Sport und Gesellschaft: Sie turnen vor, was auf uns zukommt

Nr. 5 –

Sind die Auswüchse im Spitzensport Ausdruck einer kranken Gesellschaft? Oder ist es nicht umgekehrt: die Zustände im Sport als Vorgeschmack darauf, wie sich die Gesellschaft entwickeln wird?


Die Behauptung gehört inzwischen zum Repertoire der unangefochtenen Stammtischphrasen: Der Sport spiegelt nur jene Auswüchse, die in der Gesellschaft gang und gäbe sind. Das genaue Gegenteil könnte auch ein Ansatz sein. Sucht man einen Kronzeugen für diese Mutmassung, stösst man unweigerlich auf Gunther Gebauer, Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. Sein Befund: Am Sport kann man erkennen, wie sich die Gesellschaft entwickeln wird.

Ihren Anfang genommen hat die Versportung der Gesellschaft mit der Industrialisierung, die einen neuen Typus Mensch brauchte, der für den repetitiven Einsatz im Räderwerk des industriellen Fliessbands taugte. Neue, sportive Bewegungsmuster lieferten die automatisierten Vorlagen für den industriellen Arbeitsmenschen – nicht mehr als Figur wie im höfischen Tanz, sondern zerlegt in Einzelteile und eingeübt mit einem Höchstmass an Askese und Selbstkasteiung: Sport als gesteigerte Arbeit.

Der Körper als Maschine

Inzwischen ist der Sport auch längst über Sprache und Mode in den gesellschaftlichen Alltag eingedrungen. Am Strand von Hookipa auf Maui wurde schon gesurft, bevor man online war im Internet. Als Kurt Cobains Nirvana und andere Bands begannen, auf der Bühne in sportlichen Outfits loszustampfen, liessen sie sich von Popstars aus der Welt des Sports inspirieren. Auch den Schlabberlook gäbe es nicht ohne Skateboard, Streetball, Snowboard und Breakdance.

Wohl noch nicht so weit fortgeschritten wie die Versportung der Gesellschaft über Bewegung, Sprache oder Mode ist jene über die Chemie. Was die Gesellschaft hier erwarten könnte, zeigen Beispiele aus dem Radrennsport. Im letzten Herbst erreichte uns die Meldung vom Tod des belgischen Radrennfahrers Frank Vandenbroucke (34). Der leblose Körper war am 12. Oktober 2009 in einem Hotelzimmer an der Petite-Côte im Senegal aufgefunden worden. Die Autopsie förderte eine doppelte Lungenembolie zutage und zahlreiche Spuren von Injektionen. «Wir betrachten ihn als Drogenabhängigen», sagte der zuständige Staatsanwalt. Man dachte sofort an den einstigen Tour-de-France-Sieger Marco Pantani, der am 14. Februar 2004 mit 34 Jahren in einem Hotel in Rimini verendete, laut Autopsiebericht an einer Überdosis Kokain.

Sie starben einsam und depressiv, körperlich und psychisch zugrunde gerichtet schon vor dem Siechtum, nachdem sie eine Sportlerkarriere lang alle Arzneien gekostet hatten, die erst Erfolg versprachen und später wohl nur das reine Überleben sicherten. Beide nahmen Pharmazien zu sich, die wirksam kaum an Mäusen getestet waren, und pumpten so viel Chemie in ihre Körper, wie sie ein Organismus gerade noch ertragen kann. Zuletzt dann halt mehr.

Die Chemisierung des Sports begann im 19. Jahrhundert, vorerst mit aufputschenden Mitteln im Pferdesport. Das Pferd wurde gedopt, um zu gewinnen oder zu verlieren. Wer davon Kenntnis hatte, tätigte den entsprechenden Wetteinsatz. Der erste offizielle Dopingfall im Radrennsport geht auf das Jahr 1860 zurück. Ein Radrennfahrer gab Äther auf einen Würfelzucker. Seit 1860 sind Mischungen mit Kokain und Morphium üblich. Später gab es entsprechende Portionen auf der Basis von Alkohol. Um 1920 wurde die Chemisierung wohl flächendeckend. Erst über staatlich geförderte und individuell angepasste Programme in West und Ost bis hin zum heute gängigen System – einer Mischung aus staatlicher Förderung und privatwirtschaftlicher Initiative, vornehmlich im Untergrund und in der Halbwelt angesiedelt.

