültigen Arbeitsverträgen bei ihrem Rennstall. Lässt sich darüber nicht auch der Aufenthalt regeln?

Auch das ist ziemlich problematisch, wenn man sie wirklich als Kasachen behandelt. Dann bekommen sie nur eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn ihr Arbeitgeber um eine Arbeitserlaubnis anfragt. Und um die zu erhalten, muss auch in ihrem Fall belegt werden, dass es keine Niederländer oder EU-Bürger für den Job gibt. Auch wenn sie als Altniederländer natürlich «komische» Kasachen sind.

Was würden Sie als Experte raten? Was kann man in dieser Situation machen?

Auch diese Suppe wird nicht so heiss gegessen, wie sie gekocht wird. In der Praxis kann man auch eine Aufenthaltserlaubnis als ehemaliger Niederländer beantragen, die einfacher erteilt wird. Für eine kurze Zeit hilft auch ein Besuchervisum. Oder sie werden nach einer Weile wieder Niederländer, wofür sie dann wiederum ihre kasachischen Pässe aufgeben müssten.

Sie waren als Anwalt und Professor auf Immigrationsrecht spezialisiert. Wie wirkt dieses «kasachische Abenteuer» auf Sie?

Als Anwalt weiss ich, dass die meisten Menschen sehr sorgfältig mit ihrem Pass umgehen und sich dessen Wertes bewusst sind. Offenbar ist das bei diesen niederländischen Sportlern anders. Sie dachten eher, sie könnten darüber so einfach verfügen wie über einen Beutel Tomaten im Supermarkt. Das war wohl etwas zu bequem. Und sie waren sehr leichtfertig, sich nicht im Vorfeld sauber zu erkundigen.