Völkermord: Krieg führen im Namen der Menschlichkeit?

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Die Vereinten Nationen haben 1948 festgelegt, was als Genozid zu werten ist. Der streitbare Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen will diese Definition ausweiten – nicht zuletzt, um künftige westliche «Präventionskriege» zu rechtfertigen.


Die Debatte um Daniel J. Goldhagens neues Buch «Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist» läuft bislang eher verhalten. Kein Vergleich mit der grossen Aufregung, die sein Erstlingswerk «Hitlers willige Vollstrecker» 1996/97 in der deutschsprachigen Presse auslöste. Damals hatte Goldhagen behauptet, der «eliminatorische Antisemitismus» der Deutschen sei die entscheidende Ursache der Schoah, des Völkermordes an den europäischen Jüdinnen und Juden – eine These, die eine hitzig geführte Kontroverse entfacht hatte. Die meisten FachhistorikerInnen widersprachen dem Newcomer, der mit seiner «extremen Position» – so der renommierte Schoah-Forscher Yehuda Bauer – vor allem die Medien begeisterte.

Inzwischen hat Goldhagen das Image des respektlosen Nachwuchswissenschaftlers eingebüsst. Sein Buch «Die katholische Kirche und der Holocaust» (2002) war ein Misserfolg. Nun versucht er erneut, mithilfe einer steilen These die Aufmerksamkeit auf sich und sein Werk zu lenken. Angedeutet wird diese These bereits im Titel des Buches: Wenn Völkermord schlimmer ist als Krieg, dann ist es prinzipiell legitim, das Schlimmere mit dem weniger Schlimmen zu verhindern – also (auch) mit Krieg.

In ein internationales Aktionsprogramm umgesetzt wird Goldhagens These allerdings erst im elften und letzten Kapitel, «Was wir tun können». Mehr als 500 Seiten widmet er theoretischen Überlegungen. Wie entstehen Völkermorde? Wie beginnen sie? Wer sind die Täter? Welche Rolle spielt der moderne Staat? Wie enden Völkermorde? Wiederum geht Goldhagen dabei von seinem Konzept des «Eliminationismus» aus, das er bereits in «Hitlers willige Vollstrecker» entwickelt hat. Er unterscheidet fünf Hauptformen, wie eine Gruppe von Menschen «eliminiert» wird, nachdem sie als Feind oder als Gefahr definiert worden ist: Transformation, Unterdrückung, Vertreibung, Reproduktionsverhinderung und Vernichtung. Aus Sicht der Täter seien diese eliminatorischen Mittel im Grossen und Ganzen «funktional gleichwertig», behauptet Goldhagen. Auch seien «eliminatorische Überzeugungen» zwar ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Grund dafür, eine Gruppe von Menschen tatsächlich zu ermorden. Für entscheidend hält Goldhagen das Wirken politischer Führer: Sie würden all jenen, die massenmörderische Gedanken hegten, die Gelegenheit verschaffen, sie in Wort und Tat auszuleben.

In rascher Folge erscheinen diese Führer und die von ihnen begangenen Massenverbrechen in sämtlichen Teilen des Buches: Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot, Milosevic, Saddam Hussein und andere mehr. Ebenso schnell wechseln die Schauplätze der Verbrechen: Von Ruanda geht es nach Kambodscha, von Südwestafrika nach Tibet, von Jugoslawien in die Türkei. Wie Völkermord respektive Genozid zu definieren und von anderen Formen massenhafter Gewalt abzugrenzen ist, interessiert Goldhagen nicht. Mal spricht er von Massenmord oder -eliminierung, dann von Massakern oder eben von Völkermord. Damit ignoriert er auch, was die vergleichende Genozidforschung herausgefunden hat: Selbst wenn die Grenzen zwischen Massenmorden respektive Massakern und Vertreibungen zum Völkermord fliessend sind, kann und muss klar unterschieden werden. Denn nicht immer führen Massaker oder Vertreibungen zum Völkermord oder werden in völkermörderischer Absicht begangen.

Verübt die Hamas Völkermord?

Die Vereinten Nationen haben 1948 mit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Genozid definiert, was Völkermord umfasst. Darunter fallen gewaltsame «Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören»: Sei es, dass sie getötet wird, dass ihr schwerer körperlicher oder seelischer Schaden zugefügt wird, dass ihr Lebensbedingungen auferlegt werden, die ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen; sei es, dass sie an der Reproduktion gehindert wird oder dass ihre Kinder in eine andere Gruppe überführt werden. Goldhagen lehnt die Genozidkonvention der Vereinten Nationen als zu eng ab: «Völkermord als ein Phänomen zu behandeln, das sich qualitativ von den anderen Formen der Masseneliminierung unterscheidet, ist nicht nur begrifflich unhaltbar, es geht auch an der Realität eliminatorischer Politik und Praxis vorbei.»

Er bietet eine eigene Definition an: «Massentötung lässt sich definieren als die Tötung von mehr als einigen Hundert Menschen, sagen wir: Tausend.» Eine zynische Formulierung – reichen 800 Tote, oder dürfen es auch etwas mehr sein? Konzentrieren wolle er sich in seiner Untersuchung «systematisch auf Massenmord – den Mord an mehr als einigen hundert Menschen in verschiedenen Massakern». Eine willkürlich gezogene Grenze, an die Goldhagen sich selbst nicht hält. Wiederholt schreibt er von «genozidalen Attentaten» der Hisbollah und der Hamas. Genozid ist für ihn augenscheinlich das, was seine Argumentation stützt und keine Alternative bietet zu seinem Programm, mit dem er Völkermord vorbeugen, verhindern und beenden will.

