Das Schweizer Malaise: Wer bezahlt die Zeche?

Nr. 52 –

Die grüne Nationalrätin Marlies Bänziger über Minarettpodien mit Ulrich Schlüer, die Welt im Schwitzkasten der internationalen Hochfinanz und faschistische Tendenzen in der Schweiz.

WOZ: Marlies Bänziger, Sie waren eine der wenigen linken Politikerinnen, die frontal gegen die Minarettinitiative gekämpft haben, etwa auf Podien mit Chefminarettgegner Ulrich Schlüer. Konnte er Sie ein bisschen überzeugen?
Marlies Bänziger: Nein. Irgendwann sagte ich zu ihm: «Stopp! Das ist doch bireweich!» Ich forderte ihn auf, mir offen zu sagen, worum es ihm wirklich gehe. Er sagte dann: «Scharia.» Ich sagte: «Diese steht bei der Initiative nicht zur Diskussion.» Er sagte: «Islam.» Ich sagte: «Steht nicht zur Debatte. Bei der Minarettinitiative geht es um die Definition eines Turms neben einem Glaubensgebäude.» Schlüer zuckte bloss mit den Schultern. Das machte mir klar: Bei dieser Initiative geht es um nichts ausser Verunglimpfung.

All der Aufwand, bloss um andere zu verunglimpfen?
Das hat System und ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Verunsicherung. Die Minarettinitiative steht in einer Linie mit der Verwahrungs-, der Verjährungs- und der kommenden Ausschaffungsinitiative. Sie alle zielen ab auf eine Pauschalverunglimpfung von Bevölkerungsgruppen. Es geht um Ausgrenzung und um Schlechtmacherei.

Bei der kaum umsetzbaren Verwahrungsinitiative schafft man unkontrollierbare Schlechtmenschen, gesellschaftlich Aussätzige, die eben verwahrt werden müssen. Es ist eine Abkehr von der Zeit, als man versucht hat, die Gesellschaft möglichst breit zu machen. Es wird immer enger auf der Welt, und um sich Luft zu verschaffen, verschmälert man die Gesellschaft. Es ist eine ständige Suche nach Ventilen, damit die Leute Dampf ablassen können. Und das funktioniert, wie das jüngste Abstimmungsergebnis zeigt. Aber was soll eigentlich erreicht werden? Und was genau ist es, das einen stört?

Was geschieht, ist eine bewusste Destabilisierung der Gesellschaft durch bestimmte politische, populistische Kräfte. Und ich wiederhole: Das geschieht ganz bewusst.

Andere sagen: Die Leute haben einfach Angst.
Natürlich haben sie das. Und das ist absolut verständlich. Es wird enger auf der Welt. Versuch dich mal als Jugendlicher abzugrenzen. Alles ist vom Kommerz vereinnahmt. Darum doch diese Zerstörungswut. Hinzu kommt eine besorgniserregende Perspektivenlosigkeit: Du willst eine Lehrstelle? Leider haben sich schon 200 Leute beworben.

Das klingt nicht rosig.
Besser wird es nicht. Die rechtsbürgerliche Politik in diesem Land ist der Meinung, man kann sich abschotten, bis hin zur Mitte: keinen Rappen in Entwicklungszusammenarbeit investieren und so die gefürchteten Migrationsströme verhindern. Etwa, in dem man mit Schengen eine Mauer um Europa baut. Aber die Welt ist in Bewegung. Da nützt auf Dauer keine Mauer. Die Debatte um Entwicklungszusammenarbeit basiert auf der Frage: Wenn wir einen Franken in Afrika investieren, wie viel kommt dann zurück? Man fragt nicht: Wenn wir einen Franken nach Afrika schicken, wie vielen Menschen ermöglicht das ein erträgliches Leben? Und verhindert damit Migrationsbewegungen? Oder erhöht man so die Bildung, um etwa die Reproduktion zu senken?

Jede Generation hat wohl das Gefühl, dass das Beste hinter ihr liegt.
Das stimmt nicht. Die Nachkriegsgeneration wusste, dass das Beste vor ihr liegt. Ich bin an der Grenze dieser Zeit aufgewachsen. Erst in den späteren siebziger Jahren merkte man, dass es nicht permanent aufwärts geht. In meiner Jugend wurde der Club of Rome gegründet, seine Studie «Grenzen des Wachstums» erschien. Die Achtundsechziger kümmerten sich nicht um Nachhaltigkeit. Sie bekämpften den Imperialismus. Die Fronten waren links und rechts. Heute geht es um Verbote und Nichtverbote. Um persönliche und gesellschaftliche Freiheit. Links und rechts hat ausgedient. Das grosse Thema ist die globale Umverteilung.

