Finanzmarktkrise: Der Finanzmarkt muss ein Service public werden

Nr. 4 –

Es brauche eine neue Verfassung des Kapitalismus, schreibt Philippe Mastronardi, Staatsrechtsprofessor an der Universität St. Gallen.


Eine PUK soll herausfinden, wer die Schuld am Versagen der Behörden in der Finanzmarktkrise trägt. Ist es die Finanzmarktaufsicht (Finma), das Finanzdepartement oder der Bundesrat?

Der blinde Fleck

Ist das aber die richtige Frage? Es geht nicht nur um Einzelversagen, sondern um eine institutionelle Krise. Unsere Politik verrät unsere wichtigsten ordnungspolitischen Werte – Demokratie und Rechtsstaat –, sobald sie Probleme lösen muss, mit denen sie nicht gerechnet hat. Der Bundesrat umgeht das Parlament und greift zu Notrecht, um die UBS zu retten; er und seine Finma verletzten Grundrechte und überschreiten die gesetzlichen Kompetenzen, um die USA zu beschwichtigen, wenn diese sich gegen eine schweizerische Gewinnsucht wehren wollen, die sich unter dem Mäntelchen des Bankgeheimnisses kaum mehr verstecken kann. Die Schweiz gerät in Verruf, weil sie die Grenzen des erträglichen Egoismus nicht mehr zu erkennen vermag. Egoismus macht kurzsichtig; Gier macht blind.

Die Schweiz leidet unter einem blinden Flecken in ihrem kollektiven Gesichtsfeld: Die dominante neoliberale Konzeption für das Verhältnis von Staat und Markt ist blind für die gesellschaftlichen und demokratischen Voraussetzungen unserer Marktwirtschaft. Sie schafft es nicht, den Kapitalismus als Grundvoraussetzung unserer Gesellschaftsordnung ins kritische Blickfeld zu rücken. Daher vermag sie nicht, das Offensichtliche zu hinterfragen. Sie erkennt nicht, dass das Kapital in unserer Wirtschaftsordnung bestimmt, wie die andern Produktionsfaktoren einzusetzen sind: wie viel Arbeitskräfte – das heisst Menschen –, wie viel Boden und Energie – das heisst Natur – gebraucht und verbraucht werden sollen und was dafür zu bezahlen ist. Der Markt – insbesondere der Kapitalmarkt – wird zum Ort der «Freiheit», von dem aus unsere Gesellschaftsordnung zunehmend bestimmt wird. Die Macht des Marktes wird akzeptiert und höchstens dort begrenzt, wo ihr Missbrauch unerträglich wird. Den Staat braucht es aus dieser Sicht nur für die Missbrauchsbekämpfung. Er dient dann als polizeiliche Aufsicht über den grundsätzlich freigesetzten Markt. Die Marktgesetze gelten als primär, Politik und Recht als sekundär. Sie sind nur als Reaktion auf die Ökonomie erwünscht. Das unausgesprochene Konzept hinter dieser Haltung ist jenes vom Primat der Wirtschaft vor der Demokratie und dem Rechtsstaat. Kein Wunder, dass Demokratie und Rechtsstaat unter solchen Prämissen missachtet werden, wenn es darum geht, ein «systemrelevantes» Unternehmen zu retten, welches als Folge seines eigenen Hochmuts abzustürzen droht.

Die Verhältnisse sind komplizierter, als uns lieb ist. Kapitalismus darf nicht allein ökonomisch definiert werden. Kapitalismus ist nicht einfach ein Marktsystem, in welchem der Produktionsfaktor Kapital über Investition, Produktion und Arbeit bestimmt. Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung. Deshalb kann es nicht den Ökonominnen und Ökonomen überlassen bleiben, zu bestimmen, welche Gesetze des Markts wirken sollen. Wir alle sind gefordert, hier mitzubestimmen. Was alle angeht, müssen alle beschliessen. Die Demokratie muss den Kapitalismus verfassen.