Dieses Programm wirft das bisher geltende Völkerrecht über den Haufen. Es geht darum, Umstände zu schaffen, «die Machthaber davon abhalten, sich für Eliminierungspolitik zu entscheiden». Laut Goldhagen braucht es dazu ein «internationales politisches Präventionsregime», das sich aus Gesetzen, Institutionen und Massnahmen zusammensetzt. Als konkrete Massnahmen schlägt er unter anderem vor, die Bevölkerung mit Flugblättern und via Internet zu informieren, wo eine «eliminatorische Politik» droht. Des Weiteren propagiert er Kopfprämien von bis zu zehn Millionen Dollar, um die Anführer unschädlich zu machen; Schuldige sollen zum Tode oder zu lebenslanger Haft verurteilt werden. Und nicht zuletzt macht sich Goldhagen stark für militärische Interventionen, um Völkermord zu beenden.

Letzteres wird nicht erst seit Erscheinen von Goldhagens Buch kontrovers diskutiert: Ist im äussersten Notfall ein Interventionskrieg als «kleineres Übel» dazu geeignet, noch mehr Opfer zu verhindern? Theoretisch ja, meinen viele. Praktisch sind Krieg und Genozid schwer voneinander abzugrenzen. Als Formen von «Massenvernichtung» sind sie sogar eng verwandt, schreibt der britische Politologe Martin Shaw: «Es ist der systematisch degenerierte Krieg, der in den Genozid mündet.» Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik hat Shaws These in seinem 2004 publizierten Essay «Zu einer Theorie des Völkermords» aufgegriffen. Sein Fazit bezüglich sogenannt humanitär begründeter Militärinterventionen: «Das vermeintlich letzte Mittel gegen genozidale Regime, der Krieg, die bewaffnete Intervention, wäre in Wahrheit in aller Regel erst der Auslöser von Genoziden.» Eine Auseinandersetzung mit solchen Einwänden sucht man bei Goldhagen vergebens. Die Ergebnisse der Genozidforschung ignoriert er ausdrücklich: «Dieses Buch beschäftigt sich nicht mit den Deutungen anderer Leute.»

Inhumane Rezepte

Das liesse sich verschmerzen, wenn Goldhagen tatsächlich ein grosser Wurf gelungen wäre. Er selbst ist davon überzeugt. «Genieverdacht gegen sich selbst», hat der Sozialpsychologe Harald Welzer Goldhagens Selbsteinschätzung in der «Zeit» genannt. Das mag zutreffen oder auch nicht – falsch ist jedenfalls der Eindruck, Goldhagens Buch biete mutige, wenn auch etwas weltfremde Antworten auf ein Menschheitsproblem. Denn seine Rezepte sind nicht nur inhuman, sondern zutiefst konventionell, setzt er doch statt auf die Überzeugungskraft der kühnen Idee auf die wirtschaftlichen und militärischen Machtmittel des Westens: Die «demokratischen Staaten» sind die Instanz, die sein Programm in die Tat umsetzen sollen. Ausdrücklich fordert er, die Vereinten Nationen abzuschaffen und durch «Vereinte Demokratische Nationen» zu ersetzen. Auf diesem Weg vorangehen könnten seiner Meinung nach auch einige wenige Staaten, angeführt von einer «moralischen Persönlichkeit» – etwa dem Präsidenten der USA. Auch die Nato und die Europäische Union gehören seiner Ansicht nach zu den Institutionen, die für den Demokratieexport genutzt werden müssen. Vorausgesetzt, sie erkennen die «Souveränität von Schurkenstaaten» nicht an.

Konsequent zu Ende gedacht, würden sich die bewaffneten «Vereinten Demokratischen Nationen» mit den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde anlegen, sie notfalls auch angreifen müssen. Hier meldet sich bei Goldhagen die realpolitische Vernunft: Für China und, «sofern nötig», für Russland scheint es ihm geboten, «eine Ausnahme zu machen», um sie auf die eigene Seite zu ziehen. Kann man das alles ernst nehmen? Man sollte es. Goldhagen bietet zwar kein auch nur annähernd realitätstaugliches Modell, dafür aber eine Sammlung von Argumenten, die für fatale Entscheidungen des Westens instrumentalisierbar sind – für einen immer noch denkbaren Präventionskrieg gegen den Iran etwa oder für andere militärische Schläge gegen den «politischen Islam», den Goldhagen als gefährlichste der potenziell völkermörderischen Ideologien bezeichnet.


Daniel Jonah Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Siedler-Verlag. Berlin 2009. 688 Seiten. Fr. 49.90

Daniel Jonah Goldhagen

Der US-Politikwissenschaftler Daniel Jonah Goldhagen (51) war bis 2003 Assistenzprofessor an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts. Seither widmet er sich ausschliesslich dem Schreiben und tritt als «öffentlicher Intellektueller» auf. Parallel zu seinem neuen Buch «Schlimmer als Krieg» hat er zusammen mit Mike DeWitt einen gleichnamigen Dokumentarfilm produziert.