Der Westen scheint ohne ein Feindbild nicht leben zu können. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat er ein neues.
Definieren Sie dieses Feindbild.

Nun, hier der Westen, dort ...
Sie stocken. Glauben Sie mir, Sie sind nicht der Erste, der bei dieser Frage stockt. Der Islam? Das Kopftuch?

Ich zitiere einen SVP-Nationalrat: «Der Islam ist intolerant. Deshalb muss er mit Intoleranz bekämpft werden.» Demnach geht es um die Verteidigung der Freiheit.
Von welcher Freiheit reden wir heute? Von der Freiheit auf Luftverschmutzung? Der Freiheit auf Endlichkeit der Ressourcen? Der Freiheit der Wasserprivatisierung? Der Freiheit der Privatisierungsgelüste der Grosswirtschaft? Der Freiheit des entfesselten Finanzmarkts ohne Regulatoren? Der Freiheit auf eine Schweiz ohne Gletscher? Ohne Ernährungssouveränität? Die Politik macht einen Schnitt durch ihr Bewusstsein. Man mag nicht mehr hinschauen. Weil das derart viel Denken und Arbeiten bedeuten würde, redet man über Minarette.

Sie sagen, die Politik bewirtschaftet bestimmte Ängste der Menschen, weil sich aus den wahren Problemen ziemlich wenig politisches Kapital schlagen lässt?
Das ist so. Und das ist ein gefährliches Spiel. Die jüngsten Initiativen gehen alle auf Kosten der Verfassung, die permanent geritzt wird. Grundwerte werden infrage gestellt. Wer kann daran interessiert sein, dass unsere Verfassung geschwächt wird? Unsere Rechtssicherheit infrage gestellt? Schlagwort «Scharia»: Als ob die Schweiz keine Gesetze hätte, keine Verfassung! Es wird uns permanent eingeredet, wir sässen wie das Kaninchen vor der Schlange. Eine Lüge!

Dann glauben Sie also an einen Masterplan von Feinden der Freiheit?
Bei den aktuellen Debatten um das islamische Recht, die Scharia, die plötzlich bei uns auch gelten könnte, stellt sich beim Blick auf unsere Gesetze einzig folgende Frage: Haben wir den politischen Willen und genug Personal, um unsere Gesetze umzusetzen? Da ist dann von den gleichen Leuten, die permanent Gesetze verschärfen, nichts zu erwarten. Sie fordern Gesetze im Wissen, dass das Personal fehlt, diese Gesetze auch umzusetzen.

Das Ritzen der Verfassung und die mangelnde Bereitschaft zur Durchsetzung von Regeln bedeutet: Man will keinen stabilen Staat. Man will eigentlich auch keine Völkergemeinschaft, die auf einem gerechten Handel, auf ökologischen und sozialen Standards beruhen würde. Vielmehr ist man offenbar der Meinung, dass ein elitäres Klübchen es schon schafft, den Rest der Menschheit zu managen.

Sie glauben, dass Freiheit und Rechtsgleichheit zu bedrohten Gütern werden?
Es werden Grenzen gezogen. Die Ausschaffungsinitiative ist der nächste Schritt hin zu einer Gesellschaft der Ausgrenzung. Sie fordert per Verfassungsänderung, dass gesetzlich verurteilte Ausländer ausgeschafft werden. Mehr oder weniger unabhängig vom Delikt. Da wird Tür und Tor geöffnet für eine Gesellschaft, die sich mit der Überwachung von ungeliebten Ausländergruppen beschäftigt. Denn durch den Verfassungstext sind sie per se verdächtig. Was sich für völkerrechtliche Fragen stellen im Falle einer Ausschaffung in ein despotisches Land, steht schlicht nicht zur Diskussion. Damit sagen die einen den anderen: Ihr seid Einwohner zweiter Klasse. Jene, die das Bürgerrecht haben, sind die Guten. Jene, die nur hierher kommen, um zu arbeiten, sind die Schlechten. Dadurch wird eine Pseudoelite geschaffen und weiteres Potenzial an Leuten, die man ausgrenzen kann. Und stellen Sie sich vor: Die «Jugos» sind inzwischen derart gut integriert, dass die sogar vermehrt Matura machen. Das ist schaurig unangenehm für die Schweizer, sind die Mittelschulplätze doch begrenzt. Mögliches Fazit: «Das ist beschissen. Ich stimme Ja bei den Minaretten. Ich will es denen zeigen. Dieser Platz gehört mir.»

