Durch den Monat mit Leo Schelbert (Teil 1): Wieso wanderten Sie aus?

Nr. 1 –

Leo Schelbert: «Ich bin kein Auswanderer, ich bin ein Schweizer, der im Ausland arbeitet.»

WOZ: Leo Schelbert, Sie leben seit fünfzig Jahren in den USA. Heute sind Sie zu Besuch in der Schweiz: Wie hat sich das Land verändert?
Leo Schelbert: Ja, es hat natürlich viel mehr Häuser. Wo früher Wiesen waren, sind Überbauungen. Grossartig ist das Transportwesen. Ich kann fast jederzeit zum Bahnhof gehen und in einen Zug steigen. Das ist traumhaft.

Ein Vorteil gegenüber Amerika: das gute öffentliche Verkehrsnetz?
Ein ganz wichtiger Vorteil.

Wieso sind Sie aus der Schweiz ausgewandert?
Ich bin kein Auswanderer. Ich bin ein Schweizer, der im Ausland arbeitet. Der Unterschied ist, dass ich die Heimat nur aus beruflichen Gründen verlassen habe. Sie als Journalist werden vielleicht eines Tages nach Washington geschickt für eine gewisse Zeit ...

Ach, schön wärs!
Wenn man an einer Universität lehren will, sind die Möglichkeiten begrenzt. Bei mir war es fast Zufall, dass ich nach Chicago gekommen bin. Ein Freund wurde dorthin berufen und sagte: Wenn du fertig bist, kommst du auch.

Damals waren Sie aber bereits in den USA?
Ja, ich habe in New York meinen Doktor gemacht, auf Englisch.

Sie haben eine Frau aus den USA geheiratet. Sie sind Amerikaner!
Nein.

Nicht? Nach fünfzig Jahren?
Ein Land ist «trouble enough». Aber im Ernst: Ich bin eher ein Aussenseiter, auch mit meiner Arbeit. Wenn man Wissenschaft betreibt, muss man sich immer wieder von üblichen Sichtweisen befreien.

Ein wissenschaftlicher Aussenseiter?
Ja, schon. Ich habe amerikanische Geschichte anders gelehrt, als das üblich war. Die indianische Welt war für mich ebenbürtig mit der europäischen. Ich kämpfte gegen Primitivitätstheorien und die Vorstellung eines leeren Landes, das besiedelt wurde. Ich nahm die indianische Welt als komplexes Wirtschaftssystem, als komplexes politisches und auch als Denksystem ernst. Es gibt ja drei Perspektiven in der amerikanischen Geschichte bis 1900: erstens die einheimische Welt, die eine tödliche Invasion erlebt. Dann die Welt der europäischen Einwanderer, als Teil dieser Invasion. Schliesslich die Westafrikaner und ihre Welt. Ich habe versucht, diese Gruppen gleichwertig zu behandeln. Einmal sagte ein indianischer Student nach der Vorlesung, er habe sich jetzt zum ersten Mal selber als Teil der Geschichte gefühlt.

Wie kamen Sie zum Thema Schweizer Auswanderungsgeschichte?
Ich hatte in Chicago die unmögliche Aufgabe, amerikanische Einwanderungsgeschichte zu lehren.

Unmöglich?
Um über Einwanderungsgeschichte zu lehren, müsste man hundert Sprachen sprechen und an tausend Orten gewesen sein. Ich kann nur ernsthaft über Einwanderung reden, wenn ich das Land kenne, aus dem die Leute stammen, und zwar über lange Zeiträume. Daher musste ich mich auf eine Gruppe konzentrieren. Ich entschied mich für die Schweizer.

Sie haben unzählige Fälle dokumentiert. Ich musste lachen bei der Darstellung der religiösen Auswanderung: Diese Schweizer gingen also nach Amerika, nahmen den Indianern das Land weg und bauten als Erstes eine Kirche drauf.
Das religiöse Motiv ist oft wichtig. Von Anfang an wurde behauptet, dass die Besiedelung Amerikas Gottes Wille sei. Das Heidentum sollte bekämpft werden.

Sie waren während der Abstimmung über die Minarettinitiative in der Schweiz. Hat dieses Thema etwas zu tun mit den Geschichten, die Sie als Historiker erforschen?
Das gehört natürlich dazu. Mir hat es schaurig leid getan, wie die Abstimmung herauskam. Aber man darf die Leute deshalb nicht verteufeln. Sie sind an Kirchen gewöhnt, protestantische, katholische, und plötzlich steht da – ich kenne es aus Chicago – eine grosse Moschee mit Halbmond, der in der Sonne leuchtet, statt einem Kreuz. Ein Symbol für die Veränderung, die kommt. Das Kopftuch ist auch so ein Symbol ... Ich möchte es so sagen: Als ich jetzt in die Schweiz kam, war ich traurig wegen des Weihnachtsrummels, der hier herrscht. Mir hat es besser gefallen, wie es früher im Advent war, als man die christliche Substanz noch spürte. Das sind Veränderungen, die mir persönlich leidtun.

Was hat das mit den Minaretten zu tun?
Eine bestimmte Situation wird zur Norm gemacht. Wenn man den Advent als Kind erlebt hat und wieder in die Schweiz kommt, möchte man es haben wie früher. Die Veränderungen gefallen einem nicht. Doch man muss sich an sie gewöhnen. Ich auch.

Leo Schelbert (80), geboren in Kaltbrunn SG, lehrt seit den sechziger Jahren Einwanderungsgeschichte in Chicago.
 Im Limmat-Verlag wurde das von ihm mit herausgegebene Buch «Alles ist ganz anders hier» mit Schweizer Auswanderungsberichten wiederaufgelegt.