Wie weit diese Praktiken in die Gesellschaft eingedrungen sind, lässt sich zumindest erahnen. «Hirndoping» unter gestressten Studierenden ist unterdessen wohl die Regel. An Universitäten, im Banken- und IT-Business oder auf Redaktionen ist der Griff zu «Neuroverstärkern» nichts Aussergewöhnliches mehr.

Gut möglich, dass bald schon Labors aus dem Untergrund den geistigen AthletInnen massgeschneiderte Dopingprogramme bieten – wie es das Balco-Labor in Kalifornien, Human-Plasma in Wien oder Mediziner wie Michele Ferrari und Eufemiano Fuentes schon für SpitzensportlerInnen taten. Vielleicht wirken bald auch in Banken oder an Unis jene Freaks, die heute im Sport die Regel sind: drogensüchtige Hochleistungsautomaten in einer völlig «überdrehten Szene», in der zählt, ob das «Ego durchsetzungsfähig ist und welche marktkompatiblen Fähigkeiten sonst auszuschlachten wären» («Süddeutsche Zeitung»); merkantile Körperroboter, bei denen nicht die reine Leistungsfähigkeit zählt, sondern nur die Dopingtoleranz des Körpers; Hasardeure, die als austauschbare Marionetten das Getriebe einer gigantischen Wirtschaftsmaschinerie schmieren.

Wir sprechen von einem Sportsystem, das ohne Einbettung in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien nicht mehr denkbar ist, von einem Organismus, der ein Massenpublikum erreicht und sich eine Parallelwelt mit einer eigenen Sportgerichtsbarkeit geschaffen hat. Wir reden von Betrieben, die ihren Milliardenumsatz nicht allein über den Werbemarkt, den Verkauf von Trikots und Sitzplatztickets erzielen, sondern über eine weitverzweigte Schattenwirtschaft, von sportlichen AkteurInnen, bei denen Doping und das öffentliche Leugnen zum täglichen Geschäft gehören. Und wir reden von Schiedsrichtern, die bestochen werden, von gekauften PolitikerInnen, Funktionären, Wissenschaftlerinnen und Olympischen Spielen. Die jüngsten üblen Kunden aus dem Sumpf des Wettbetriebs im Fussballwesen sind in ihrer ganzen Tiefe noch gar nicht abschätzbar. Aber nach wie vor wird jedes sportliche Tun durch das moralische Fundament des Fairplay abgestützt.

«Subversive Untergrundmoral»

Früher war der Spagat zwischen realer Sportwelt und öffentlicher Moral noch bequemer. Spätestens seit der Sport an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen hat und medial in jeder Einzelheit und in Echtzeit verbreitet wird, braucht es im Bereich der Vorspielung höhere Kompetenzen. Wer heute in der öffentlichen und der parallelen Welt des Sports agiert, muss nicht nur sportive Bewegungspraktiken intus haben. Er muss auch zu einem Typus Mensch mit neuer, innerer Struktur mutieren. «Subversive Untergrundmoral» nennt der Sportwissenschaftler Karl-Heinrich Bette diese irre Widersprüchlichkeit von Schein und Sein. Wer noch regeltreu Spitzensport betreibe, gelte als naiv. Wer im Sportbetrieb betrüge, handle diesem Untergrundkodex gemäss normal. Dies habe zu einer «Entkoppelung von Reden und Tun», letztlich zu einer «Bigotterie» der Sportler, der Verbände, der Wissenschaftlerinnen oder der Vertreter aus Wirtschaft und Politik geführt.

Der Regelverstoss Thierry Henrys im entscheidenden WM-Qualifikationsspiel gegen Irland gilt dabei nicht einmal als exemplarisch. Erst stoppte er den Ball mit der Hand, dann legte er ihn mit der Hand auch noch auf den Fuss und spielte den Pass, der zum Siegestor und zur Fussball-WM führte. So etwas geht mittlerweile als Kavaliersdelikt durch. Selbst Fifa-Präsident Sepp Blatter machte sich über die Proteste der Iren lustig. Henry leugnete nicht einmal, was er tat.