Fremdenfeindlichkeit als Hauptmotor bei der Minarettabstimmung – das ist derzeit eine ziemlich unpopuläre Meinung.
Wer bei solchen Abstimmungen die emotionale Ebene ausblendet, ist schlicht naiv. Deshalb sind solche Initiativen gefährlich. Sie lösen keine Probleme, sie dienen bloss dazu, Dampf abzulassen auf Kosten schwächerer gesellschaftlicher Gruppen. Die Frage ist: Wie bewusst werden solche permanenten Erschütterungen des Staates erzeugt?

Wie bewusst?
Sehr bewusst.

Mit welchem Motiv?
Um den Boden zu bereiten für einen neuen Faschismus.

Faschismus? Wie meinen Sie das?
Es ist eine erschreckende Tendenz: Leute oder Gruppen werden immer mehr massiv verunglimpft, Medienarbeit wird personifiziert: Als Politikerin oder Politiker musst du möglichst schnell eine möglichst laute Klappe haben, dann ist deine Wiederwahl gesichert. Du bist populär, die Medien müssen nichts tun, als deine grosse Klappe zu portieren, du veränderst nichts, und wenn alles so bleibt, wie es ist, ist das die beste Voraussetzung, um dich selbst zu erhalten im Parlament. Und es ist effizient für die Medien. Braucht nicht mal eine Recherche. Dank populistischer Politik und populistischem Journalismus muss man nicht über die wesentlichen Sachen diskutieren.

Was hat das mit Faschismus zu tun? Faschismus meint doch Diktatur, totalitäre Züge. Ist es das, was Sie meinen?
Ja. Denn was bei dieser Entwicklung schwindet, ist die Diskussion über das Wesentliche, über die voranschreitende Entwicklung der Destabilisierung. Ein typisches Beispiel dafür ist die Strafgesetzrevision. Man hat Neuerungen eingeführt, beispielsweise die bedingte Geldstrafe beschlossen, und sofort infrage gestellt. Gefordert, sie rückgängig zu machen. Wenn alles Beschlossene umgehend infrage gestellt wird, sofort anders neu beschlossen werden soll, weiss am Ende niemand mehr, was eigentlich gilt. Das ständige Lancieren von Volksinitiativen, die haarscharf der Verfassung entlangschlittern, diese ritzen, schwächt die Verfassung massiv. Es schwächt die Rechtssicherheit. Das schadet der Stabilität eines Landes. Wenn die Politiker eine grundsätzlich verunsicherte Volksmasse wollen, die über Angstmacherei leicht zu manipulieren ist, dann ist dies zielstrebig. Und das meine ich damit: So wird der Boden bereitet für faschistische Tendenzen.

Aber mit welchem Motiv?
Wenn Räume, Leben, global gesehen und im Hinblick auf die kommenden Verteilkämpfe, immer enger werden, muss man schauen, dass man seinen Profit auf der sicheren Seite hat. Die entscheidende Frage ist: Was hilft wem, und wo sitzt die Macht?

Wo sitzt sie denn?
Bei den globalisierten Wirtschafts- und Finanzmagnaten. Die Finanzkrise war nicht vorhersehbar, sagt man. Die globalisierte Finanzbrache ist nicht kontrollierbar. Es gibt niemanden, der ein Regulativ einsetzen kann oder will. Diese Finanzwelt, die sich im Schatten von WTO-Regulationen aufgebaut hat, wurde umgehend gerettet. Und zwar durch massive Staatsverschuldungen, die etwa Griechenland an den Rand des Bankrotts getrieben haben. Diese Global Players der Finanzbranche, die eigentlich Dienstleister für die Wirtschaft wären, sagen: Wenn ihr uns nicht rettet, geht die Realwirtschaft unter. Die Realwirtschaft überlegt sich in der Zwischenzeit, wie sie sich wieder organisieren soll. Und irgendwo hinkt die Politik hinterher, die nun die Wirtschaft retten soll, denn dort liegen die Arbeitsplätze. Es hat sich eine unkontrollierbare Dynamik entwickelt.

Die UBS-Rettung etwa war also keine Rettung?
Kurzfristig schon. Langfristig hat sich schlicht nichts geändert.

