Standpunkt: Die tendenziösen Modelle der Experten

Nr. 5 –

Berechnungen über lange Zeiträume sind zufällig – auch bei der Altersvorsorge.


Pensionskassen sind ein Sinnbild des Arbeitsfriedens zwischen Gewerkschaften und Unternehmen. Die Verwaltung des Arbeitsfriedens verlangt ExpertInnen: unter anderem den Pensionskassenexperten. Er (selten sie) soll als Vollzugsgehilfe des Bundes dafür sorgen, dass wir nach unserer Pensionierung den bisherigen Lebensstil aufrechterhalten können. Er überwacht dazu die Pensionskasse, untersucht etwa, ob das angesparte Geld entsprechend der Altersstruktur richtig auf die einzelnen Anlagekategorien aufgeteilt ist: Bei einer jüngeren Mitgliedschaft darf mehr in riskante Anlagen investiert werden, bei einer älteren weniger. Auch dürfen die einzelnen Kassen ihren Versicherten nicht mehr Zinsen gutschreiben oder höhere Renten zusichern, als dies die Rendite der Kapitalmärkte und die Lebenserwartung der Mitglieder erlauben. All diese Rahmenbedingungen orientieren sich an Modellvorstellungen.

Satte Honorare

Ebenso wichtig wie der Pensionskassenexperte ist der Vermögensverwalter – auch hier sind kaum Frauen zu finden. Er legt das angesparte Geld an oder schlägt vor, wie es angelegt werden soll. Die in der zweiten Säule angesparten Kapitalien belaufen sich auf rund 600 Milliarden Franken, was den Vermögensverwaltern jährlich knapp zwei Milliarden an Honoraren einbringt. Eine zentrale Figur unter ihnen ist Dominique Ammann, der Gründer von PPCmetrics. Die Firma soll – so berichtete der Ökonom Rudolf Strahm kürzlich in einem Artikel – im Beratungsgeschäft bei Pensionskassenvermögen einen Marktanteil von rund einem Drittel haben. Ammann ist auch Präsident der eidgenössischen Anlagekommission. Diese erlässt Richtlinien, welchen Anteil des angehäuften Vermögens die Pensionskassen in den jeweiligen Kategorien wie Obligationen, Aktien, Liegenschaften oder auch in Hedgefonds investieren dürfen.

Ammann ist gewissermassen der ideale Experte. Er erfüllt auch die Sehnsucht der Gewerkschaften nach einem technisch optimalen Einsatz des Kapitals: hohe Rendite bei tiefem Risiko, wobei sie die realen Auswirkungen eines solchen Investitionsverhaltens ausblenden. Mit dem Unia-Sekretär Heinrich Nydegger leitet Ammann den Kurs «Anlageorganisation in Vorsorgeeinrichtungen» im gewerkschaftsnahen Bildungsinstitut Movendo.

Als Expertin angesehen ist auch Colette Nova, die geschäftsführende Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Ihr Expertenwissen als Präsidentin einer Pensionskasse «mit schwieriger Zukunft» («Tages-Anzeiger») dürfte sie dazu bewogen haben, in einer Arbeitsgruppe der BVG-Kommission die Senkung des Umwandlungssatzes auf 6,4 Prozent zu akzeptieren. Ihre Gründe bleiben ihr Geheimnis – Colette Nova war für eine Stellungnahme leider nicht erreichbar.

Das Wirken Gottes

Die Aussagen der Experten beruhen auf mathematischen Modellen (Schätzungen zur Sterblichkeit, Portfolio-Modelle etc.), die meistens aus einem Gemisch von Tatsachen, deren mathematischer Umsetzung sowie Kaffeesatzleserei bestehen. Dieses Gemisch macht die Modelle für Aussenstehende undurchschaubar und daher auch nur schwer angreifbar. Die Modelle sind allgegenwärtig und werden immer komplexer.

Als Präsident der Anlagekommission verfolgte Ammann bisher die Strategie, mehr Gelder in virtuelle Anlageformen mit Modellcharakter wie etwa Hedgefonds zu drängen. Die erst kürzlich zusammengebrochene US-amerikanische Liegenschaftenspekulation mit ihren drastischen Folgen für die weltweiten Finanzmärkte basierte auf Modellvorstellungen dieser Art. Doch die Modelle bleiben, werden allenfalls modifiziert. Ähnlich komplexe Modelle gab es auch im Mittelalter. Damals wurde mit ihrer Hilfe das System des Himmels und das Wirken Gottes und der Heiligen auf Erde erklärt.

Wie willkürlich und zufällig Expertenwissen jeweils eingesetzt wird, zeigen die Schätzungen zur durchschnittlichen Lebenserwartung von Menschen nach 65 in der Schweiz: Während das Bundesamt für Statistik von 19 Jahren ausgeht, rechnen die Lebensversicherer mit 24 Jahren. Und das wirkt sich auf die Rentenberechnung aus. Wenn die Lebensversicherer davon ausgehen, dass sie fünf Jahre länger Renten auszahlen müssen, braucht es ein Viertel mehr Kapital. Sonst sinkt der Deckungsgrad der Kasse, und wenn der tiefer ist, darf sie nur noch in weniger risikobehaftete und also ertragsschwächere Anlagen investieren. Die Folge: Die geschätzten Kapitalerträge sinken, die Kassen fordern tiefere Umwandlungssätze.

Tendenziöse Annahmen sind als Berechnungsgrundlage für die Modelle an der Tagesordnung. Das Bundesamt für Statistik macht da keine Ausnahme. So berechnet dieses etwa die durchschnittliche Lebenserwartung für Menschen, die im Jahr 2030 geboren werden, und die Jahre, die sie nach der Pensionierung noch zu leben haben. Berechnungen über so lange Zeiträume, das heisst bis ins Jahr 2120, sind absurd. Aber solche Spekulationen dienen ihren Zwecken. Sie werden von den Befürwortern einer Senkung des Umwandlungssatzes (etwa dem Experten Martin Janssen in einem Bericht für Avenir Suisse) dankbar übernommen.

Wolfgang Hafner (60) ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Letzte Publikation (zusammen mit Heinz Zimmermann): «Vinzenz Bronzin's Option Pricing Models: Exposition and Appraisal». Springer-Verlag. Heidelberg 2009. 570 Seiten. Fr. 248.50.