Durch den Monat mit Leo Schelbert (Teil 4): Feiern Sie den 1. August?

Nr. 4 –

Leo Schelbert: «Was uns von anderen unterscheidet, ist ein gewisses Volksbrauchtum: das Jodeln und Singen, das Alphorn, die Trachten.»

Feiern Sie den 1. August?
WOZ: Leo Schelbert, seit unserem letzten Gespräch waren Sie in Indien?
Leo Schelbert: Ja, zwei Wochen, mit unglaublich reichen Eindrücken. Wir hatten das Privileg, bei Familien zu wohnen, und konnten so das alltägliche Leben beobachten. Auf dem zweiten Teil der Reise sahen wir auch viele Städte und Bauwerke; Festungen, Tempel, Paläste. Auch Reichtum und Armut dicht nebeneinander.

Sie haben dort Verwandte?
Einer meiner Söhne hat eine Inderin zur Frau. Sie ist allerdings in den USA geboren. Ihr Vater – wir sind gute Freunde – wollte schon lange, dass meine Frau und ich mit ihm Indien und das Dorf besuchen, in dem er aufgewachsen ist.

Wenn Sie vergleichen, wie schnell Sie heute nach Indien reisen und wie die Leute gereist sind, deren Wanderungen Sie untersuchen ...
Ja, das ist natürlich beeindruckend. Mit etwas Wartezeit sind es zwanzig Stunden für die ungeheure Strecke von Chicago nach Bangalore! Im achtzehnten Jahrhundert konnte es Monate gehen, bis man nur am Ozean war. Und die Fahrt übers Meer nach Amerika dauerte sieben bis vierzehn Wochen, mit Stürmen, auch mit Hunger und Tod. Eine Schweizer Auswanderergruppe, die im März 1710 nach North Carolina reiste, war beispielsweise 84 Tage auf Fahrt, hatte aber zusätzlich 93 Tage Wartezeit auf eigene Kosten zu bestreiten.

Worauf mussten sie warten?
Es gab kein integriertes Transportsystem. Man wusste zum Beispiel nie, wann ein Schiff ging. Man reiste eine Etappe und wartete dann auf die nächste Gelegenheit. Verlässliche Fahrpläne gab es erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts, erst dann konnte man planen. Ab 1860 wusste man wenigstens auf den Tag genau, wann ein Schiff ging.

2006 sind Sie für Ihre Forschung über Auswanderer zum Auslandschweizer des Jahres gewählt worden; was bedeutet das?
Schweizer im Ausland erhalten durch diese Ehrung eine gewisse Präsenz in der Schweiz. Vielleicht dringt so auch die Idee langsam durch, dass man die Welt der Auslandschweizer als 27. Kanton betrachten sollte.

Warum als 27. Kanton?
Weil Auslandschweizer zur Schweiz gehören. Jedes Land besteht aus einem Kernland und aus Ablegern jenseits der Landesgrenzen. Würde man die Schweizer im Ausland als 27. Kanton verstehen, wäre es selbstverständlich, diesen zu erforschen wie jeden anderen Kanton: wirtschaftsgeschichtlich, sozialgeschichtlich, politisch, kulturell und religiös. Das gilt auch für andere Nationen – ob Iren, Polen oder Iraner.

Auslandschweizer haben den Ruf, besonders konservativ zu sein. In ihren Vereinen pflegen sie überkommenes Brauchtum.
Wir Schweizer in den USA sind doch in erster Linie Westeuropäer. Als Schweizer sind wir unsichtbar. Wir sprechen in der Regel eine Sprache, die auch in einem Nachbarland gesprochen wird, und das Einzige, was uns von anderen unterscheidet, ist ein gewisses Volksbrauchtum: Das Jodeln und Singen, das Alphorn, die Trachten. Bei gewissen Anlässen, am 1. August zum Beispiel, wird dieses Brauchtum zur Schau gestellt, weil es kennzeichnend wirkt. Von der Schweiz aus gesehen mag das künstlich erscheinen.

Feiern Sie selber den 1. August?
Ich selber eigentlich weniger. In den vergangenen Jahren hielt ich ab und zu eine 1.-August-Rede, sei es in der Schweiz oder bei einem Schweizerverein in den USA.

Sie sind über achtzig, doch als Historiker arbeiten Sie weiter?
Mit Freude! Zu meinem Leidwesen befassen sich sonst nur wenige mit dem Thema «Schweizer Präsenz im Ausland». Zwei neue, hervorragende Beispiele sind: das Buch «Westwärts» von Susann Bosshard mit Porträts von fünfzehn Amerikaschweizerinnen, das bald auch auf Englisch erscheinen wird; und ein Buch über die Schamser Auswanderer, «Hier hört man keine Glocken», von Peter Michael-Caflisch.

Sie schreiben auch für Enzyklopädien und sind als Spezialist gefragt.
Zu oft! Lieber möchte ich Jüngeren den Vortritt lassen. Manchmal frage ich mich, ob die Lücke einfach offen bleibt, wenn ich tot bin. Oder ob jemand dieses Gebiet dann für sich entdeckt. Ich sehe die Schweizer Auswanderungsgeschichte aber vor allem als Testfall für die westeuropäische Auswanderung in die ganze Welt. Es geht darum, ein Grundverständnis der weltweiten europäischen Wanderungsgeschichte zu erarbeiten und dieses am Beispiel der Schweiz aufzuzeigen.

Leo Schelbert, geb. 1929 in Kaltbrunn SG, erforscht seit mehr als vierzig Jahren Schweizer Migrationsgeschichte in Chicago. Letzte Veröffentlichung auf Deutsch: «Alles ist ganz anders hier. Schweizer Auswandererberichte». Limmat Verlag. Zürich 2009.