Was heisst das?
Die Nationalbank hat von der UBS für vierzig Milliarden Franken toxische Papiere übernommen. Das waren Papiere, die falsch bewertet wurden, darum als toxische Inaktiven galten. Davon hat sie nun gegen zwanzig Milliarden abgestossen und wieder auf dem Markt platziert. So jedenfalls wurde es uns in der Kommission versichert. Die toxischen Inaktiven sind also wieder aktiv geworden. Ich gehe davon aus, dass sie toxisch geblieben sind, alles andere wäre ein Hohn auf die jüngste Geschichte. Man macht also einfach weiter.

Die Allgemeinheit wird die Zeche bezahlen – ein finanzpolitischer Verteilkampf auf allen Ebenen ist die Folge. Wir kennen die Diskussion jetzt schon aus den Spardebatten bei den Budgets. Das Sparen geht auf Kosten von Umwelt, Gleichberechtigung und sozialer Sicherheit. Die Folge ist eine entsolidarisierte Gesellschaft. Ein System, das mangels Kontrollen zu einem Desaster geführt hat, wurde mittels milliardenschwerer Staatsverschuldungen gerettet, obwohl es gescheitert ist. Geändert hat man nichts, nichts beschränkt. Es ist bloss eine Frage der Zeit bis zum nächsten grossen Crash. Wir sind zurück auf Feld eins, während ich mit Ulrich Schlüer auf Podien über Minarette diskutiere.

Ihm und seinen Kollegen von der SVP werfen Sie in diesem Gespräch vor, den Boden zu bereiten für einen neuen Faschismus. Was sagen Ihre rechten Nationalratskollegen dazu?
Ich habe Hans Fehr kürzlich gesagt: Ihr lebt eine politische Schizophrenie. Denn im persönlichen Umgang verstehe ich mich etwa mit Fehr sehr gut. Er ist ein anständiger Gesprächspartner. In der öffentlichen Diskussion greift er zum Schwert. Es gibt die Institution Zürcher SVP, die seit 1994 ihre Ausrichtung zelebriert mit Verunglimpfung, Schlechtmacherei. Die Institution steht im Gegensatz zu ihren einzelnen Exponenten, denn viele von ihnen, nicht nur Hans Fehr, sind im persönlichen Umgang kollegial, freundlich und durchaus sympathisch. Doch sie haben den Moloch Partei, der die Drecksarbeit erledigt. Sie trennen Person und Institution. Und die Institution ist jetzt fünfzehn Jahre alt, sie ist in der Pubertät. Kürzlich sagte ich auf einem Minarettpodium zu Schlüer: Wie fast jeder Pubertierende bricht eure Institution Grenzen, diffamiert, macht schlecht, pöbelt. Aber wie viele Pubertierende ist sie gleichzeitig auch nicht in der Lage und nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie verunglimpft, zerstört, ohne genau sagen zu können, was sie eigentlich will.

Was ist das Rezept gegen das Diktat des Populismus, gegen die einfachen Rezepte destruktiver Politik? Die sozialen Fragen thematisieren?
Ja. Und zwingend auch die ökologischen. Wir können uns nicht vor der Welt verschliessen. Auch nicht mit Populismus. Die Politik muss sich vermehrt globalisieren. Soziale und ökologische Standards gehören in die zentrale politische Diskussion jeder nationalen Frei- und Handelspolitik. Es wäre zwingende Aufgabe einer globalen Politik im anbrechenden Jahrzehnt, die Grossfinanz mittels Regulativen in die Schranken zu weisen. Es gibt auch andere Rezepte. Darf ich mir dazu von Ihnen als Vertreter des Berufsstandes Journalist etwas wünschen?

Es ist Weihnachten ... Sie dürfen!
Ich wünsche mir mehr gut recherchierten Journalismus, mehr vertiefte Berichterstattung, die auf harte Fakten setzt und auch spannend erzählt ist. Denn auch guter Journalismus ist ein Rezept gegen Populismus.

Die Interviewpartnerin

Marlies Bänziger (49) sass ab 1990 in der Winterthurer Legislative, war dort ab 1997 Bezirksrätin und zudem von 2000 bis 2005 Mitglied des Verfassungsrats des Kantons Zürich. Seit Juni 2004 ist sie Ko-Präsidentin der Grünen Partei des Kantons Zürich. Im Oktober 2007 wurde sie in den Nationalrat gewählt. Sie sitzt in der Finanzkommission des Nationalrats und ist Mitglied der Efta-Delegation, die sich für fairen Handel einsetzt.