Durch den Monat mit Roger de Weck (Teil 4): Herrscht bald Krieg?

Nr. 52 –

Roger de Weck: «Immer mehr Menschen sagen: ‹Bis hierher und nicht weiter›.»

WOZ: Roger de Weck, was hat es mit Ihren Augen auf sich?
Roger de Weck: Nur mit dem linken Auge sehe ich scharf. Von Kind an schielte ich, dreimal wurde ich vergeblich operiert. Das rechte Auge ist an sich gesund, aber das Gehirn ist damit überfordert, stark divergierende Bilder zur Deckung zu bringen; die Gehirnfunktion für das schielende Auge bildete sich deshalb irreversibel zurück. So krass schiele ich, dass mich jeder Wirt, und sei es in Warschau, beim zweiten Besuch wiedererkennt und wie einen Stammgast begrüsst. Seit 56 Jahren lebe ich sehr ordentlich mit diesem Augenfehler als Kennzeichen.

Der Kapitalismus sei zur Religion geworden, heisst es in Ihrem Buch «Nach der Krise».
Ich beziehe mich auf ein Fragment von Walter Benjamin, der im Kapitalismus die Ersatzreligion sah. In der Tat: Die Selbstheilungskraft des Marktes war bis vor kurzem das Heilsversprechen. Wie der Markt vergöttlicht (und der Staat verteufelt) wurde  – das war transzendent. Alles auf ein Prinzip zurückführen, darin liegt etwas Religiöses; beim Kapitalismus handelt es sich wohl um eine monotheistische Religion.

Diese eine, alles bestimmende magische Hand des Markts, die scheint angesichts der Krise ein bisschen verletzt zu sein. Jetzt fehlt noch ein Reformator. Wer ist der nächste Calvin?
Die stärkste Triebfeder zur Systemveränderung ist wohl das Bewusstsein für Ökologie. Fast alle sehen inzwischen ein, dass Marktpreise uns irreführen, solange sie die Umweltkosten ausblenden. Verknappen sich überlebensnotwenige Ressourcen, wird neben dem Wettbewerbsprinzip das Kooperationsprinzip immer wichtiger. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder versucht jeder, sich diese Ressourcen anzueignen  – bis zu dem Punkt, wo selbst die Luft privatisiert wird. Daraus entstehen Kriege, denn es geht ums Überleben. Oder die Welt setzt auf Kooperation wie in unzulänglicher Weise schon am Klimagipfel von Kopenhagen. Man sucht die gütliche Verteilung dessen, was überlebensnotwendig, aber Mangelware ist. Krieg oder Kooperation, das ist die Frage des 21. Jahrhunderts. Beides ist nicht Marktwirtschaft.

Sieht man, wie bescheiden die Fortschritte in Kopenhagen waren, und glaubt man den Klimamodellen, dann deutet einiges darauf hin, dass für ein Kooperationsmodell die Zeit knapp wird.
Je geringer die Fortschritte, desto schwieriger wirds in der Tat. Trotzdem will ich nicht nur schwarzmalen. Es ist das leidige Grundprinzip der Politik, dass sie meistens zu spät handelt  – dann aber sehr entschieden.

Die Marktlogik bestimmt heute nicht mehr nur die Wirtschaftsbeziehungen, sondern zunehmend auch gesellschaftliche Bereiche. Wo stört Sie dies besonders?
Am schlimmsten ist die Ökonomisierung menschlicher Beziehungen: wenn diese nur noch unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten betrachtet werden. Dann gibt es keine Gesellschaft mehr und keine Solidarität. Der individuelle Eigennutz, den Ultraliberale während dreissig Jahren heiligten, schlägt jetzt in den Eigennutz von Gruppen um: Wir sind besser als die anderen. Auf das Ich folgt das Wir – die Rücksichtslosigkeit des Individuums gegenüber Mitmenschen mündet in die Rücksichtslosigkeit der Mehrzahl gegenüber Minderheiten.

Dann war die Annahme der Minarettinitiative nur möglich, weil dreissig Jahre Ultraliberalismus hinter uns liegen?
Wer sich mit Geschichte befasst, ist vorsichtig im Ermitteln direkter Kausalitäten. Aber dass manches denselben Ungeist atmet, ist für mich klar.

Am Samstag hat das Treffen des Club Helvétique stattgefunden. Eine Toleranzinitiative zur Streichung des Minarettverbots wird vorerst doch nicht lanciert. Zunächst soll im Frühling ein Bündnis für Demokratie und Menschenrechte entstehen. Wer ist dort mit dabei?
Es dürfte ein bunter Haufen werden, noch fehlt uns allen der Überblick.

Eine neue, kräftige Bewegung?
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich hier etwas kristallisiert. Immer mehr Menschen sagen: «Bis hierhin und nicht weiter.» Sie werden endlich von der Öffentlichkeit und den Medien  – was ja zweierlei ist – wahrgenommen und können zur politischen Kraft gedeihen. Zuversichtlich stimmt mich, wie sich beim Club Helvétique und ähnlichen Gruppen unzählige Zeitgenossen melden, die sich tatkräftig engagieren wollen. Die Widerstandskräfte regen sich.

Roger de Weck (56), früher Chefredaktor von «Zeit» und «Tages-Anzeiger», ist Publizist und Präsident des Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Er lehrt am College of Europe in Brügge und Warschau und hat den sozialliberalen Club Helvétique mitgegründet.