Warum aber läuft die Wirklichkeit anders, als wir sie haben möchten? Weil wir nicht merken, was uns der blinde Fleck im Auge verdeckt: den irrigen Glauben, der freie Markt mache uns selbst auch frei. Einen blinden Fleck können wir nicht erkennen, wenn wir immer in die gleiche Richtung schauen. Das aber ist es, was Politiker wie Wissenschaftler am liebsten tun. Sie kommen so am schnellsten vorwärts. Nur können sie dann schlecht die Richtung ändern, wenn das, was ihnen bevorsteht, zur Krise wird. Was wir also lernen müssten, um Krisen zu bewältigen, ist, unsere Welt aus verschiedenen Richtungen zu betrachten. Wir brauchen einen echten Pluralismus der Perspektiven auf unsere eigene Situation und die Bereitschaft, unser Handeln nach unterschiedlichen ordnungspolitischen Kriterien zu überprüfen und wo nötig zu kritisieren und zu ändern.

Die neue Perspektive

Einer allein schafft das nicht. Wir müssen uns in Gruppen offener Menschen zusammenschliessen, die einen Dialog über die möglichen Perspektiven führen wollen. Ein solcher Thinktank ist der Verein kontrapunkt mit über zwanzig Mitgliedern aus geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Universitätsinstituten der ganzen Schweiz. Die interdisziplinäre Gruppe von ProfessorInnen will verdeckte Aspekte unseres öffentlichen Zusammenlebens aufdecken und nach neuen Lösungen für unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik suchen. In einem Dossier mit dem programmatischen Titel «Lernen aus der Krise – Auf dem Weg zu einer Verfassung des Kapitalismus» hat diese Gruppe ihre Schlüsse zur Finanzmarktkrise publiziert (vgl. unten «Zur Person»). Ihre wichtigsten Erkenntnisse und Forderungen sind:

Die Marktwirtschaft ist gewiss jene Wirtschaftsordnung, welche dem Einzelnen die grösste Entfaltungschance gewährt. Die These, der «freie Markt» bewirke Wohlstand für alle, ist allerdings ein Mythos. Die reale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger verlangt, dass wir die Marktwirtschaft zivilisieren. Die Demokratie muss den Markt so verfassen, dass alle Menschen im Wirtschaftsprozess die gleichen Bürgerrechte ausüben können. Gerade die Finanzmarktkrise hat deutlich gemacht, dass wir den Kapitalismus nach unseren ordnungspolitischen Grundsätzen neu verfassen müssen.

Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist zu grossen Teilen auf gravierende Systemfehler der globalen Finanzwirtschaft zurückzuführen: Der ungebremste Kapitalismus, der unkontrollierte Einfluss der Wirtschaft auf die Politik und das Ungleichgewicht in den Leistungsbilanzen grosser Länder begünstigen die Entstehung von Krisen. Der Finanzmarkt schafft eine Geldschwemme, welche die eigentliche Ursache der heutigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise bildet.

Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft muss neu definiert werden. Es ist nach dem Prinzip des Gewährleistungsstaats zu gestalten: Die Ziele und Aufgaben des Staats im Dienste des Gemeinwohls sind demokratisch und rechtsstaatlich zu bestimmen; der Staat hat zu gewährleisten, dass die gesteckten Ziele verwirklicht werden. Er kann die Umsetzung dieser Ziele aber privaten Trägern übergeben, soweit diese dafür besser geeignet sind. Für den Bereich des Finanzmarkts hat diese Rangordnung zur Folge, dass der Finanzmarkt ein Service public ist (also eine öffentliche Dienstleistung wie die Strasse, die Post oder die Elektrizität). Geld und Kredit sind ja Voraussetzungen des Wirtschaftens; sie bilden eine Infrastruktur der Realwirtschaft. Das Funktionieren der Geldwirtschaft ist eine öffentliche Dienstleistung, welche im Auftrag des Staates von der Finanzwirtschaft erfüllt werden muss. Der Staat soll daher der Wirtschaft das Geld als Zahlungs- und Kreditmittel zur Verfügung stellen und dafür sorgen, dass die Banken Geld und Kredit im erforderlichen Masse für Investition, Produktion und Konsum verteilen. Er muss dabei aber die private Geldschöpfung auf jenes Mass begrenzen, das der Entwicklung der Wirtschaft entspricht. Nur so lassen sich Buchgeldblasen, wie sie die heutige Krise ausgelöst haben, verhindern.