Am deutlichsten wird die Bigotterie am Phänomen des Dopings: Auf der einen Seite ist es ein unerlässlicher Bestandteil des realen Sportsystems, andererseits muss es wegen dem sportlichen Kodex des Fairplay um alles in der Welt geleugnet werden – selbst dann, wenn im Labor das kontrollierte Wässerchen chemisch trüb, der Blutwert manipuliert und abnormal befunden worden oder das Vergehen schon aktenkundig ist. Einige beschränken sich nicht nur auf die Negation der positiven Laboranalyse, sondern bieten aktive Erklärungshilfen an – die hohe Schule der praktischen Verschleierung: Das Clenbuterol war für den Hund, der an Asthma leidet (Frank Vandenbroucke, Radrennfahrer); das Hackfleisch in der Spaghettisauce kam von hormonverseuchten Rindern (Lenny Paul, Bobfahrer); die Mutter schickte Bonbons aus Peru, die in Kokablätter eingewickelt waren (Gilberto Simoni, Radrennfahrer).

Selbstmörder und «Verräter»

Für andere, die (noch) nicht mit dieser Chuzpe ausgestattet sind, kann dies zu einer Überforderung führen. Deutschlands Nationaltorwart Robert Enke nahm sich am 10. November 2009 mit 34 Jahren das Leben. Pantani und Vandenbroucke betäubten sich derart intensiv, bis Geist und Körper zusammenbrachen. Ehemalige Insider wie Bernhard Kohl, Patrick Sinkewitz oder Jörg Jaksche erleichterten ihr Gewissen, als sie über Teilbereiche des Radrennsports offen redeten. Sie gelten als Verräter. Antidopingkämpfer wie der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke werden vom System als Fanatiker abgetan. Wenn einer wie Andre Agassi in seiner Autobiografie eingesteht, in seiner Karriere mehrmals das Aufputschmittel Crystal Meth konsumiert zu haben, empört das wenige, naturgemäss aber einen Boris Becker («Agassi schadet dem Tennissport»). Auf welch bigottem Terrain sich selbst scheinbar unabhängige Institutionen wie Antidoping Schweiz bewegen müssen, zeigt das kürzlich lancierte Projekt «Clean Water», das mit Blutpässen und Blutkontrollen gegen Doping ankämpft. Partner ist unter anderem der weltweit grösste Biotechnologiekonzern Amgen – jener Konzern, der Erythropoetin (EPO) erfunden hat und Mehretappenrennen im Profiradsport sponsert.

Wer in seiner sportlich aktiven Zeit systemkonform durch- und dichtgehalten hat, wird später aufgenommen. Gestählt durch diese Sozialisation sind es viele ehemalige SpitzensportlerInnen, die im Sportapparat als Trainer, Funktionäre, Wissenschaftlerinnen, Richter oder Journalistinnen wichtige Ämter innehaben. Das subversive Insiderwissen, im Untergrund erlernt und innerhalb der Sportfamilie tradiert, sichert bis anhin das Überleben des heute gültigen Sportsystems.

Der Kampf gegen Doping oder Korruption wird in der Struktur, in der fast durchwegs Menschen mit innerer Befangenheit aktiv sind und eine unabhängige, äussere Kontrollinstanz fehlt, nicht zu gewinnen sein. Inzucht und Selbstkontrolle sind der fatale Irrtum dieses Sportsystems. Zu behaupten, dass der Sport deshalb an sich selbst zugrunde geht, ist nicht gewagt. Jedes gesellschaftliche System, das sich mittels Inzucht rekrutiert und kontrolliert, ist letztlich untergegangen.

Ohne Änderung des Systems steuert der Sportbetrieb auf den Abgrund zu. Kaum auszudenken sind die Folgen, wenn Gunter Gebauer mit seiner These recht behalten sollte: dass der Sport aufzeigt, was die Gesellschaft zu erwarten hat.


Sport als Wirtschaftsfaktor

Allein auf dem Dopingmarkt werden weltweit jährlich geschätzte fünfzehn Milliarden Schweizer Franken umgesetzt. Mehr als 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union werden über den Sport erzeugt. Die Wertschöpfung des Sports in Deutschland, der Schweiz und Österreich liegt im Bereich der Nahrungsmittel-, Getränke- oder Tabakindustrie. In der Schweiz ist die wirtschaftliche Bedeutung des Sports vergleichbar mit der Maschinenindustrie, weit grösser als etwa die Chemie-, Pharma- oder Uhrenindustrie. Dies ist einer Studie des Bundesamts für Sport aus dem Jahre 2007 zu entnehmen.