Eine mögliche Ausgestaltung dieser Ordnung wäre die sogenannte «Vollgeldreform», welche den Zentralbanken die alleinige Kompetenz überträgt, Buchgeld zu schöpfen. Unsere Bankkonten wären dann nicht mehr Forderungen gegenüber den privaten Banken, sondern Geld, für welches die Nationalbank direkt haftet. Die Banken wären nur noch Treuhänderinnen und Verwalterinnen unserer Vermögen. Dies im Gegensatz zu heute, wo sie unser Geld in ihr Eigentum nehmen, um daraus ihr eigenes Vermögen zu bilden.

Den Kapitalismus verfassen

Diese Grundsätze führen auch zu einem neuen Konzept des Kapitalismus: Das Kapital ist sozialpflichtig und soll vom Staat so begrenzt werden, dass es sozial- und umweltverträglich eingesetzt wird. Anzustreben ist ein «verfasster Kapitalismus». Der Kapitalismus erhält eine Fassung, welche den Grundsätzen der Gesellschaft, der Politik und des Rechts gehorcht. Damit wird der Kapitalismus vom Ziel zu einem Mittel unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Sozialordnung.

Warum also hat unser politisches System in der Finanzkrise versagt? Weil unsere Behörden nicht rechtzeitig wahrhaben wollten, dass die bis anhin verfolgte Interessenpolitik des maximalen Gewinns ordnungspolitisch nicht länger haltbar ist. Weil wir alle das Gleichgewicht der liberalen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – heute Solidarität – zugunsten des Eigennutzens, sei es individuell, sei es in der Finanzbranche, sei es als schweizerische Nation, aufgegeben haben. Weil wir vergessen haben, dass Wettbewerb nur gut ist, wenn er in fairen Rahmenbedingungen abläuft. Diese Rahmenbedingungen aber müssen wir demokratisch immer wieder neu so definieren, dass sie der Allgemeinheit dienen.

Das erfordert allerdings ein Umdenken: Liberale Wirtschaftspolitik heisst dann nicht Durchsetzen eines Primats der Wirtschaft (oder gar des Kapitals) vor der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern Schaffen von Rahmenbedingungen für die reale Freiheit für alle beim Wirtschaften, sei es als Eigentümerin, Produzent, Arbeitnehmerin oder Konsument. Wenn dann eine Branche – die Finanzwirtschaft – sich herausnimmt, den ganzen Rest der Wirtschaft in ihre Abhängigkeit zu bringen, muss sie wieder an ihren Auftrag im Dienste der Gesamtwirtschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit zurückgebunden werden. Der Finanzmarkt muss so verfasst werden, dass er seine Wohlfahrtsaufgabe erfüllen kann, ohne sich zum Selbstzweck erheben zu können. Eine solche neue Finanzmarktordnung ist der Kern einer Verfassung des Kapitalismus.

Das wären die grundsätzlichen Lehren, welche aus der Finanzmarktkrise gezogen werden sollten. Wenn eine Parlamentarische Untersuchungskommission PUK nicht nur reine Symptombekämpfung betreiben will, muss sie sich diesen Forderungen stellen. Gewiss soll jede PUK Transparenz schaffen. Diese hier muss allerdings mehr leisten. Sie muss uns von unserer Systemblindheit befreien.



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Zur Person

Philippe Mastronardi (63) war von 1978 bis 1994 Sekretär der Geschäftsprüfungskommission GPK der Eidgenössischen Räte. Vor zwei Wochen kritisierte er in einem WOZ-Interview den Bundesrat und die Finanzmarktaufsicht Finma und begründete die Notwendigkeit einer Parlamentarischen Untersuchungskommission PUK. Der Fürsprecher Mastronardi ist Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen und Mitherausgeber des Buches von Kontrapunkt:

«Lernen aus der Krise. Auf dem Weg zu einer Verfassung des Kapitalismus.» Haupt Verlag. Bern 2010. 179 Seiten. 39 Franken.


Weitere Informationen: www.rat-kontrapunkt.ch